Schule des Rades

Arnold Keyserling

Naturwissenschaft gegen Esoterik

Gespräch Teil 3

F. K.
Entschuldigen Sie, weil Ihre Ausführungen so umfangreich sind, versuche ich jetzt einzudicken, damit wir wirklich am richtigen Thema bleiben, am Hauptthema. Ich glaube das Hauptthema, das auch mich als Zuhörer beeindruckt, heißt doch: Diese abendländische Wissenschaftskultur hat ungeheure Leistungen hervorgebracht. Das ist ja unbestritten. Aber gleichzeitig haben sie den Menschen eigentlich in seinen Möglichkeiten verkrüppelt, eingeengt…
A. K.
Ich sage überhaupt nicht, dass die Hopis weiter entwickelt sind als wir, sie sind nur woanders. Stellen Sie sich eine Sprache vor, wie die der Hopis… Sie haben keine Möglichkeit Dauer in Worten auszudrücken, sie haben nur zwei Zeitbegriffe, ähnlich wie die Ägypter, nämlich die Potentialität und die Aktualität; manche von Ihnen kennen das von Castaneda her als Tonal und Nagual, infolge dessen sagen sie, die Welt geht zugrunde, wenn unsere Katschinas nicht jeden Tag tanzen können; sie können nicht in die Zukunft planen. Ich werde nicht behaupten, dass das Nicht-Planen-Können in der Zukunft ein Fortschritt ist. Aber die Tatsache, dass wir jeden Tag eine andere Qualität finden, ist sehr interessant, darin finde ich die Erweiterung des Wissenschaftsbegriffes, dass man also das Seinswissen ebenfalls kritisch untersucht, und dass man sich sagt, Initiationen gibt es nun mal. Wer das behauptet hat, war Margaret Mead. Sie kam zu einem Stamm, bei dem seitens protestantischer Missionare acht Jahre früher die Jugendweihe verboten worden war. Mit zwölf Jahren wurden die Kinder in das Gemeinschaftshaus gebracht und dabei getötet. Natürlich wussten die Kinder, dass sie nicht sterben. Hier machte Margaret Mead eine interessante Beobachtung: alle von ihr untersuchten Leute hatten das Mental Age von zwölf Jahren nie überschritten. Mental Age bedeutet also folgendes, wie es offene Programme in der Biologie gibt, so sind Riten offene Programme der Akulturisierung, und nichts hindert uns daran, echte Erkenntnisse anderer Völker einzubeziehen. Als ich vor 20 Jahren mit Yoga begonnen habe, habe ich viele Angriffe erlebt. Yoga sei gut für Inder, habe nichts mit Europäern zu tun, wir seien ganz anders gebaut. Die Inder studieren Mathematik, wir können Jura studieren, wir können Hopi studieren, nichts hindert uns daran. Wenn wir wirklich so wissenschaftlich sind, wie Sie das sagen, das heißt also, wenn man offen ist und bereit ist Irrtümer anzuerkennen und nicht behauptet, ein neuer Gedanke verstoße gegen — um mit Franz Josef Strauß zu reden — die überwölbende Einheit des Abendlandes. Die hat es nie gegeben; es hat eine ungeheure Entwicklung gegeben. Das europäische Wissen wird selbstverständlich zuerkannt. Wenige Studenten in Indien interessieren sich vor dem 40. Lebensjahr für Metaphysik, nur für Wirtschaft, Mathematik und Soziologie.
J. G.
Ich meine das ist sicher richtig und verlockend, was Sie vor Herrn Keyserlings Statement gesagt haben, dass wir uns vielleicht die Möglichkeiten eingeschränkt haben, das ist ja eine sehr alte bekannte These, ist nichts Neues. Nur ist es müßig, nur darüber zu reden, wie traurig es ist, dass die Indianer leider weitgehend ausgerottet worden sind. Es ist aber nicht so traurig, dass wir doch etwas gerettet haben, was zu retten ist, indem wir den Geschichtsverlauf rekonstruieren können. Es ist eine bedeutende Fähigkeit, den Geschichtsverlauf rekonstruieren zu können, sowie wir den Naturverlauf rekonstruieren können. Hierdurch vergrößert sich in Wirklichkeit der Raum der Möglichkeiten, des Denkens, des Sichentwerfens und des Handelns. Ein anderes Beispiel: Wenn Sie die moderne wissenschaftliche technisierte Welt hernehmen, etwa seit dem 18./19. Jahrhundert, Herr Kreuzer, dann sehen Sie genau, dass Sie eine Falsifikation ihrer eigenen These erleben müssen, nämlich: Sie können sich die Frage stellen, ob die Gegenstandswelt reichhaltiger oder ärmer geworden ist — zum Beispiel die Gegenstandswelt für Kunstschaffen, für Kunstinterpretation. Sie ist natürlich ungeheuer größer geworden. Oder: Wenn zum Beispiel jemand aus einer religiösen oder metaphysischen Perspektive etwa die technisierte Welt, die universalisierte, diese europäisierte bzw. abendländische Welt betrachtet, wird häufig beklagt der Spielraum des Einzelnen sei kleiner geworden. Er ist anders geworden, das ist richtig. Aber er ist nicht kleiner geworden. Denn Sie müssen bedenken, wenn heute jemand zum Beispiel einen Personal Computer besitzt, dann fragen Sie sich, ob der Mann am Computer mit dem gesamten Informationsnetz in der Sozietät eher verbindbar ist als jemand vor 400 Jahren. Dann werden Sie sehen, dass die individuelle Reichweite eines Menschen zugenommen und nicht abgenommen hat, trotz der zunehmenden Komplexität, die man natürlich berücksichtigen muss und betrauern kann.
Einen letzten Gesichtspunkt vielleicht noch. In der allgemeinen kulturtheoretischen Diskussion — besonders, wenn sie etwas religiös oder methodologisch untermauert ist — dann tritt ein Gesichtspunkt der Nostalgie ein wenig hervor, mit dem Argument, wären wir doch Steinzeit­menschen in der Zivilisations­form beispielsweise, dann würden wir alle brave humanitäre Erdenbürger sein. Wir wissen vielleicht nur mehr. Aber der entscheidende Punkt ist ja ein anderer. Ich bin konstruktiv, jedoch kein absoluter oder zu strenger Zivilisations­kritiker, sondern eher Zivilisations­mahner, wenn man sieht, dass in den letzten 300 bis 400 Jahren unser Wissen auf verschiedenen Gebieten zugenommen hat — trotz aller Komplexitäten — dass damit viele Möglichkeiten, die geschaffen wurden, erst jetzt in ihrer Bedeutung wahrgenommen werden können. Ich nenne Ihnen ein kleines Beispiel, das Sie vielleicht überraschen wird, Herr Kreuzer. Sie können zum Beispiel fragen, was ist eine der größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte in den letzten 200 Jahren. Ich würde nicht einfach sagen, die Entdeckung der Elektrizität durch Maxwell, ich würde auch nicht einfach sagen, die Verbesserung der Dampfmaschine, die Entwicklung von chemischen Substanzen etc. Sondern eine der größten Errungenschaften ist die Entdeckung, dass die schrittweise Einbeziehung von Verantwortung in die Wissensproduktion zur Anhebung unseres humanistischen Menschenbildes führt, und dies ist sowohl unabhängig von Religion möglich, aber auch mit der Religion. Aber sollte ich sagen, dass dies eine zufällige Errungenschaft irgendeiner Kultur ist?
Wenn ich heute zum Beispiel frage, Herr Keyserling, wo sind die universalistischen Menschenrechte am besten entfaltet, so schwach alles ist? Dann kommt sicherlich nicht z. B. China oder Indien heraus. Ja, warum nicht, Herr Kreuzer? Wenn doch dort die Kultur ohne bzw. mit weniger Wissenschaft und technischer Zivilisation besteht, warum geht es dann trotzdem so brutal zu in solchen und anderen Kulturen, die relativ autonom sind oder sich noch entwickeln. Und wenn Sie sagen, durch die Kolonialisierung ist das passiert — gehen wir zurück in die Zeit vor der Kolonialisierung. Glauben Sie, dass ohne universelles Wissen, ohne klare logische Argumentation, ohne die Benützungsfähigkeit der Logik der Sprache, wodurch wir klar argumentieren können, uns einem Begründungsdruck aussetzen, dass vor diesen Zeiten, unabhängig von Kolonialisierung, die Menschen durchgängig besonders humanitär waren? Es ist nicht der Fall, machen Sie interkulturelle Vergleiche und Sie werden sehen, was herauskommt. Und jetzt kommt eine meiner wichtigen Thesen zu diesem Punkt. Es ist so — weil Sie von Evolution gesprochen haben — dass offensichtlich erst ab einem bestimmten Entwicklungsniveau der wissenschaftlich-technischen Zivilisation überhaupt unser Sensorium geweckt worden ist, um Moral, Religion u.a. richtiger einzuordnen, zu einer Symbiose zu gelangen, ohne notwendigerweise Gegnerschaft zu haben. Wir sind in dialektischer Spannung klarerweise, weil wir historisch geprägt sind. Als solches sehe ich erst jetzt die Voraussetzungen langsam kommen, dass Humanität oder Moral oder Ethik, wenn Sie so wollen, die Chance der Entwicklung bekommen, die sie nie zuvor in der großen europäischen und sonstigen Tradition hatten.
A. K.
Ich stimme mit Ihnen vollständig überein. Ich bin der Überzeugung, dass die Technologie überhaupt kein Gegner der Geistigkeit ist: die ersten drei Worte jedes Kindes sind bekanntlich Papa, Mama und Auto. Eine so reiche Möglichkeit wie heute haben wir nie besessen; deshalb wird jetzt erst die Esoterik zugänglich, weil die Frage ist, das Wissen auf Gebiete anzuwenden, die bisher im Dunkeln lagen. Wenn Sie vor 30 Jahren gesagt hätten, Sie machen eine Rückführung in frühere Leben, gleichgültig was das bedeutet, so wäre das einfach unmöglich gewesen, weil die Begriffsmittel zum Verständnis gefehlt haben.
F. K.
Ich bekomme noch immer eine Ganslhaut.
A. K.
Na ja, da kann ich Sie vielleicht zurückführen, wenn Sie wollen, dann werden Sie keine mehr haben.
Arnold Keyserling
Naturwissenschaft gegen Esoterik · 1989
im Gespräch mit Johann Götschl ·
Moderation Franz Kreuzer
© 1998- Schule des Rades
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