Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die neue Schule der Weisheit

Die fünfte Schule der Weisheit

Wien 1991

In der Wassermannzeit, mit dem Postulat des ganzheitlichen Lebens, ist Weisheit zum allgemeinen Weg der globalen technologischen Zivilisation geworden. Die menschliche Umwelt, von meinem Vater Zwischenreich geheißen, ist die Welt der semiotischen Texte, die zum kommunikativen Handeln führen. Der Mensch ist in seiner Erinnerung und Verwirklichung ein sprachliches Wesen. Die Gefahr der Entfremdung und die mögliche Befreiung muss daher von den Texten ansetzen.

Alle existentielle, auf Befreiung gerichtete Esoterik ist historisch auf den Buddha zurückzuführen. Daher wollen wir seine Lehre für den heutigen Zeitgeist umformulieren und sie aus ihrer zeitbedingten Form lösen.

Der Buddha Sakyamuni lebte im Wohlstand, nichts fehlte ihm zur Zufriedenheit. Mit 29 Jahren — nach einem Saturnumlauf — hatte er eines Tages drei prägende Erlebnisse: Er hörte die verzweifelten Schreie eines Pestkranken. Er sah einen alten Mann, der freudlos dahinsiechte. Er begegnete einem Leichenzug, der einen Toten zur Verbrennungsstätte führte.

Er erkannte, dass Glück nicht dauerhaft ist, solange es einem nicht gelingt, das Leiden zu überwinden. Doch suchte er nicht Trost bei den Göttern, sondern in sich selbst. Zuerst glaubte er, die Antwort in der Askese bei einem Yogi, zu finden. Aber die Selbstkasteiung führte zu keinem Ergebnis. Er sah ein: Weder irdischer Wohlstand, noch Kasteiung führen zur echten Freude und zur Unsterblichkeit. Während aber die brahmanische Religion ihr Heil in einem Erlöser und Gott suchte, der die Menschen über Hingabe, Gebet und Nachfolge zum Heil führt, glaubte er, man müsse den Weg zur Befreiung selbst entdecken oder erschaffen.

Er setzte sich in Bodhgaya unter den berühmten Bodhibaum, der noch heute die Verehrungsmitte für Buddhisten bedeutet, und in drei Nächten erfuhr er die Erleuchtung. Das menschliche Wesen ist ewig; doch wechselt es zwischen Wachen und Traum, zwischen Leben und Tod wie die Atmung.

Während des irdischen Daseins ist die aktive Sorge um das Überleben seiner selbst und der Angehörigen im Vordergrund. Man vermeint, keine Zeit zu haben, sich um die Läuterung zu bemühen. Nach dem Tod ist man machtloser Zeuge in der Traumwelt, man kann dort nichts verändern. Schwer, so kündete der Buddha, ist es, eine menschliche Inkarnation zu erreichen. Schwerer ist es, einen Guru zu finden, einen Meister der einem hilft, inneres, durch Karma geprägtes Selbst und äußeren Pflichterfüllung des Ich, zum Dharma zusammenzufügen. Und noch schwerer ist es, die Erleuchtung zu erlangen, die Buddhaschaft, philosophisch formuliert, die Seinsvernunft hinter der Erkenntnisvernunft zu erwecken. Wenn man aber zu ihr — dem Gewahrsein jenseits des Bewusstseins durchgestoßen ist, kann man sie als soziales Wesen nur dann bewahren wenn man die Befreiung jedes anderen Wesens zum Ziel des Daseins erhebt.

In der ersten Nacht überblickte der Buddha alle seine bisherigen Inkarnationen von der Weltentstehung bis zur Gegenwart; in der zweiten durchschaute er die Verkettung von Ursache und Wirkung in der Traumwelt als Ursache der Gegenwart, die er im Bhava Chakra formulierte, welche zur ersten Schule der Weisheit führten. In der dritten Nachtwache erkannte er die Keime der künftigen Existenzen, seine Aufgabe und die seiner Nachfolger. Hieraus verkündete er die vier Wahrheiten deren Innewerden den Menschen die Befreiung eröffnet:

  1. Alles Leben ist leidvoll
  2. Das Leid wird zunichte, wenn man hinter seine Ursache tritt.
  3. Die Ursache ist der Durst nach Wiedergeburt.
    (Er entsteht aus dem Ichbild, das sich mit der Motivation identifiziert)
  4. Das unglückliche Bewusstsein wird überwunden durch den achtfachen Pfad, der aus dem Wirrwarr der Assoziationen zum reinen Gewahrsein führt.

Weisheit hat also nichts mit dem Erlernen eines praktischen Wissens zu tun. Sie bedeutet, in die Mitte des Bewusstseinskreises zu treten, später im Advaita-Vedanta wieder als das, dem göttlichen Brahman entsprungene Selbst (Atman) bezeichnet, und das Ich, Ahamkara, als Organ von seiner Eigenmächtigkeit zu befreien. Betrachten wir die vier Wahrheiten in Zusammenschau mit den vier Bewusstseinsstufen, wie sie durch Ramana Maharshi gelehrt wurden.

Wachen   1Schlaf
4
K r e u z
2
Reflexion
3   Traum

  1. Das Wachen hat keine Substanz. Alle Erfahrung entsteht aus den fünf Skandas, den Gegebenheiten der fünf Sinne. Das falsche Ichbild wird durchstoßen, indem das Wachen die Achtsamkeit, von den Assoziationen getrennt wird, wie es später im dritten Sloka des Yogasutra heißt: Durch Verlangsamung werden die Assoziationen zum Stillstand gebracht. Dann ruht der Weise in seinem Wesenskern, alle anderen Zustände sind leidvoll.
    In heutiger Sprache würden wir das leidvolle Bewusstsein die falsche Identifikation, als Funktionalismus bezeichnen, der in den letzten Jahrhunderten den Rationalismus in Ost und West prägten. Das Ich ist kein erkennendes Subjekt. Es ist ein zufälliges Konglomerat aus Sinnesgegebenheiten: Farben, Formen, Tönen, Geschmäcker und Tastwahrnehmungen und deren Gesetze, wie sie die Phänomenologie beschreibt.
  2. Die Schicht der Reflexion ihre Eigenmächtigkeit wurde durch die Revolution des naturwissenschaftlichen Weltbildes überwunden. Wissenschaft erklärt nicht sondern beschreibt. Unsere Welt ist während der Dauer der irdischen Existenz durch ein Sinnesfenster zwischen zwei Grenzen bestimmt, etwa beim Hören zwischen 16.000 und 20.000 Hz. Doch die physikalische Wirklichkeit des WellenKontinuums setzt sich nach oben und unten fort.
    Die Beschreibung und sprachliche Bemächtigung verlangt die Erkenntnis, dass alle Identifikation mit den Sinnen oder mit den Texten prinzipiell falsch ist. Es gibt in der Wirklichkeit keine Kausalität, sondern nur fixierte Beziehungen, die mathematisch auszudrücken sind.
  3. Die einzig echte Kausalität des Menschen ist in der Traumwelt, aus der er seine Wirklichkeit erschafft. Ihr Zusammenhang ist sprachlich als Sinn zu ermitteln. Sinn ist nur das, was auf die ursprüngliche binäre Form Null und Eins, Yin und Yang, zurückgeführt werden kann.

Der Zusammenhang aller gemeinsamen Nenner und Gründe ist das Rad, die Seinsvernunft. Sakyamuni hat es mit seiner Erleuchtung zum Drehen gebracht. Er hat sich aber methodisch mit der Darstellung des Bhava Chakra nur auf den Innenbau beschränkt, den der Mensch nachtodlich oder im Traum erlebt. Wir zeigen jetzt seinen Zusammenhang mit dem Tierkreis als Rahmen der Menschwerdung.

B h a v a c h a k r a

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
Seele-wollen
Körper-empfinden
Geist-denken
Seele-fühlen
Körper-wollen
Geist-empfinden
Seele-denken
Körper-fühlen
Geist-wollen
Seele-empfinden
Körper-denken
Geist-fühlen
Nichtwissen
Triebkräfte
Bewusstheit
Name
Sinne
Gewahrwerden
Anteilnahme
Lust
Sehnsucht nach Wiedergeburt
Werden
Geburt - Dasein
Tod

Hier hat die dritte Schule der Weisheit, der Tantra mit dem Yoga, die Entscheidung, der Erkenntnis gebracht. Die Entsagung nützt nichts. Der Adept des Weges der Weisheit, der den Arhat Zustand der ersten Schule erreicht hat, muss wieder als Karma Yogi auf die Welt. Unser unsterbliches Wesen wird als Diamantkörper, als künstlerisches Werk geschaffen, die seelische Person ist nicht unsterblich.

Diese Traumgestalt, ist dem Menschen eingeboren. Das Horoskop, das mit dem ersten Atemzug einrastet ist der Ansatz zur Verwirklichung, wenn es als Weg zur Fülle betrachtet wird.

DHARMARAD
D h a r m a r a d
  1. Der Weg der Befreiung ist der achtfache Pfad. Übersetzen wir die buddhistischen Begriffe in die Terminologie des Rades, dann können wir die Systemik und Relevanz, die Richtigkeit dieser Ordnung entschlüsseln.

    I.
    II.
    III.
    IV.
    V.
    VI.
    VII.
    VIII.
    Rechter Glaube
    Rechte Gesinnung
    Rechtes Reden
    Rechtes Handeln
    Rechtes Leben
    Rechte Absichten
    Rechtes Denken
    Rechte Versenkung
    Empfinden
    Denken
    Fühlen
    Wollen
    Körper
    Seele
    Geist
    Gewahrsein

    1. Der Ansatz ist rechter Glaube. Er hat nichts mit dem christlichen Glauben zu tun, sondern bedeutet das Durchschauen der Wirklichkeit und die Sprengung der Ichbilder. Die Welt besteht für das Gewahrsein aus den Erscheinungen der fünf Sinne — Empfinden. Wer sich mit einem Zusammenhang dieser Komponenten identifiziert, schafft semiotisch eine falsche Substanz. Um der Identifikation mit den sinnesgeprägten Ichbildern zu entgehen, muss die Unabhängigkeit im Leben erreicht sein. Zur Zeit Buddhas war das nur für den Mönch möglich, der der sozialen, feudalen Ordnung nicht verpflichtet war. Heute ist es der wirtschaftliche Ansatz, nämlich sich Macht und Geld als Ausgangspunkt, als Verkörperung von Art- und Selbsterhaltung zuzusprechen. Das Ichbild verliert seine Substanz und Identität, der Bewusstseinsstrom wird zur Tätigkeit, die das selbständige unabhängige Dasein gewährleistet.
    2. Rechte Gesinnung — Denken überwindet das falsche disputative Denken. Seine Gefahr ist die Fixierung an die Hierarchie der menschlichen Stellungen als Abbild der tierischen Instinkte. Seine Befreiung, das Fließen des Ich im Strom der gemeinsamen Kommunikation.
    3. Rechtes Reden — Fühlen. Der Mensch ist ein Sprachwesen. Aber echtes Sprechen ist nicht Verwortung der Lebensvorgänge, sondern die Artikulation der Visionen, der Träume und Triebe. Es gibt keine negativen Träume, sondern nur deren falsche Interpretation. Sie sind zurückzuführen auf die Bedeutung des Körperbildes der Astrologie oder auf die vier Funktionen in Entsprechung zu den vier Elementen, sie lassen die Intention für die nächste Motivation, erkennen. Auch Krankheit ist nicht als Schaden zu verstehen, sondern als Ansatz eines neuen Weges, sobald man ihre Chiffre begreift.
    4. Rechtes Handeln — Wollen. Empfinden ist im Wachen, Denken in der Reflexion, Fühlen im Traum, Wollen im Schlaf. Es kann nur aus der Leere der Aufmerksamkeit ansetzen, aus der potentiellen Kraft, die eine bestimmte Qualität erreichen muss. Das erfordert Bekenntnis zur Person, das Ich als durchklingend. Die Meisterung der Sinne und Bewusstheit im Spiel und schließlich die Erkenntnis der Aufgabe als Sehnsucht nach einer andern Wiedergeburt. Nicht mehr als physisch sterblicher Mensch im Wechsel von Tod und Leben, sondern im Werk, das durch die nächsten vier Stufen des Dharma-Chakras umrissen wird.
    5. Rechtes Leben — Körper. Die Schaffung des Kraftleibes durch Öffnung der sieben Chakras verlangt die Trennung von Bewegung, Atmung und Vorstellung. Es gilt den mentalen Körper als Bild dem physischen Körper einzuverleiben. Durch die Vereinigung von Urkraft und Urlicht, Unten und Oben, Links und Rechts. Die Gefahr der menschlichen Existenz auf der fünften Stufe ist das falsche Alter durch überhandnehmen der bedingten Reflexabläufe, durch Identifikation mit der Vergangenheit.
    6. Rechte Absichten — Seele. Die Astrologie der Wassermannzeit ist die Anlage als Weg. Die Seele als künftiger Träger des Wesens entfaltet sich durch die Jahrsiebte des Lebenskreises und jedes Jahr bringt eine neue Aufgabe, ermöglicht eine neue Zielsetzung. Der Kreis des Horoskops wird zur Spirale.
    7. Rechtes Denken — Geist. Das seelische Horoskop als Raster möglicher Entfaltung findet seinen Niederschlag im Werk der Zivilisation. Und hier gilt es, in der Wassermannzeit im Sinn der vierten Schule der Weisheit, alle Personen, die nach Goethes Wort einen Namen sich erwarben, als Künder, Dichter, Gestalter, Weise und Heilige als Sinnbild das eigenen Strebens zu erkennen.
    8. Rechte Versenkung — Gewahrsein. Das wahre Subjekt des Menschen, das Wesen, das als Brücke zwischen Selbst und Ich zu schaffen ist, hat sein Zentrum im Menschen im All, dessen transzendenter Ausdruck die Stimme Gottes und dessen immanenter der Tierkreis in seiner Bedeutung ist. Bisher war die Schule der Weisheit räumlich an Orte fixiert oder esoterisch im Untergrund. Durch Anjochung der Zeit als Ritus ermöglicht sie heute das Durchstoßen der funktionalistischen, textfixierten Welt, wie es in vorlogischer Weise der Zen gezeigt hat.
Arnold Keyserling
Die neue Schule der Weisheit · 1991
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD