Schule des Rades

Arnold Keyserling

Musik ist das Philosophische Urwissen

Über den Wiener Musiker und Komponisten:
Josef Matthias Hauer

19. 05. 1883 - 22. 09. 1959

Ich bin kein Musiker sondern Philosoph. In meiner Jugend hatte ich entdeckt, dass nach langer denkerischer Bemühung das Spielen bestimmter Akkorde meine Vitalität wieder herstellte.

Durch die enge Beziehung meiner Familie zu Bach und Kant — die Goldberg-Variationen wurden für einen meiner Vorfahren verfasst, und Kant war mehrere Jahre in unserer Familie als Hauslehrer tätig — war mir die philosophische Bedeutung der Musik selbstverständlich.

Und so war es kein Wunder, dass ich in meiner Suche nach dem Verständnis der metaphysischen Bedeutung der Musik nach Hans Kayser und G.I. Gurdjieff zu Josef Matthias Hauer kam, der die Musik genau in dem Sinne auffasste, wie sie mir aus der pythagoräischen Tradition vorschwebte.

Ich wusste, dass Hauer nur mit Menschen verkehrte, die das Klavier und die temperierte Stimmung begriffen hatten. So begann ich bei seinem Schüler Sokolowski Cembalostunden zu nehmen, um die Struktur des Zwölftonspiels zu erlernen. Nach drei Monaten fühlte ich mich bereit, Hauer zu besuchen, und so kam es 1951 zu der entscheidenden Begegnung. Durch Sokolowski angesagt, pilgerte ich mit meiner Frau in die Bennogasse 8.

Der Mann, der uns öffnete, sah aus wie ein alter chinesischer Weiser, mit Augen von einer überirdischen Schönheit. Ein Bett, ein Tisch, drei Stühle und ein alter Wecker bildeten das ganze Mobiliar. Wir setzten uns hin, und er erklärte uns, am Wecker merke er, wie lange eine Komposition dauern würde. Er habe es aufgegeben, sie auf einem Instrument anzuhören, weil es nie die ganze Schönheit wiedergeben könne.

Aus diesem Treffen wurde eine mehrjährige Lehrzeit, welche aber nicht auf das Erlernen seiner Musik ausgerichtet war, sondern auf das Verständnis seiner philosophischen Einstellung. Diese lässt sich am leichtesten aus seiner Biographie begreifen.

Hauer war der Sohn eines Musikers aus Wiener Neustadt. Beruflich wurde er Volksschullehrer, blieb aber gleichzeitig ausübender Musiker. Er hörte nun in sich dauernd Melodien, die er nicht mit der tonalen Skala in Beziehung setzen konnte. Eines Tages zerstörte er sein Cello und beschloss, zu fasten und nicht eher zu essen, bis er die Ordnung der Töne gefunden hätte, die er hörte.

Schon Lévi-Strauss hatte darauf hingewiesen, dass die Dur-Moll-Skala nur 7040 Permutationen aufweise und deshalb jemand bei ihrem Beginn hätte voraussagen können, sie müsse nach wenigen Jahrhunderten erschöpft sein. Doch die zwölf Töne des Klaviers haben ohne Rücksicht auf die Tonhöhe, als Intervallfolge, 479 Millionen Permutationsmöglichkeiten. Wie konnte er nun diesen Reichtum ordnen und übersichtlich machen?

Nach einigen Wochen fand Hauer die Antwort: Durch Teilung der Intervallkonfigurationen in zwei Hälften von je sechs Tönen gelang es ihm in seinen 44 Tropen, diese Übersicht zu schaffen.

Manche der Zwölftonfolgen sind ergiebig, andere nicht. Die reichste ist jene, deren Intervalle in sechs Tropen steht, die ärmste die, welche nur in einer steht, wie etwa die chromatische Tonleiter und die Ganztonleiter. Ich habe die Struktur dieser Tropen in meinem Hauer gewidmeten Buch Das Rosenkreuz definitorisch und graphisch dargestellt.

Es gibt also zuerst einmal einen quantifizierbaren Aspekt der Tonwelt, gleich jenem der Informationsdichte, die Max Bense verdeutlicht hat: Goethe in Worten oder Bach in seiner Kunst der Fuge sind an Permutationen reicher als andere und ermüden daher den Geist nicht, weil man immer neue Bedeutungen erhaschen kann, im Gegensatz zu einem Kriminalroman mit stereotypen Gestalten oder einem Popschlager.

Diese Bedeutung war Bach sehr wohl klar: Er bezeichnete es als seine Intention, im Wohltemperierten Klavier zu zeigen, dass es keine Begleitung gebe, sondern jede Stimme die gleiche Wichtigkeit habe — als Vorbild einer demokratischen Gesellschaft, in welcher jeder Mensch seinen Sinn und seine Rolle finden könnte.

Diese paradigmatische Rolle der Musik war bis zur Wiener Klassik selbstverständlich. Leonardo da Vinci noch benützte die Definition der drei Musiken von Boëthius: Die musica humana spiegle als Welt der Rhythmen die körperliche Triebstruktur, die musica mundana als Welt der Intervalle die Planetenkreisläufe, und die musica instrumentalis sei das Urbild der menschlichen Zivilisation — jeder sei ein Instrument, aber sein Wesen erschaffe er durch das Musizieren in der Harmonie des gemeinsamen Spielens.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Konsumvorstellung maßgebend im Musikbetrieb geworden; die alte Theorie der Entsprechung von Rhythmus, Harmonie und Melodie zu Körper, Seele und Geist war vergessen.

Körper
Seele
Geist
Rhythmus
Harmonie
Melodie
musica humana
musica instrumentalis
musica mundana

Hauer glaubte durch Ferdinand Ebner, einen katholischen Denker, Verständnis erwecken zu können, der ihm aber einen Bärendienst leistete, weil er seine Theorien noch unverständlicher machte, als sie dem Durchschnittsmenschen ohnehin erschienen. Da die Zwölftonmusik allgemein mit Schönberg und Webern identifiziert wurde, die ganz andere Intentionen hatten, geriet der Maschinenstricker aus der Josefstadt, wie ihn Joseph Marx nannte, immer mehr in Vereinsamung und erlebte unter der deutschen Besetzung auch das Schicksal, als entarteter Musiker geächtet zu sein. Doch diese erzwungene Einsamkeit ließ seine Gedanken überhaupt erst reifen.

Der Ursprung der Musik ist nicht eine Tonleiter, sondern die lebendige Folge der Töne, im reichsten Falle einer Zwölftonmelodie. Diese Folge vernimmt der Mensch: Der wahre Musiker ist also kein Komponist, sondern ein Vernehmender. Und je weniger er dazufügt, desto schöner ist seine Musik. Man denke nur an Mozarts Ausspruch, er habe alle Sinfonien direkt von Gott empfangen; doch freue er sich, dass Gott in mozartschem Stil komponiere. oder an jenen von Herbert Pietschmann zitierten Satz von Brahms, seine Musik sei besser als die manch anderer, weil er nichts hinzufüge — wer intelligent sein wolle, der verschlechtere seine Kreativität.

Der physische Ursprung der Töne ist nun entweder zyklisch oder radial; entweder der Obertonreihe und Untertonreihe entstammend, oder einer geometrischen Ordnung der Intervalle, wie die temperierte Skala von Andreas Werckmeister, die auf der Naturseptime beruhende Slendroskala Indonesiens, die durch Wechsel von Quarten und Quinten entstehende chinesische Skala. In der europäischen Musiktheorie wurde die Temperatur, die auf der geometrischen Mitte, der zwölften Wurzel aus zwei beim Halbtonschritt beruht, als Kompromiss verachtet und statt dessen die reine Quintenstimmung gelobt, die aber nicht zur Oktave zurückführen kann, weil bereits mit der dritten Quinte die Grenze der Toleranz des Hörens im diatonischen Komma erreicht wird. Sie beträgt ⁸¹/₈₀, gleich dem Unterschied von großem und kleinem Ganztonschritt, ¹⁰/₉ und ⁹/₈, oder der Naturterz und der Quintenterz:

1-2-3-4-5-10-20-40-80; 1 – ³/₂ – ⁹/₄ – ²⁷/₈ Obertöne und Untertöne entstehen durch die Schwingung regelmäßiger Körper, geometrisch zyklische Skalen dagegen als Kulturleistung.

Stimmt diese Behauptung nun, oder ist sie falsch? Hauer behauptete, dass die Materie selbst temperiert sei. Das Gewicht der 6 Protonen des Kohlenstoffs ist geringer als das Gewicht der Summe von 6 Wasserstoffprotonen. Die Physiker erklären diese Tatsache durch den Packungseffekt; Hauer sah darin das Gesetz des Lebens, so dass der Mensch mit der Schaffung des temperierten Hörrahmens sich in das Wogen und Wallen der Natur einstimme. Musiker sei jener, der den Ursprung des Lebens hören könne, und deswegen habe die Musik diese vitalisierende Rolle. Einmal kam ich zu Hauer, und er begrüßte mich glücklich an der Tür: Der Sauerstoff sei ein Herr Sauerstoff, auch er weise den Packungseffekt auf!

Das tragende Element des organischen Lebens ist der Kohlenstoff mit sechs Elektronen und sechs Protonen (+6 Neutronen, die aber die qualitative Rolle nicht verändern). Vier davon sind Valenzelektronen, die der Verbindung mit sich selbst fähig sind und daher das Baugerüst aller organischen Moleküle abgeben (was für alle Elemente der vierten Gruppe zutrifft, also auch für Silizium und Blei).

Dieser Gedanke wurde von Hauer durch eine schicksalhafte Begegnung erhärtet: Richard Wilhelm, der Übersetzer des Buchs der Wandlungen, kam nach Wien, und bei der Familie seiner Mäzene Köchert lernte Hauer ihn kennen. Er verstand, dass er mit seiner Entdeckung der Tropen und der lauernden Zeichen des I Ging auf die Grundlagen der chinesischen Kultur gestoßen war. Durch die Entdeckung des genetischen Codes ist die mathematische Entsprechung zwischen I Ging und dem Gesetz des Lebens offensichtlich, und dank den binären Computern ist klar geworden, dass auch das menschliche Gehirn nach der gleichen Struktur geschaffen ist.

Die reine serielle Musik befriedigte Hauer nicht. Er suchte weiter nach einer gültigen Struktur, die alle Gesetze des Lebens spiegeln würde. Er fand sie in seinem Zwölftonspiel.

Man unterscheidet Tonschritte und Akkorde. Quinten, Quarten, große und kleine Terzen sind Akkorde der Obertonreihe und Untertonreihe, mit Dur- oder Moll-Charakter. Der Ganztonschritt mit seiner Toleranz ist aber sowohl aufwärtsführend als auch abwärtsführend. Daher kann nur er das Prinzip der Bewegung bilden, zusammen mit dem Halbtonschritt.

Teilt man nun die Oktave in vier Abschnitte (bei c als Grundton: c-cis-d, dis-e-f, fis-g-gis, a-ais-h), dann entstehen vier Stimmen, die Hauer analog zur menschliche Stimme als Baß, Bariton, Alt und Sopran bezeichnete. Sobald man nun eine beliebige Zwölftonfolge zum Kreis schließt, entstehen vier Stimmen. Hier verwandte Hauer anstelle der üblichen Notenschrift eine eigene, dem Klavier entnommene Notation, welche diese Arbeit kinderleicht macht.

Ein Zwölftonspiel zeigt nun neun Vierklänge, deren Reihenfolge variiert. Dieses ist für Hauer der ursprüngliche Ansatz des einstimmenden, also kosmischen Hörens. Aber es hat mit musikantischem Ausdruck nichts zu tun: Er warnte daher jeden Musiker, sich mit seiner Arbeit zu beschäftigen. Zwar war er inzwischen von der Stadt Wien geehrt worden, aber niemand verstand sein Anliegen.

Als ich 1953 zu seinem 70. Geburtstag einen Vortrag über seine Musik im Musikverein hielt, merkte ich nach wenigen Minuten, dass kein Zuhörer auch nur ein Wort verstand. Als ich es ihm nachher erzählte, sagte er, er habe das gewusst er habe den I Ging gewürfelt, und der habe ihm das bereits verkündet. Der ihm verliehene Titel Professor freute ihn. Er sagte, seitdem werde er viel besser vom Kellner im Cafe Hummel behandelt. Aber er erwartete sich zu seinen Lebzeiten keine Anerkennung — zwar waren die Aufführungen seiner Opern und Musikstücke immer ein Publikumserfolg, die Kritiker aber lehnten ihn aus Unverständnis seines Anliegens weiterhin ab.

Inzwischen hat sowohl die historische Forschung als auch die neue Physik seinen Ansatz glaubhaft gemacht. Tatsächlich ist die Mathematik, die Grundlage der Naturwissenschaft, aus dem Sinn des Ohres entstanden: Pythagoras entwickelte die Rechnungsarten und Zahlenarten aus dem Hören.

  • Die Tonwerte entsprechen den natürlichen Zahlen, gleichen den Buchstaben der Sprache.
  • Addition und Subtraktion, die ganzen Zahlen, vernehmen wir über Differenztöne und Summationstöne.
  • Das Verhältnis der Töne zueinander geschieht über Multiplikation und Division der rationalen Zahlen.
  • Die Proportionen der Obertonreihe und ihre Funktion gehören zu den reellen Zahlen, die auch die Wurzel aus zwei zu eins, den Tritonus, einschließen.
  • Die Intervalle selbst (mit dem doppelten Gesetz der Identität von Oktave und Prim und der Abstimmung aller Intervalle mittels der Temperierung, wobei im Musizieren die Oberton- Untertonintervalle im Rahmen der Toleranz den Klangreichtum verstärken) geben den Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs von Geist, Leben und Materie.

Hauer war der Überzeugung, dass das Rad der Quinten alles Wissen in einer Figur veranschaulichen könne, und die Entsprechungen nicht allegorisch sondern existentiell seien — genau wie noch Johannes Kepler aufgrund des Oktavgesetzes den Zusammenhang Kosmos, Makro- und Mikrokosmos zum Ansatz seiner astronomischen Entdeckungen gemacht hatte.

So ist die hauersche Musik eine unmittelbare Anknüpfung an die griechische und mittelalterliche Philosophie, die noch bis in die Renaissance anerkannt blieb. Als letzter Synthetiker hat der Spanier Ramon Lull noch einmal das Rad als Ursystem, als Ars Magna, darzustellen versucht. Nach der Hinrichtung von dessen Schüler Giordano Bruno traute sich kein Denker mehr, offiziell dafür einzutreten, obwohl Leibniz die Figur des Rades noch auf sein erstes Buch setzte.

Ich habe nun in den letzten vierzig Jahren nachzuweisen versucht, dass das pythagoräisch-hauersche Grundsystem sehr wohl den Raster der Vernunft veranschaulicht, und durch die Neue Physik zeigt sich bereits eine vielfältige Anwendungsmöglichkeit.

Ohr schafft Zeit, Auge schafft Raum; Raum und Zeit, vereinigt in der Sprache, ermöglichen das Verstehen. So hören wir die Entfaltung der Welt, sehen ihre Vollendungsmöglichkeit, und die Musik ist nicht mehr bloße Anhörung, sondern tritt wieder in ihre Rolle als die siebte freie Kunst der Artes liberales des Frühmittelalters zurück — die Künste waren frei, weil sie keine praktisch-strategische Bedeutung hatten, sondern den Menschen befähigten, die Offenbarung zu verstehen.

Hauer sandte viele seiner Kompositionen an österreichische Ministerien — da würden sie prompt verloren gehen und würden dann Jahre später wieder entdeckt werden. Er bezeichnete Wien in einer Stimmung abgrundtiefer Bosheit als einen Misthaufen, auf dem eben Rosen wuchsen; er sei eine davon. Für ihn war Musik das philosophische Urwissen, genau wie für die Chinesen, denen er im Alter immer ähnlicher wurde, und er erkannte sogar in der Beschreibung der Großen Musik des Lü Bu We seine eigene Technik.

Hauers philosophische Bedeutung steht außer Frage — aber er war auch ein großer Künstler. Manche seiner Zwölftonspiele sind eine unmittelbare Weiterführung von Bach, wie z. B. von dessen Chromatischer Fantasie. So glaube ich, dass auch seine Musik in der großen geistigen Wandlung, die sich im Augenblick als Rückkehr von der Quantität zur Qualität vollzieht, ihre Auferstehung feiern wird.

Arnold Keyserling
Musik ist das Philosophische Urwissen · 1999
Über den Wiener Musiker und Komponisten:
Josef Matthias Hauer
© 1998- Schule des Rades
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