Schule des Rades

Arnold Keyserling

Urreligion Astrologie

Vorwort

Verbindungslinien der neun Ziffern

Astrologie ist heute in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. Durch Jahrtausende in Europa verdammt und verfolgt, in der Gegenwart von den Kirchen und der akademischen Welt bekämpft, hat sie durch die Religionsphilosophie und die kulturelle Anthropologie in den letzten zwanzig Jahren einen Ehrenplatz als ältestes Deutungssystem des Lebenssinns zurückgewonnen. In den Arbeiten von Santillana, Eliade und Campbell hat sich herausgestellt, dass Astronomie und emblematische Mathematik die Kriterien des Mythos, der Religionen, Riten und Initiationen gebildet haben. Noch heute sind für die Aborigines in Australien, in Afrika, in Nordamerika, in Sibirien und im pazifischen Raum astronomische Zusammenhänge die Sinnträger des Lebens.

Was ist nun ein sinnvolles Leben? Es setzt voraus, dass der Mensch seine Vergangenheit akzeptiert und positiv versteht. Dass er eine klare Vorstellung von einer möglichen Zukunft hat, und dass er in seiner Wahl und seinen Entscheidungen weder von anderen Menschen noch von der Vergangenheit oder von Ideologien und Bekenntnissen abhängig ist, sondern Subjekt seiner selbst ist, seine Lebenslinie und seinen Stil frei und schöpferisch aus gegebenen Möglichkeiten erschafft.
Diese Möglichkeiten sind, persönlich und kollektiv, die Qualitäten der Zeit: der Tierkreis, die Planeten und ihre Konstellationen; ferner die Qualitäten des Raumes und der Sinne: Kriterien, die von der galilei-newtonschen Naturwissenschaft abgelehnt wurden.

Diese Parameter sind in anderen Kulturkreisen der ganzen Erde immer wieder im gleichen Sinn, aber in verschiedenen Bedeutungen interpretiert worden. Sie weisen auf einen gemeinsamen Ursprung zurück: auf die jungsteinzeitliche Revolution, die Mutation vom homo faber zum homo sapiens vor elftausend Jahren, mit der Wandlung der Jäger und Sammler in Ackerbauer und Viehzüchter. Sie wäre ohne Unterscheidung von Raum, Zeit und Zahl unmöglich gewesen.

Der homo faber als technisches Tier wurde wie die Tiere aus den Instinkten gesteuert: dem Gattungsinstinkt und dem Überlebens­instinkt, und ferner aus den vier Trieben: Nahrung, Sicherung, Aggression und Reproduktion. Physiologisch-psychologisch entstand diese Wandlung durch die Trennung der linken von der rechten Großhirnhemisphäre. In der linken, im Wachen, ist die Zeit wirklich und der Raum zu gestalten. In der rechten, im Traum und in der Imagination, ist der Raum, der Umfang der imaginalen Vorstellung gegeben und die Zeit ist frei; man kann sich ebenso geistig in die Vergangenheit versetzen, wie in eine imaginale Zukunft. Die Trennung erfolgte wahrscheinlich durch die Lateralisation der Hände. Mittels ihrer wurden die zehn Zahlen der Finger zum Kriterium der Erfahrung und des Erlebens. In Tibet können wir den Ursprung noch wiederfinden; ein Rad aus Bronze, das viele Tibeter an ihrem Gürtel trugen, zeigt auf der einen Seite die acht Raumzahlen oder Richtungen, die zwölf Zeitzahlen oder Tierkreisbilder, die neun Ziffern im magischen Quadrat, und auf der Rückseite die vier Bewusstseinsstufen und das Dezimalsystem. Ich habe die Bedeutung dieses Rades und den zugehörigen Mythos in meinem Buch Das magische Rad Zentralasiens erläutert.

Im Vergleich mit anderen Traditionen, der modernen Mathematik und der Revolution der Naturwissenschaften, ist es mir gelungen, das Rad als gemeinsamen Nenner nicht nur der Erfahrung, sondern auch der religiösen Traditionen zu klären und zu verifizieren: systemisch im Atlas des Rades, historisch in der Geschichte der Denkstile und pädagogisch Wilhelmine Keyserling in ihrem Buch Anlage als Weg. Das vereinigende Symbol aller Traditionen ist das Enneagramm, das erstmalig bei den Sufis um das Jahrtausend in Turkestan gelehrt, und durch Gurdjieff in Europa bekannt wurde.

Das vorliegende Buch zeigt das Enneagramm als Weg von der Urkraft zum Urlicht, von der Erde zur Sonne, in Gurdjieffs Worten vom physischen zum kosmischen Individuum. Es vereint die astrologischen und esoterischen Traditionen von China, Indien, Babylonien, Afrika, den Indianern, und Europa seit Pythagoras. Aber es ist kein historisches Nachschlagewerk, sondern versucht zu zeigen, wie man die Planeten im persönlichen Horoskop in einen inneren Aufstieg zum Sinn verwandeln kann.

Im Atlas des Rades ging ich von der Numerologie, den Punkten und Einzelbegriffen aus. In diesem Buch liegt mein Ansatz in den Verbindungslinien der neun Ziffern, die sich durch Division und Multiplikation zwischen ihnen ergeben, bis alle Komponenten des Rades integriert sind. Es schildert somit den Aufstieg vom abgespaltenen Bewusstsein zum körperlich-ganzheitlichen Gewahrsein. Man kann es sinnvoll gebrauchen, wenn man sein Horoskop vor Augen hat und die astrologischen Parameter kennt.

Die Linien des Enneagramm entstammen der Division der neun Ziffern, verstanden als Schöpfungsprinzipien oder Namen des Göttlichen. Teilungen durch die Zahlen 1, 2, 4, 5, und 8 ergeben endliche Brüche, führen in keine Bewegung. Divisionen durch 3, 6 und 9 ergeben unendliche Brüche, und die Divisionen durch 7 zeigen einen periodischen Bruch, der je nach Teiler mit einer immer anderen Ziffer beginnt:

  • 1 : 7 = 0,142857 142857…
  • 2 : 7 = 0,285714 285714…
  • 3 : 7 = 0,428571 428571…
  • 4 : 7 = 0,571428 571428…
  • 1 : 3 = 0,333333…
  • 1 : 6 = 0,166666…
  • 1 : 9 = 0,111111…
  • 2 : 9 = 0,222222…

Unser Buch schildert die Bedeutung dieser Linien, die den Weg des Wissens durch Jahrtausende bestimmt haben.

Arnold Keyserling
Urreligion Astrologie · 1996
Enneagramm und Himmelsleiter aus der Sicht des Rades
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD