Schule des Rades

Arnold Keyserling

Kreativer Frieden

Mythos

Diese Ganzheit haben die sogenannten Aborigines der vorschriftlichen Kulturen der Krebszeit und Zwillingszeit bewahrt. Bei den Australiern reicht das Bewusstsein zurück in die Altsteinzeit, bei den Schwarzafrikanern der Dorfkultur in die Krebszeit, bei den mongolischen Nomaden und den nordamerikanischen Indianern in die Stammeskultur der Zwillingszeit. Wir können also die Wandlung der Politik zur friedlichen Metapolitik vereinfachen. Früher war eine schriftliche Tradition der feste Grund, wie die christliche, die des Islam oder des Hinduismus, von dem jeder auszugehen hatte. Ihr Ursprung war eine irrationale Offenbarung. Heute sind es die Kriterien der Naturwissenschaft, der Wirtschaft, Technologie und der weltweiten Kommunikation, die die feste rationale Basis bilden. Kultur und Religion müssen ihre Vielheit akzeptieren, was durch die Erkenntnis des Rades als semiotischen Urcodes möglich wird. Dieser umfasst die geringe Anzahl sprachlicher und mathematischer Kategorien, die ein Verstehen aller Lebensformen möglich machen und dem Elitarismus überwinden.

Jeder Mensch wird zweimal geboren: körperlich aus dem genetischen Code, und geistig aus dem Wollen. Die körperliche Geburt erfolgt instinktiv, und ist aus dem Mikrokosmos gesteuert. Die geistige dagegen erfolgt makrokosmisch aus der Fähigkeit des Gewahrseins, die Zeit im Wort in eine Dauer und ein Wesen zu verwandeln. Nur der seltsame Attraktor, das Erreichen der inneren Leere, kann das Subjekt erwecken.

Die Leere des Selbst im Körper wird durch Konzentration auf das Hara und die Atmung erreicht, von dem aus die Urkraft des Chi, also der Selbstorganisation angejocht werden kann. Wer die Regungen und Bewegungen seines Leibes koordiniert, hat die erste Stufe der Freude erreicht. Wer aber seine Teilhabe am großen Ich, an Gott gefunden hat, erreicht das innere Gleichgewicht der Orientierung aus dem Licht, den zweiten Aspekt des Chi, der Aufmerksamkeit. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Körper zu verworten; mit anderen Worten sich auf ein Wissen zu beschränken das keine fremden Subjekte in einem selbst und in der Gemeinschaft erlaubt.

Dies ermöglicht die Zahl; sie bedeutet Verbindungs- und auch Resonanzmöglichkeit. Durch die Sinne vermag man die chaotische Welt nach Komponenten zu gliedern und mittels der drei Attraktoren die menschliche Umwelt zu kosmisieren, indem man die Möglichkeiten der Erde nach Begabung und Umständen erlernt.

Diesen Vorgang klärt der Begriff der Freiheit. Frei und freudig bin ich körperlich, wenn ich Anmut in der Bewegung und Schönheit meiner Umgebung schaffe; seelisch, wenn ich in der Kommunikation niemanden ausschließe und die Liebe zum selbstverständlichen Gebot wird; und geistig, wenn ich mein Wissen genau kenne, mich darauf beschränke, und nicht von fremden Inhalten und Subjekten wie in den Ideologien mitgerissen werde. So können wir das biblische Gebot interpretieren: Du sollst keine Götter neben mir haben. Der Geist umfasst alle Wesen; Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, Tote, Engel und Geister. Sobald man sich nicht um eine Synthese bemüht sondern um das Handwerk der Kosmisierung, entfaltet man die Seinsvernunft. Man spricht als Subjekt zu anderen, eingedenk der Tatsache, dass das große Subjekt Gott alle einschließt und verbindet.

Heute versucht man diese fehlende Stimmung durch das Postulat der Ethik zu erreichen. Aber Ethik, als sinnvolles Verhalten, kann nicht in der Vergangenheit wurzeln. Sie ist stetig neu zu erringen, wie Sokrates und Kant gelehrt haben, also formale anstatt materialer Ethik. An die Stelle der materialen Ethik der Kirchen und Ideologien, die glauben zu wissen was gut und böse ist, muss die Einstimmung in die Ganzheit auf höherer Ebene erreicht werden. Novalis drückte es so aus: man muss ein zweites Mal die Frucht des Baumes der Erkenntnis genießen und jeden Menschen nicht nur als Aktualität, sondern auch als Potentialität anerkennen, bestätigen und fordern.

Das zweite Wissen ist Weisheit, also Leben in Form des Wissens. Alles, was verstanden wurde lässt den Menschen innerlich frei und zur Zuwendung offen. Beschränkung auf die Kriterien von Raum, Zeit und Zahl lassen das Subjekt, das Wesen hervortreten. Durch das Rad sind sämtliche Wissensgebiete des logischen und analogen Denkens zu integrieren, wie ich in vielen Büchern gezeigt habe. Es ist also als Organ der Seinsvernunft zu entfalten, wobei der persönliche Aspekt die Zeitkombination des Horoskops ist, der räumliche der Wirkungskreis, und der kollektive der Rahmen des All.

Die vorschriftlichen Kulturen kannten Riten und Methoden, wie man mit den Geistern, den Toten und mit Gott in Kommunikation treten kann. Jede Tradition hat andere Formen und Riten entwickelt. Daher ist die Voraussetzung eines Friedens, alle Kulturen der Welt als menschliche Fauna und Flora anzuerkennen und die globale Zivilisation in ihrem Reichtum zur Weltkultur zu erhöhen.

In der Bibel gibt es den Mythos vom Turmbau zu Babel. Er bedeutet die Erfindung der Schrift vor fünftausend Jahren, in den Stadtkulturen der Stierzeit. Durch die Schrift wurde der beamtete Priester Träger eines Wissens, das seinen Zusammenhang nicht im Subjekt von Menschen hat, sondern in einer Abstraktion. Deshalb gelten auch heute noch in Indien schriftliche Unterweisungen weniger als mündliche, vor allem dann, wenn letztere nicht gesprochen sondern gesungen werden.

Wenn wir also heute die formale Ethik durch eine wirklich materiale, auf der Wahrheit der Wirklichkeit gegründete ergänzen wollen, dann müssen wir das Wissen und die Weisheit der vorschriftlichen Kulturen, der Klans und Stämme als Ergänzung des rationalen Weltbildes anerkennen und sie als historischen Ursprung bestimmen. Die drei wichtigsten Komponenten der Aborigines sind Australien, Schwarzafrika und die nordamerikanischen Indianer. Die Australier leben heute noch den Zusammenhang mit der Altsteinzeit. Die Afrikaner leben in Kommunion mit den Pflanzen, den Toten, den Ahnen und den Geistern, und die Indianer wissen, dass die Tiere nicht unsere Untertanen, sondern unsere verwandten und Lehrer sind.

Australien heiligt den Stein, die Erde. Aus der Erde kamen in der Schöpfung die Geister aller Tiere, der Pflanzen und Menschen, sobald sie sich unter dem Einfluss der Sonne regte und das Leben begann. Die göttlichen Wesen schufen mit ihren Liedern die Traumpfade, wo die Menschen durch das Gehen in gegebenen zeitlichen Abständen die Rückbindung an die vorgeburtliche Raumzeit vollziehen. Sie verwandeln sich im Walkabout zurück in Steinzeitmenschen; die australische Tradition ist sei achtzigtausend Jahren ungebrochen. Jeder Mensch hat seine Beziehung zur Natur und zur Erde durch einen bestimmten Abschnitt eines Liedes, mit dem die Welt einst durch Namensgebung und Gesang erschaffen wurde. Seine Mitgift für diese Existenz ist vielleicht eine sechzig Meilen lange Strecke, die er im Walkabout durchmisst und dadurch die Schöpfung fortsetzt. Bis in die Achtzigerjahre wurde seitens der christlichen Missionare und der kolonialistischen Herrschaft der Weißen dieses Wissen und die Riten unterdrückt, heute ist es geheiligt und staatlich geschützt. Nichts darf im heutigen Australien auf den Traumpfaden gebaut werden; und die heiligen Stätten — vor allem der große heilige Berg Ayers Rock, gelegen am Wendekreis des Steinbocks — ist das Zentrum der historischen Welt und die Rückbindung an die Traumzeit. Von ihm aus haben die Wanderungen einst begonnen.

Die Aborigines leben in Kommunion mit den Vorfahren. Der Großvater inkarniert sich im Enkel und sucht die künftigen Eltern seiner Reinkarnation unter seinen Kindern aus. Die Grundlehre ist: die Erde mit ihren Pflanzen und Tieren hat immer für alle genug zum Überleben und zum Essen, wenn man sich geistig in die Traumzeit einstimmt.

Der Reichtum des Schrifttums über die australischen Traditionen ist heute groß; nur die starrköpfigen letzten Vertreter des Ethnokolonialismus halten an der vermeintlichen Überlegenheit des weißen Denkens fest. Erinnern wir uns an das Gespräch des deutschen Ethnologen Andreas Lommel in den Dreißigerjahren. Er fragte einen Häuptling, was ist nach dessen Ansicht bei den Weißen falsch. Dieser antwortete Ihr glaubt, ihr seid hundert Prozent, doch wir wissen, wir sind nur fünfzig Prozent. Diese zweiten fünfzig Prozent sind nicht dem logischen, sondern nur dem analogen Denken zugänglich, wie ich es in meinem Atlas des Rades dargestellt habe. Die phänomenologische Wirklichkeit umfasst analog Diesseits und Jenseits, die Welt der Lebenden und der Toten und damit auch der Geister. Diese zweite Welt der Traumzeit kann nur über Ritus und Kunst auf der Erde inkarniert werden.

Die afrikanische schamanische Überlieferung wurde erst durch Malidoma Somé 1993 aus der Sicht der Dorfkultur der Dagaras zugänglich gemacht. Der Mensch existiert in vier Welten:

  • Die Lebenswelt zwischen Geburt und Tod im Wachen;
  • die Nachtodwelt zwischen Tod und irdischer Wiedergeburt.

Im Leben altert der Körper und der Geist wird jung. Nach dem Tod altert der Geist, indem sämtliche Versäumnisse in einer Art Fegefeuer geläutert und gutgemacht werden, um sich neu zu inkarnieren.

  • Die dritte Welt ist die embryonal-mineralische. Das geborene Kind kommt mit der fertigen Motivation des gealterten Geistes auf die Welt.
  • Die vierte Welt ist die göttliche des Lichts, wo jeder Mensch von Gott seine Aufgabe für das wache Leben im Einklang mit seiner Motivation findet.

Die Ältesten des Stammes sollen bei jedem Kind noch im Mutterleib seine künftige Aufgabe als seinen Namen ergründen, die ihn für dieses Leben bestimmt.

Die Großeltern und Enkel leben zusammen, weil erstere vor dem Eintritt in den Geist stehen, letztere der Geisteswelt entspringen.

Die Einweihung in Klan und Stamm erfolgt durch eine Initiation, die die ganze Himmelsleiter der Planeten bis zum schwarzen Loch des Luzifer umfasst. Jedes Kind muss mit etwa 12 Jahren sich diesem Ritus unterwerfen, damit es fortan das Wissen der kosmischen Herkunft nicht verliert. Viele Riten erinnern den einzelnen immer wieder, wie er im Jenseits seine Kraft findet. Kriege entstehen, wenn die Vorfahren nicht durch Riten geheilt wurden; ebenso wenn man die Geister und die Naturwesen vergisst. Der Einstieg in die geistige Welt geschieht über die Pflanze, den Baum. Man muss in der Initiation das Wesen eines Baumes gleichsam in menschlicher Gestalt verstehen, um am Wachstumsprozess der Erde teilzunehmen.

Wie die Australier die Beziehung zur Erde im Stein pflegen und die Afrikaner zum Baum und zu den Geistern, sind die Indianer dem Tier verschwistert. In der Kosmogonie stiegen die Menschengeister aus dem Erdinneren auf, erlebten deren Schichten als Naturreiche, und landeten schließlich wie die Navahos in der fünften Welt der Menschwerdung, auf der sie ihre künstlerische Kultur aufbauten: To walk the world in balance and beauty. Die Tiere sind die Lehrer der Menschen. Um sein persönliches Selbst mit dem kollektiven Ich zu vereinen, braucht man den tierischen Lehrer. Dieser ergreift einen in einer rituellen Visionsreise in die Unterwelt, die von Trommeln begleitet wird. Im Land der Tiergeister trifft man dann jenen Geist, der bereit ist, Lehrer und Krafttier zu werden, und einem hilft, die Stufen der Himmelsleiter aufzusteigen.

Die Metaphysik der Indianer ist the sacred count, die heilige Zählweise, im Zusammenhang mit dem heiligen Raum, wo jede Richtung im Steinkreis eine andere göttliche Macht offenbart.

Sowohl die persönliche als auch die kollektive Geschichte sind von der Evolution getragen. Die Weisheit der drei Urvölker der steinentsprossenen Australier, der baumentsprossenen Afrikaner und der tierentsprossenen Indianer — kann uns nun ermöglichen, die verlorene Ganzheit im Einklang mit der Geschichte wieder zu erringen. Betrachten wir nun, welche Elemente zu der technisch-wissenschaftlich- wirtschaftlichen Ausrichtung für eine friedliche Zukunft einzubeziehen wären, indem wir das vorschriftliche Urwissen durch die Entdeckungen anderer Kulturkreise ergänzen.

Der gemeinsame Nenner aller Kulturen der Welt ist der semiotische Urcode des Rades, der die esoterische Grundlage aller Traditionen bildet und vor elftausend Jahren in der jungsteinzeitlichen Revolution im Rad artikuliert wurde. Es ist die Sprache, die auf das körperliche Gewahrsein abgestimmt ist; die Zahlen von Zeit, Raum und den Sinnen, wie sie Afrikanern, Indianern und Australiern, ebenso wie den sibirischen und pazifischen Schamanen und den Tibetern noch gegenwärtig ist. So wird die zeitliche Rückkehr an den Anfang der Geschichte die Voraussetzung einer friedlichen Entfaltung zeigen.

Der Tierkreis ist räumlich zu verstehen, der Tag, das Weltenjahr und der Lebenskreis zeitlich. In der Wassermannzeit bestimmt der Raster des Rades sowohl die Gesellschaft und Zivilisation als auch die Kultur. Wie im Horoskop die Mitte die Erdmitte und den Polarstern spiegelt, ist das kollektive Rad kein Plan und keine Philosophie, sondern die Auflistung der Kriterien, die uns erkennen lassen, wie Gesellschaft zur Kultur und damit geistig werden kann. Information, Dichtung und Kunst sind oberhalb der Grammatik. Das geistige Wesen der Menschen entfaltet sich auf dem Wortrahmen der Inbegriffe. Kultur entsteht, wenn die Zivilisation nicht statisch auf das Überleben gerichtet ist, sondern auf die Entfaltung des einzelnen und der Gemeinschaft.

Betrachten wir nun den zwölffältigen Raster aus den Gegensatzpaaren. Gesellschaftlich muss jeder die Meisterschaft seines Gebiets erreichen, um dann in der Weltkultur zur Mitmenschlichkeit und Kreativität durchzustoßen. Die Tierkreiszeichen spiegeln den Körper des Großen Menschen, mit dem Kopf im Widder und den Füßen in den Fischen.

I
II
III
IV
V
VI
Widder
Stier
Zwillinge
Krebs
Löwe
Jungfrau
Politk
Kunst
Wissenschaft
Ernährung
Ritus
Wirtschaft
VII
VIII
IX
X
XI
XII
Waage
Skorpion
Schütze
Steinbock
Wassermann
Fische
Recht
Energie
Religion
Verwaltung
Technologie
Medizin

Alle bestehenden Gemeinwesen sind aus diesen zwölf Gebieten der Zivilisation gefügt. Die bisherige Geschichte jedes Feldes ist der Unterbau, der im Weltrahmen zu erlernen ist. Kultur bedeutet die spontane neue Leistung, wie eben große Kunst oder Metapolitik.

Um nun eine Friedensvision zu verwirklichen, die die gleiche Intensität erzeugt wie die Motivation im Kampf ums Dasein, müsste ein Plan entstehen, müsste ein Format verwirklicht werden, das die logischen Gegensätze in analoge Ergänzungen überführt und so jeder Begabung ermöglicht, ihre Fülle zu erreichen, wie einst in dem auf der Zeit gegründeten chinesischen Reich.

Arnold Keyserling
Kreativer Frieden · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD