Schule des Rades

Arnold Keyserling

Voraussetzungen der Sinnesphilosophie

In dieser Untersuchung möchte ich die grundsätzliche Verschiedenheit der Philosophie Hermann Keyserlings mit allen früheren aufzeigen und weiter meine an sie anschließende Arbeit skizzieren. Trotzdem das erste Werk meines Vaters schon über vierzig Jahre der Welt vorliegt, haben außerhalb des kleinen Kreises der Schüler und Mitglieder nur wenige verstanden, um was es sich bei der Schule der Weisheit eigentlich handelt und wie sich ihr Standort sowohl gegenüber der Universitätsphilosophie als auch gegenüber Kirche und esoterischen Schulen, wie Anthroposophie etc., abgrenzt. Die Neigung des menschlichen Geistes, Neues stets auf Bekanntes zurückzuführen, wirkte in ihrem Falle direkt erkenntnishindernd. Bei der Philosophie meines Vaters handelt es sich vor allem um neue Voraussetzungen bei der Betrachtung des Lebens. Diese können niemals durch Rückführung auf Bekanntes verstanden, sondern nur durch offene Geisteshaltung erkannt und bewältigt werden. Hier lag auch der Grund des Diskussionsverbotes in der Darmstädter Schule.

Nehmen wir uns zuerst die Grundvoraussetzungen der Philosophie meines Vaters vor, wie sie in den kritischen Werken Das Gefüge der Welt und Kritik des Denkens dargelegt sind.

  1. Gegenstand dieser Philosophie ist das Weltall, gesehen als eine Vielfalt von Erscheinungen und Kräften, welche die menschliche Wirklichkeit ausmachen. Dieses Weltall versteht mein Vater als die Summe aller Wirklichkeiten, sowohl der körperlichen als auch der geistigen und seelischen. Diese Wirklichkeit umfasst sowohl die Welt des Bleibenden, Ruhenden, der Verhältnisse und Gesetze, als auch die der steten Wandlung, und zwar werden die stetigen Gesetze als Regeln betrachtet, innerhalb derer und nach welchen die Wandlungen zustande kommen.
    Ferner begreift die Sinnesphilosophie unter die bestehenden Beziehungen diejenigen zwischen erkennendem Subjekt und Weltall mit ein. Auch die menschliche Natur, der Charakter, die Psyche etc. gehören zur so gefassten Wirklichkeit mit dazu, da auch sie als Vielfalt zu verstehen sind.
  2. Wesen des Menschen, das heißt die Vielfalt zur Einheit verbindende Macht in ihm, ist das Selbst, welches die Verbindung zwischen Geist und Seele schafft. Diese Neuverknüpfung von Geist und Seele ist ein Hauptziel der Schule der Weisheit. Das Selbst als Wirkungseinheit verstanden, ist nicht von Natur aus Zentrum des menschlichen Gemüts, es muss erst auf dem Weg zur Vollendung vom Einzelmenschen errungen werden. Das Innewerden der verbindenden Macht des Selbstes offenbart sich in der Fähigkeit zur Ganzheitsschau und Intuition, zum Durchschauen aller Zusammenhänge auf ihren Sinn für den strebenden Menschen.
  3. Die Vielfalt der Außenwelt kann nicht auf ein einziges Prinzip, weder auf das erkennende Subjekt noch auf irgendeine Gemütsfunktion wie Wille, Ich oder Staatsidee zurückgeführt werden, da sie ursprüngliche Gegebenheit für das Erleben bleibt. Allein schon die verschiedenen Sinneseindrücke wie Sehen und Hören werden getrennt wahrgenommen. Für produktives Denken ist darum eine Vielzahl von Gesichtspunkten notwendig, bei denen jeder vom anderen durch ein logisches Unstetigkeitsmoment geschieden ist.1
  4. Dem Menschen wohnt aber die Fähigkeit inne, Ausschnitte dieser Vielfalt als Einheit zu erleben. (Beispiel: Erlebnisse, welche aus mehreren Sinneseindrücken zusammengesetzt sind, wie ein Theaterstück.) Die Einheit einer erlebten, gedachten oder gefühlten Vielfalt liegt im Sinn, den sie für das Selbst als Wesenszentrum gewinnt. Darum gilt es bei jedem Problem, die Frage nach dem Sinn zu stellen. Wird ein größerer Zusammenhang behandelt, so muss dessen umfassende Voraussetzung in ihrem Sinn für die Menschen erfasst werden, denn abgesehen vom Menschen ist jede Fragestellung sinnlos.
    Hier sehen wir einen Hauptunterschied zwischen der Philosophie meines Vaters und anderen Betrachtungsweisen. Diese bemühen sich, die Welt unter eine gedachte Voraussetzung zu ordnen oder sie von einer solchen abzuleiten, sei nun diese Voraussetzung eine Wissenschaft, eine Weltanschauung oder die Mathematik. Die Frage nach dem Sinn hingegen setzt jedes einzelne Problem mit der einzig erfahrbaren Einheit in Beziehung, welche sich feststellen lässt, nämlich der Einheit im Erleben, aus der sich das Selbst aufbaut.
  5. Aller Vielfalt der Welt kann ein Sinn zugrunde gelegt oder ihr gegeben werden, wie dies die Sprache zeigt. Verschiedene Sinne oder Sinnzusammenhänge lassen sich aber nicht willkürlich verbinden oder vereinen, sondern die Vereinigung zu Sinnzusammenhängen erfolgt nach bestimmten Gesetzen. Diese sind nicht begrifflich abzuleiten, aber trotzdem erfahrbar. Ein Beispiel hierfür haben wir in den Harmoniegesetzen von Musik und Farbe, wie auch in Grammatik und Syntax der Sprachen. Das Auffinden und Lehren dieser Gesetze, nach denen Sinnzusammenhänge zustande kommen, ist ein Haupttätigkeitsfeld der Schule der Weisheit, denn wer diese Gesetze kennt, kann sein Leben von richtigen Voraussetzungen her schöpferisch meistern. Für ihn wird das Weltall zum Weltalphabet, dem Material, mittels dessen der Einzelne seinen persönlichen Sinn ausdrückt. Ihre Anwendung ist aber nicht eine Frage der Wissenschaft, sondern der Kunst: sie untersteht nicht dem Denken, sondern dem Gefühl.

Das ganze Leben und Wirken meines Vaters war der Suche nach dem Sinn und dessen Gesetzmäßigkeiten gewidmet. Er nannte diese Arbeit die Richtigstellung der Bezeichnungen. Die Innsbrucker Schule schließt an diese Arbeit an. Ihre erste Aufgabe war darum, die gefundenen Sinneszusammenhänge zu ordnen und zur Beziehungen untereinander festzustellen, was ich in der Kursreihe Richtigstellung der Begriffe von 1947/48 versucht habe. Es galt, den Bereich abzustecken, innerhalb dessen sich Sinn mit Sinn paart und sich überhaupt alles menschliche Leben vollzieht, ein Bereich, der sowohl Stimmungen wie Strebungen, Bewusstseinsstufen wie wissenschaftliche Voraussetzungen, Triebe wie Sinn umfasst. Diesen Bereich fanden wir im menschlichen Gemüt — ich gebrauche dieses Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung, die es noch bei Kant hat. Im Gemüt spiegeln sich vom Sinn her alle Beziehungen innerhalb des Universums, soweit diese den Menschen überhaupt ansprechen. Geistige Eindrücke oder Eindrücke des inneren Sinnes bewegen es in gleichem Maße wie Gefühlsregungen und äußere Sinneswahrnehmungen. In ihm finden sich darum auch alle die harmonischen Verhältnisse und Gesetze, deren Kenntnis zur schöpferischen Lebensgestaltung notwendig ist. Die Summe und Architektur dieser Verhältnisse bezeichnen wir als die Urstimmung des Gemüts. Dadurch wird das Gemüt einem musikalischen Instrument vergleichbar, das, richtig gestimmt, fähig wird, den Sinn des eigenen Lebens als vielstimmige Melodie zu spielen. Mit der Erkenntnis dieser Urstimmung ist der methodische Teil der Sinnesphilosophie, welcher von meinem Vater mit dem Gefüge der Welt begonnen wurde, abgeschlossen, und die Schule der Weisheit wendet sich nun der Anwendung der gefundenen Ergebnisse auf die Außenwelt zu.

1 Zum besseren Verständnis zitiere ich einen Abschnitt aus dem ersten Kapitel der Kritik des Denkens, S. 32-34:
Alle Phänomene sind in erster Instanz Phänomene überhaupt und alle, so verschiedenen Ordnungen sie angehören, sind in erster Instanz in gleichem Sinne wirklich.
Dieses Wirklichsein als solches kann weder begründet noch weiter abgeleitet werden; es ist schlechterdings ‘Ursachverhalt’. Ist dem nun aber so, dann besteht für den Kritiker nicht allein keine Notwendigkeit, irgendeine Sonderart von Gegebenheit als absolut letzte Instanz auszuzeichnen, sondern nicht einmal die logische Möglichkeit dazu. Letzte Instanz kann hier nie anderes und mehr als perspektivisch letzte Instanz bedeuten. Jeder eingenommene bestimmte Gesichtspunkt prädeterminiert freilich unbedingt das jeweils überschaubare Gesichtsfeld mit seinen Grenzen. Doch niemals kann evident gemacht oder bewiesen werden, dass der jeweils eingenommene Gesichtspunkt der einzig mögliche war. Möglich sind tatsächlich alle, die überhaupt dem Zusammenhang des Gegebenen angehören. Hiermit gelangen wir denn zum zweiten ‘Ursachverhalt’, von dem alles kritische Philosophieren auszugehen hat: der betrachtende Mensch ist tatsächlich fähig, aus freier Wahl diesen oder jenen Gesichtspunkt einzunehmen, womit er ebenso frei auf die Aussichten, welche andere eröffnen, verzichtet. Die so bestimmte konkrete Freiheit ist Urphänomen, was immer von diesem oder jenem abstrakten Freiheitsbegriffe gälte. Diese Einsicht nun führt uns weiter zum ersten Grundsatz aller möglichen Kritik der Weltanschauung; alle überhaupt eine Aussicht auf Gegebenes gewährenden Gesichtspunkte hängen zusammen, weil sie alle mögliche Bezugszentren einer gleichen Gesamtgegebenheit sind. Darum gibt es von jedem zu jeder anderen einen möglichen Übergang. Nicht zwar einen logischen: logische Übergänge gibt es nur unter abgeleiteten einer gleichen Voraussetzung — hier aber steht offenbar ein Übergang von Voraussetzung zu Voraussetzung in Frage, und wenn sich verschiedene Voraussetzungen auch nicht notwendig widersprechen, so schließen doch je zwei einander aus; zwischen allen verschiedenen liegt ein logisches Unstetigkeitsmoment. Doch was sich logisch ausschließt, kann perspektivisch zusammenhängen. Jede verschiedene Voraussetzung entspricht einem verschiedenen Winkel, aus dem der gleiche Geist die gleiche Wirklichkeit betrachten mag. Jeder gegebene Horizont ist eine mögliche Projektionsfläche für den Gesamtzusammenhang.
Arnold Keyserling
Voraussetzungen der Sinnesphilosophie · 1949
© 1998- Schule des Rades
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