Schule des Rades

Arnold Keyserling

Weisheit des Rades

7. Vom Menschen zum Mitmenschen

Motivation und Intention

Die kosmische Einstimmung zeigt die Senkrechte des Menschen als Strahl zwischen Himmel und Erde. Doch die Wirkung auf der Welt ist waagrecht. Durch das Verstehen der Evolution wird der Mensch nach oben und unten geöffnet, zum Lichtleib und Kraftleib, durch die Überwindung der Schranken zum Mitmenschen waagrecht. Hierzu müssen Sonne und Mond, der männliche und weibliche Helfer, bewusst dem Wesen integriert werden, indem man sie in ihrer persönlichen Qualität erkennt: der Mond wandert von links nach hinten, die Sonne von rechts nach vorne. Der Mond zeigt die Motivation, und die Sonne wird zur Intention.

Als Mond hat jeder Mensch eines der vier Temperamente oder Urinstinkte: Erde, Luft, Wasser oder Feuer; melancholisch, sanguinisch, phlegmatisch oder cholerisch; als Triebe Sicherung, Aggression, Nahrung oder Reproduktion, und als Motive Angst, Macht, Gier oder Zorn.

Das Temperament lässt sich nicht aus dem Horoskop ablesen; die Anlage ist letztlich die Großhirnstruktur, der Raster, der mit dem Geburtsmoment die persönliche Kombination der Urelemente als Grundstimmung fixiert. Zur Motivation wie zur Intention muss man sich entscheiden, sie ist ein Innewerden. Solange man anderen folgt, sind diese Repräsentanten von Vater- und Mutterfiguren, wie wir es im fünften Kapitel beschrieben haben. Erst in dem Augenblick, da man einsieht, dass niemand einen unterstützt, kann man seine Wurzel erkennen.

  • Bei wem Angst überwiegt, dessen Leben ist darauf gerichtet, sich ein Können und eine Macht aufzubauen, die nicht von anderen zerstörbar sind. Gesellschaft ist ihm ebenso unwesentlich wie öffentliche Anerkennung oder Bewunderung für die schöpferische Leistung, er hat sein Reich auf der Erde als Wissen und Besitz, als etwas, wo er entscheiden kann.
  • Bei wem die Gier überwiegt, der hat maßlose Wünsche, die ihm zeigen, wo eigentlich seine Stellung wäre. Leicht ist es, die Wünsche als unvernünftig abzutun und sein Leben lang im Überleben zu vegetieren. Aber wenn sie einen einmal ergreifen, so sind sie ein Motor, der zu überpersönlichen Leistungen befähigt. Wie das Gegebene beim Menschen der Angst, so ist das Mögliche der Antrieb des Giermenschen. Seine Furcht ist zu verhungern, weil Nichterfüllung eines Wunsches gleich einer Vernichtung scheint. Auch die Sehnsucht nach Anerkennung gehört in diesen Bereich.
  • Bei wem Machttrieb überwiegt, für den ist die Mitwelt ein gefundenes Fressen, er erlebt sich in den menschlichen Auseinandersetzungen wie der Fisch im Wasser. Er liebt es, sich durchzusetzen, zu siegen; seine Einstellung ist strategisch; er besteht Prüfungen, bewährt sich in Stellungen, weiß die Schwächen und Stärken anderer, seine Mentalität erhält Gruppen und Gemeinschaften aufrecht.
  • Wer seinen Schwerpunkt im Zorn hat — das cholerische Temperament zeigt ein Übermaß an Energie — ist der geborene Führer. Er vertraut in seine Erzeugungsfähigkeit, organisiert sich seine Existenz, dass sie zum Spiegel der Qualität seiner Werke und Leistungen wird, lebt von ihnen wie der Angstmensch von seinem Reich, der Giermensch von seiner Sehnsucht und der Machtmensch von seinen sozialen Fähigkeiten.

Bei jedem Menschen ist die Motivation in einer der vier Funktionen und Temperamente, aber die anderen wirken mit. Dieser Zusammenhang wurde von C. G. Jung entdeckt.

  • Eine Funktion ist die Leitfunktion, sie entspricht dem Wachen.
  • Die zweite ist Hilfsfunktion, sie entspricht der Reflexion.
  • Eine dritte ist unbewusst, sie entspricht dem Schlaf, der Mensch fällt gleichsam in die richtige Entscheidung
  • und die vierte ist archaisch, die ewig als minderwertig, als Mangel gespürt wird. Sie bildet den Schwerpunkt der Motivation, den dauernden Hintergrund des Menschen, wie wir ihn beschrieben haben, und gehört zur Sphäre des Traums. Nur im Bekenntnis zu ihrer Schwäche kann er für andere liebenswert sein und auch zu seiner Intention finden.

Das Ichwesen ist die mittlere Achse, die Motive sind hinter dem Menschen. Die Intentionen dagegen sind vor ihm. Dieser Zusammenhang von Motivation und Intention ist in der Bauhütte geometrisch überliefert worden. Ihrzufolge ist das Bewusstsein des Menschen zwischen zwei Kegeln, zwei Brennpunkten. Jener der Motivation ist hinten, jener der Intention vorne, beide etwa eine Armlänge vom Körper entfernt. Im Rücken ist der Entfaltungskegel, vorne der Schöpfungskegel.

M o t i v a t i o n · I n t e n t i o n

Die Motivation erkennt man, indem man bewusst nach hinten atmet und dabei eine Vision sucht. Für die Griechen war dies der Weg zu Dionysos. Doch lebten sie in einer mythischen Kultur, einer Dichtung. Nur die altsteinzeitlichen Kulturen hatten einen direkten Zugang. Wer im bürgerlichen Leben eine Motivation sucht, läuft gefahr dieses zu sprengen. Nur wer die Motivation als Ausdruck eines der Elementargeister — der Trolle, Zwerge, Feen und Elfen — erkennt, kann mit ihr leben ohne sich zu verlieren.

  • Die Trolle der Erde bestimmen jemanden, dessen Motivation Angst ist; in diesem Gewahrsein erkennt er, was der Erde fehlt. Heute ist die Angst vor der atomaren Zerstörung von diesen Wesen inspiriert aber auch alle ökologischen Probleme. Das Tor ist der Stier.

Die Trolle geben Glück, man erfährt unerwartet Hilfe, sei es geldlicher, sei es praktischer Art. Die Indianer werfen bei jeder Brücke, die sie überschreiten, Geldstücke für die Trolle ins Wasser; die Trolle wollen beachtet werden.

Gnostisch entspricht das Fühlen der atomaren Ebene, also dem dauernden Streben nach Wiederherstellung des Grundzustandes. Dionysos sprengt dagegen das Gleichgewicht und erst jener, der dies akzeptiert, öffnet sich nach hinten und vorne, wie durch die Gnosis nach oben und unten.

  • Die Gier hat ihren Ursprung in den Feen, das Tor ist der Skorpion. Das Urmotiv ist, einen Wesenswunsch, eine Erwartung zu verwirklichen. Immer wird der Grundzustand gesprengt. Aber wer sich seinem Urhunger anvertraut — viele bekannte Beispiele waren Schriftsteller, so etwa Henry Miller — der wird auch die Möglichkeit der Verwirklichung finden.
  • Der Machttrieb hat seinen Ursprung in den Zwergen, man ärgert sich über jene, die der Gesellschaft oder der Zivilisation schaden. Das Tor ist der Wassermann, und in unserer Zeit sind sie in ihrer historischen Einstellung besonders hilfreich, weil die Einstimmung auf sie tatsächliche Lösungen zeigt: es gibt keine unlösbaren energetische oder wissenschaftliche Probleme.
  • Zorn und Lust kommen von den Elfen, jenen Wesen der Freude und des Tanzens und jeglicher kreativen Gestaltung. Ihr Tor ist der Löwe, der Zugang zum Wollen, ihre Schwerpunkte sind die Feste. Nichts ist ärger, als wenn Feste aus materiellen Motiven entstehen. Doch jedesmal, wenn ein echtes Fest, ein echter Ritus durchgespielt wird, kommt der Enthusiasmus: die Begeisterung die den Alltag der Gewohnheit vergessen lässt.
Arnold Keyserling
Weisheit des Rades · 1985
Orphische Gnosis
© 1998- Schule des Rades
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