Schule des Rades

Arnold Keyserling

Wassermannzeit

II. Methexis

Mensch im All

Das Urbild des Körpers ist der Mensch im All, die immanente Gottesvorstellung des Tierkreises. Menschen leben auf der Erde bereits seit vier Millionen Jahren. Doch vor elftausend Jahren kam es zur Mutation vom homo faber, dem Werkzeugmacher, zum homo sapiens, dem Erfinder der abstrakten Sprache, der soziokulturellen Tradition, der Familie mit dem Beginn von Ackerbau, Viehzucht, Häuserbau, Weberei und Keramik. Mit der abstrakten Sprache — im Unterschied zur tierischen affektiven Laut- und Gebärdesprache — wurden Laut und Zeichen als Werkzeug mit vielen möglichen Bedeutungen bestimmt und zur Grundlage des Gedächtnisses und der Erinnerung erhoben. Damit entstand die Notwendigkeit der Religion, der sprachlichen Rückbindung an den verlorenen Zusammenhang mit der Natur und der Evolution. Wer die Selbsterhaltung sprachlich organisiert, also den Egoismus im Wort verkörpert, muss auch die Arterhaltung in Sprache verwandeln. Diese Offenbarung wurde immer durch einen Kulturheroen geschaffen, auf den sich alle Menschengruppen der Welt zurückführen, der manchmal auch als göttliche Inkarnation bezeichnet wird.

Die linke Hemisphäre des Großhirns ist erst seit der Aufklärung bis zur sprachlichen Artikulation gediehen. In der rechten Hemisphäre wurde das ganzheitliche und synthetische Wissen seit jeher dichterisch artikuliert, also analog, allegorisch und symbolisch, wobei die Dichtung der jeweiligen äußeren Befindlichkeit Rechnung trug: bei Jägervölkern war Gott ein Jäger, bei Ackerbauern ein Bauer oder Viehzüchter, bei Kriegern ein Held. So lange ein soziokultureller Raster nicht von außen bedroht wurde, konnte er sich bewahren; aber auch dann, wenn die entsprechende Gemeinschaft sich gleich einer Geheimgesellschaft abschloss. So haben die Juden ihre Religion auch nach Verlust ihrer politischen Freiheit weiterbewahrt, desgleichen die Jainas Indiens, oder die verschiedenen protestantischen Sekten wie die Mormonen in Amerika. Für die vergleichende Religionswissenschaft ist daher die Vielheit der Glaubens­vorstellungen der Ausgangspunkt ihrer Forschung. Sie stellen deren Begründung nicht weiter in Frage.

Vom Gewahrsein und der Esoterik her gibt es genauso eine Evolution der Religion wie der Natur und des einzelnen Menschen. Nichts ist unzutreffender als die katholische Behauptung der Glaubenswahrheit: quod semper, quod ubique, quod ab omnis credetur — was immer und überall von allen geglaubt wurde. Der Ausspruch des Propheten Mohammed, die Unstimmigkeit unter den Gläubigen sei ein Zeichen der Gnade Gottes, ist der Wahrheit schon näher. Aber auch dieser ging von einer auf eine bestimmte Offenbarung gerichtete Gemeinschaft aus, die im Unterschied zu allen anderen Menschen die Gewissheit des Heils besitzt und daher auch den Zugang zur Religion im Rahmen des neuen Paradigmas der Evolution versperrt. Die Wassermannzeit verlangt einen neuen Ausgangspunkt: wir können nur durch die drei Planeten des Denkens, Uranus, Neptun und Pluto, den Zugang zum Raster des Verständnisses eröffnen, der uns erlauben wird, im Raum und in der Zeit allen Entwicklungsrichtungen gerecht zu werden.

Grundlage des Gewahrseins ist die Struktur des Rades, die dem Menschen als sprachliche Orientierung angeboren ist. Ich habe das Rad spontan mit einundzwanzig Jahren geschaut und in den letzten vierzig Jahren seine denkerische Struktur in vielen Büchern geklärt. Dank der modernen naturwissenschaftlichen Entwicklung tritt es heute aus der Esoterik in die kritische Verständlichkeit und wird allgemein zugänglich; man kann sogar sagen, dass in der technologischen Zivilisation ein sinnvolles Leben unterhalb seiner Bewusstheit nicht mehr möglich ist. Die Weltgedichte haben sich durch ihren Ausschließlichkeitsanspruch allesamt als unrichtig erwiesen. Denn dieser verlangt ein Feindbild, eine Verteufelung, die den Menschen ins duale Wachbewusstsein zurückwirft, weil es den eigenen Schatten leugnet.

Arnold Keyserling
Wassermannzeit · 1988
Visionen der Hoffnung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD