Schule des Rades

Arnold Keyserling

Krankheit in verschiedenen Kulturen

Teilnahme an der Kraft

Damit kommen wir zum zweiten Begriff, der von China bis Peru überall besteht: Unsere Kraft ist etwas, an der wir teilnehmen können. Die meisten von Ihnen werden ja Tai Chi oder Taek Wan Do oder Karate oder irgendwelche solche Techniken schon einmal erlebt haben. Und Sie wissen vielleicht, dass die erste Übung im Tai Chi oder in Aikido ist, dass man einen Menschen seinen Arm ausstrecken lässt. Mit Muskelkraft oben halten, da kann man ihn mit Kraft biegen. Und die zweite Übung, dass man sich vorstellt, dass ein Lichtstrahl entlang an diesem Arm geht und es können ihn drei Männer nicht biegen. Nun, aus der Hypnose kennen wir ja das gleiche, aber das Bestimmende dort ist, dass diese Kraft dem Menschen zugänglich ist und dass für die Chinesen z. B. die Krankheit Stagnation bedeutet, d. h. also in einem statischen Zustand zu sein.

Sie kennen vielleicht die chinesische Lehre von den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser. Holz ernährt das Feuer, Feuer ernährt die Erde, in der Erde lebt das Metall, das Metall kondensiert das Wasser und damit ist der Kreislauf wieder vollkommen. Jetzt der nächste Schritt: Die Energie, um die es sich bei der Akupunktur handelt, hat überhaupt nichts mit Elektromagnetismus zu tun, man kann es zu Hilfe nehmen, weil alle Energien miteinander in Beziehung sind.

Es ist am leichtesten verständlich durch jenen Begriff von Maturana und Varela der Selbstorganisation. Das heißt, wenn die Fähigkeit der Selbstorganisation aussetzt, dann wird sich der Mensch zurückentwickeln. Jetzt ist aber die andere Frage, wenn ein anderer einem etwas angetan hat, kann auch nur ein anderer einen heilen. Und da wir alle erlebt haben, dass wir verletzt wurden, ist es notwendig, da etwas zu unternehmen.

Gehen wir jetzt zu den Afrikanern. Bei den Afrikanern gibt es wahnsinnig viel verschiedene Krankheitsbegriffe.

Das erste ist — abgesehen von der einfachen körperlichen Krankheit, die genauso ist wie bei uns — man hat etwa die Beziehung zum Stamm verletzt. Und vielleicht wissen Sie, dass die Gestaltpsychologie aus Südafrika stammt. Das heißt, Fritz Perls hat sie dort kennengelernt, hat natürlich nicht gesagt, dass er sie von dort hat, nämlich die Tatsache, dass in der Mitte des Stammesgeländes ein Baum steht. Und man geht zu diesem Baum, um sich bei ihm zu beklagen. Und um das zu erzählen, und die anderen hören zu. Und dadurch, dass alles ausgesprochen wird, werden die sozialen Schwierigkeiten überwunden.

Zweitens: Wenn es Ihnen im Leben praktisch schlecht geht und Sie alles getan haben, was in Ihrem Ermessen steht, dann sind die Vorfahren dran schuld. Wir sind dafür verantwortlich nach afrikanischer Auffassung, dass wir uns um unsere Vorfahren kümmern. Im pazifischen Raum heißt das, dass wir ihnen helfen müssen, Ahnen zu werden. Mir sagte einmal ein Medizinmann: Die Europäer, die sterben, haben ja keine Ahnung, dass sie sterben, die sitzen ja alle in Zimmern. z. B. würde er sagen, jetzt, wo ich über dieses Thema rede, sitzen mindestens 10.000 tote Grazer hier im Zimmer, Gott sei Dank sehen wir sie nicht. Und was bedeutet das? Man muss ihnen helfen, sich innerlich umzudrehen, weil sie es nicht können. Sie müssen weiterkommen. Und wenn man ihnen nicht hilft, dann wird einem Unglück auf Unglück passieren.

Wieder etwas anderes: Bäume, Tiere, Berge, Pflanzen sind Helfer, man kann seine Krankheit bei einem Baum abgeben. Das funktioniert, es gibt unzählige Leute, die sich jetzt in diese Dinge vertiefen. Es ist eine Hilfe, ist das Placebo oder ist das wirklich? Das ist natürlich eine Frage, die aus dem wissenschaftlichen Paradigma nicht zu beantworten ist. Aber wenn man daran denkt, dass die meisten Missstimmungen gar nicht so sehr körperlicher Art wie seelischer Art sind, scheint es doch recht wahrscheinlich zu sein. Man verletzt aber nicht nur die Vorfahren, man verletzt unter Umständen auch die Natur. Man verletzt vielleicht Flüsse, man verletzt vielleicht Bäume. Denken Sie an die australischen Ureinwohner.

Arnold Keyserling
Krankheit in verschiedenen Kulturen · 1992
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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