Schule des Rades

Arnold Keyserling

Weisheit des Rades

5. Stimme des Wesens

Weltenjahr

Die Bewegung des Schlingerns entspricht der Kreiselbewegung der Erdachse im Weltenjahr. Betrachten wir nun die bisherigen Epochen aus kritischer Sicht. Vor der Geschichte lebte seit Millionen von Jahren der Mensch als homo faber, als werkzeugschaffendes Tier, das sich als ein Tier unter anderen verstand, wie wir es bei all jenen Gruppen finden, die die neolithische Revolution nicht vollzogen haben und weiter in der Mentalität der Altsteinzeit verharren. Diese Revolution geschah im Übergang des Frühlingspunktes von der Konstellation Löwe in jene des Krebses, astronomisch 8840 v. Chr.. Der Verlust des Paradieses, das Essen der Frucht des Baumes der Erkenntnis von gut und böse, also das Bewusstwerden des limbischen Gehirns als Grundlage der Seele, bestimmt den Beginn der Jungsteinzeit: der Mensch erkannte die Eigengesetzlichkeit der Zeit, des Kalenders. Gleichzeitig entstanden Ackerbau und Viehzucht, Keramik und Weberei, und die sprachlich soziokulturellen Traditionen, die fortan die Instinkte als vorbewusste Eingliederung in die Natur verdrängten.

Religion bedeutet sprachliche Bestimmung der Instinkte an Hand der größten erkennbaren Gruppe. Die astralmythischen Epochen gliedern sich in folgende Gegensatzpaare:

Beginn
8840
6680
4520
2360
200
1962
Gemeinschaft
Krebs - Klan
Zwillinge - Stamm
Stier - Stadt
Widder - Volk
Fische - Reich
Wassermann - Menschheit
Gottesbegriff
Steinbock - Tradition
Schütze - großer Geist
Skorpion - Götterfolge
Waage - Gesetzgeber
Jungfrau - Götterbote
Löwe - Mensch im All

  • Krebszeit: Der Klan bedeutet die Gründung der Familie — Ehen gibt es auch bei Tieren — wo die Kinder das Werk der Eltern fortsetzen. Seine Voraussetzung war die Erkenntnis des Kalenders, der Steinkreis wurde zum Kalendarium, um die Menschen zu befähigen das ganze Jahr zu planen, wie wir es in allen Überlieferungen finden. So ist auch heute noch die erste Voraussetzung allen seelischen Lebens die Achse Familie — Beruf: die wirtschaftliche Grundeinheit als Dauer ermöglicht die Schaffung einer Geschichte über den einzelnen hinaus.
  • Zwillingszeit: Mit dem Größerwerden der Klans begannen die großen Wanderungen der Stämme: der Geist, die Inspiration wurde unmittelbar zugänglich und der einzelne musste Mutproben bestehen, um seine Aufgabe zu begreifen. Der Geist ist unvoraussehbar, und die Stämme begannen gleich den Tieren die Jagdterritorien gegeneinander abzugrenzen, wobei jeder Stamm sich als die einzigen Menschen betrachtete, die ihre Identität in der gemeinsamen Sprache haben.
  • Stierzeit: Mit der Stierzeit begann die Stadtkultur mit der Schrift; die Visionen wurden zu Gestaltungsprinzipien eines bestimmten Landstrichs, der als Mittelpunkt der Erde erlebt wurde. Das Leben auf der Erde galt als Vorbereitung für das im Jenseits, wobei es Stufen der Entwicklung gab: die Götter des ägyptischen Totenbuchs waren ehemalige Menschen, sie brauchten Nachschub. Religionen folgen einander mit Göttergenerationen. Das Lernen wurde konkret und der Kultus fand seine Verkörperung in Tempeln, die die ursprünglichen Steinkreise verdrängten.
  • Widderzeit: Mit der Widderzeit wurde der normale Mensch selbst geheiligt: an die Stelle des esoterischen Lernens trat das allgemein verständliche Gesetz, das jeden Menschen im Rahmen des Volkes zu einem gleichberechtigten Glied erhob. Gott wurde als Gesetzgeber erlebt.
  • Fischezeit : Im Übergang zur Fischezeit tauchte zum ersten Mal die Vorstellung individueller Unsterblichkeit auf:
    • mit Buddha die Befreiung durch den Körper,
    • mit Christus die Erlösung der Seele
    • und mit Mohammed die Offenbarung des Geistes.

    An die Stelle der persönlichen Offenbarung und Prophetie trat die Buchreligion, die Dichtung einer göttlichen Inkarnation oder eines Kulturheroen, die zu den Reichsgründungen führte, welche Völker zu einer höheren Einheit zusammenfassten.

  • Wassermannzeit: Das Ende der Fischezeit und der Beginn der Wassermannzeit brachte das Ende der Reiche. Die Bekenntnisse wurden negativ, an ihre Stelle tritt nun das erkennende Verstehen, die Gnosis. Die Menschheit als Gattung ist virtuell und aktuell der Rahmen der Zivilisation und Weltgeschichte erübrigt sich. Fortan findet der Mensch im Gegenzeichen Löwe seinen paradiesischen Einklang mit dem Kosmos, erlebt sein seelisches Subjekt als Mensch im All, als Teil der Gattung, doch auf bewusster und nicht mehr mythisch-instinktiver Ebene.

So hat die Weltgeschichte heute ihr Ende und viele warten vergeblich auf die Katastrophe des jüngsten Gerichts, die ihnen den Schritt zur Selbstverantwortung und Freiheit ersparen würde. Die vier körperlichen Zeichen des Zeitrades zeigen die Koordinaten des Menschen:

  • der Kopf ist im Denken, im Wassermann, in der technologischen Gesellschaft.
  • Die rechte Hand ist im Empfinden, im Stier, in der Weltgestaltung.
  • Die linke ist im Fühlen im Skorpion, in der Traumvision der Motive
  • und die Füße stehen im Wollen im Löwen, in der Wahl, im spielerischen Selbstausdruck.

Seit jeher ist diese Ordnung als das eigentliche Bild des Menschen verstanden worden, so bei der Sphinx in Ägypten: das Engelsgesicht im unermüdlichen Stierkörper auf kraftvollen Löwefüßen, dessen Adlerflügel ihn nicht an die Erde binden.

Arnold Keyserling
Weisheit des Rades · 1985
Orphische Gnosis
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD