Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die neue Schule der Weisheit

Die dritte Schule der Weisheit

Tantra, ab 400 n. Chr.

Im Tantrismus sind die Grenzen zum Shivaismus und chinesischen Taoismus durchlässig geworden. Die dreifältige Bestimmung, der zweiten Schule macht den Menschen noch nicht zu einem Jivanmukti, einem im Leben befreiten. Den inneren Wesenskern, Atman, auf seinem Weg durch alle Inkarnationen muss ein Gott, Brahman, entsprechen, der dem Strebenden aber nicht wie bei den prophetischen Religionen als allmächtiger Vater gegenübertritt, sondern auf Fragen und Wünsche antwortet. Im chinesischen I Ging heißt es, es sei die Aufgabe der Heiligen Weisen, den lichten Göttern zu helfen, ohne menschliche Hilfe sind sie machtlos. Der Tantriker erkannte die Einheit der Gegensätze. Der weibliche Weg der linken Hand und der männliche der rechten werden gleichwertig: die Chakras sind Bindeglieder, zwischen der mentalen und physiologischen Wirklichkeit also zwischen Traum und Wachen.

Tantra unterscheidet sich wesentlich vom Animismus. Der Traum ist einerseits das Tor zum Chaos, andererseits kausal die Wurzel der Potentialität. Das Selbst west hinter dem Traum als Zeuge, es muss zum Täter werden. Nehmen wir die Vorstellung des Rades zu Hilfe, so zeigt die Peripherie die sechsunddreißig möglichen, zeitlichen Ichs in Entsprechung zu den Dekaden des Tierkreises. Die Mitte und Nabe des Rades ist das Selbst, aus dem bisherigen Karma vorgeburtlich zu einem bestimmten Wesen geprägt, das während der irdischen Existenz einer höheren Entwicklung befähigt wird. Im Tantra ist Gott der Partner des Menschen. Was immer dieser auf dem Weg der Läuterung — durch bewusste Entscheidung für das Gute gegen das Böse — erreicht, bringt ihn der göttlichen Fülle näher.

Der Körper ist ein Spiegel des ganzen Universums, von Makro- und Mikrokosmos. Er existiert zwischen Urkraft (Yin) und Urlicht (Yang). Lao Tse, dessen Lehre alsbald mit dem Buddhismus verschmolz, nannte den Menschen eine Flöte, auf der Gott — die Löcher sind die sieben geöffneten Chakras — seine Melodien bläst.

Mit der Epoche des Tantra verlor der Buddhismus seine öffentliche Macht. Nach dem Jahrtausend gab es buddhistische Bekenntnisse nur noch in den Randgebieten des Subkontinents. Shankara bezeichnete den Buddha als neunte Inkarnation Krishnas, der die Aufgabe gehabt hätte, die Menschen irrezuführen, um sie damit zum selbständigen Suchen zu bringen. Der Kern der Lehre im Sinne der drei früher zitierten Schulen ist Teil eines der sechs orthodoxen hinduistischen Badhanas, des Advaita-Vedanta geworden. Der persönliche Weg der Weisheit wurde fortan nur noch durch einzelne Heilige verwirklicht. Vom Hochmittelalter bis zum 20. Jahrhundert gab es in Indien keine Schule der Weisheit, sondern ebenso wie in Europa nur die von wenigen Menschen überlieferte esoterische Tradition.

Dennoch unterscheidet sich der buddhistische Tantra, der bis in die Gegenwart fortlebt, wesentlich vom hinduistischen. Die Welt der Götter ist nicht substantiell, keine Verlängerung der Wirklichkeit im Jenseits, wie es auch die alexandrinische, Kirche beschrieb, die später in Ostrom das Kaiserreich als Abbild der himmlischen Hierarchie betrachtete. Sondern der buddhistische Tantriker erschafft die Götter und Geister magisch durch seine Anrufung. Die Traumwelt, Hort der einzigen Kausalität, ist auch das Potential des künstlerischen Ausdrucks.

Gehen wir wieder an unseren mathematischen Ausgangsort zurück, zu den Attraktoren des Chaos als Yang und Yin, als Kreis und Winkel. Zwischen einem Künstler und einem Magier, der die Traumwelt materialisieren kann, besteht kein absoluter, sondern ein gradueller Unterschied. Ob ich ein Buch entwerfe oder kabbalistisch aus bestimmten Buchstaben einen Geist erschaffe — wie Rabbi Löw den Golem — ist letztlich nur eine Wahl des Standpunktes. Die Bijmantras schaffen geistige Kausalität, die sich vom einzelnen und auch gegenüber anderen wie bei der Heilung materialisieren lässt. Doch der Zusammenhang des Lebens als Kunst, also die wirkliche soziale Relevanz der Schule der Weisheit, konnte im traditionellen Indien nicht gedeihen. Sie erfordert die Einbeziehung der mit Buddha gleichzeitigen pythagoräischen Esoterik — die im Mittelalter verboten und verdrängt — erst mit der Naturphilosophie der Renaissance einen neuen zaghaften Anfang setzte und schließlich in diesem Jahrhundert zur Gründung der vierten Schule der Weisheit durch meinen Vater Hermann Keyserling führte.

Arnold Keyserling
Die neue Schule der Weisheit · 1991
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD