Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die Todesschwelle in Meyrinks erleben

Der Brief

Mein lieber Freund! 25. Juli 1932
Ich habe meinen Sohn gefunden und bin mit ihm vereint. Aber diese Vereinigung ist so ganz, ganz anders, als ich mir früher dachte, dass es sein könnte. Hätte man mir früher gesagt, dass es auf solche Art zustande kommen würde, so wäre ich sehr traurig gewesen in meiner irdischen Blindheit, denn ich hätte gedacht, es sei zu wenig. In Wirklichkeit aber ist es grandios, wenn man es erlebt, dass man meint, es zerspringt einem das Herz. Ich kann es hier auf dem Papier garnicht ordnen und muss schreiben ohne rechten Zusammenhang.
Ich will es so ganz durcheinander schreiben, schon aus dem Grund, damit Dir vor allem im Inneren auftaucht, wie Du auf gleiche oder ähnliche Weise Dich mit Deiner lieben Frau in Verbindung setzen kannst. Ich kann nicht sagen: es wurde mir mitgeteilt mit Worten von drüben, was ich tun solle, sondern es kam über mich wie ein wachwerdendes eigenes Wissen, das ich seit Jahrtausenden besessen habe, aber nur vergessen hatte. Zuerst erwachte ich in der Nacht und mir war, als müsse ich ein Glas Wasser trinken. Ich hatte gar keinen Durst, und doch war es wieder Durst, aber ganz anders, als man sonst Durst spürt. Ich trank ein Glas Wasser, aber ich musste mich dazu zwingen, denn es schmeckte mir garnicht. Dabei wurde mir plötzlich bewusst: mein Sohn hat Durst und ich trinke für ihn! Und dabei wurde mir plötzlich klar, die Verbindung mit ihm wird dadurch eingeleitet, nichts weiter! Die Elemental, die sich von seinem Leichnam auslösen und mit ihm als irdische Bestandteile im Leben verbunden waren, haben Durst und nicht er hat Durst! Am nächsten Morgen wusste ich plötzlich, ich müsse seinen Hut aufsetzen, so wie im Golem der Pernat den anderen Hut aufsetzt. Ich tat es mit der Vorstellung: jetzt bin ich gewissermaßen mein Sohn und er ist ich. Sogleich erfuhr ich den wichtigsten Schlüssel, den man braucht, um mit den Toten in wahre Verbindung zu kommen: das Motiv muss das richtige sein! Unsere menschliche Sehnsucht, die Toten zu finden und mit ihnen beisammen zu sein, ist nicht rein und selbstlos genug, darum wird unser Flehen nicht erhört, denn nur ein Wunsch wird vom Geistigen aus erhört, wenn seine Erfüllung uns wahrhaft geistig nützt. Und dieses Motiv muss also sein: ich muss dem Toten helfen. Nicht er soll mir helfen, ich will und muss ihm helfen. Aber wie soll ich ihm helfen, fragte ich mich verzweifelt, ich weiß doch nicht, wie ich es machen soll. Das brauchst du nicht zu wissen, war die Antwort: dein bloßer, heißer Wunsch zu helfen genügt: er hat ja deine Hilfe garnicht nötig, aber doch sollst du ein Helfenwollender ihm solche Gedanken schicken, andere Gedanken kommen garnicht bis zu ihm hin. Und von da an habe ich nichts mehr anderes gedacht und getan. Das Andere ging alles von selbst. Da kam plötzlich eine heiße Eingebung: bete mit aller Inbrunst zur Allmutter Isis, der ägyptischen Göttermutter, von der es heißt, sie achtet weder irdische noch himmlische Gesetze, sie sieht nicht Recht und nicht Unrecht.
Mit ihrer Liebe zerbricht sie jedes starre Gesetz, jedes Karma und alles. Und da habe ich das Gesicht nach Ägypten gewendet, innerlich geschrien: Allmutter Isis, tu ein Wunder, ein unbegreifliches Wunder für meinen Sohn und meine Frau und meine Tochter, die Schwester meines Sohnes! Ich will nicht wissen, wie dieses Wunder sein wird und wenn ich dadurch zerschmettert werden sollte, es ist mir gleich, nur tu ein Wunder! Und das Wunder hat auch bald darauf eingesetzt, es ist noch lange nicht zu Ende, es geht immer weiter. Eine solche Flut von ungeheurem Wissen und Erkenntnis ist mit einemmal über mich herein gebrochen, dass ich mich selbst gegen gestern nicht wiedererkenne. Es ist, als sei mein gestriger Mensch gestorben und ein neuer Mensch auferstanden. Die Trauer um meinen Sohn ist spurlos fort. Wenn ich mit einer Handbewegung alles ungeschehen machen könnte, den Sturz beim Skilaufen und alles, ich täte es nicht, eher würde ich meine Hand im Feuer verbrennen. Ein ungeheures Glücksgefühl hat sich meiner bemächtigt. Ein Glücksgefühl, von dem ich früher nichts geahnt habe, dass es so etwas überhaupt geben könnte. Die Sache ist so, im Leben auf der Erde ist man garnicht vereint mit einem Menschen, den man liebt! Es ist, als ob zwei Flaschen einander nahe gegenüberstünden, die eine mit roter Flüssigkeit gefüllt, die andere, sagen wir, mit blauer. Diese beiden Flüssigkeiten können sich nie vereinigen, denn immer stehen hindernd die Glaswände der Flaschen dazwischen. Erst durch den Tod können sich die beiden Flüssigkeiten vereinigen und werden dann eine einzige Farbe — in diesem Falle des Beispiels, (das natürlich ein schlechtes Beispiel ist) würde aus blau + rot violett.
Diese Einswerdung braucht garnicht in meinem Falle eine immerwährende zu sein und ich möchte es auch garnicht, denn das Gefühl: mein Sohn ist drüben und ich bin hier, aber wenn die Sehnsucht kommt sind wir sofort ein einziges Wesen, ist viel beseligender.
Ich kann Dir nicht mit Worten beschreiben, wie beglückend dieses alles ist, ich wünsche Dir nur von ganzem Herzen, dass Du ein Gleiches erleben mögest. Wenn man die leeren Worte hört, dann meint man, ach das ist viel zu wenig.
Wenn man es aber erlebt, dann sieht man, wie blind, taub und stumm man vorher war. Aber auch die Außenwelt scheint sich bei mir zu verwandeln: mir ist, als sähe ich sie plötzlich ganz neu. Jedes Blatt, jeder Baum und jedes Tier ist mir neu. Mir ist, als sei ich selber plötzlich frisch und jung wie ein Kind und sähe mit den Augen eines fröhlichen Kindes die Natur. Man vergisst eben im Verlauf der Jahre, wie man als Kind alles gesehen hat und wie man sich gefreut hat, zu spielen und zu jubeln. Ich bin ganz erstaunt wie alles das aus Kinderjahren wiedergekehrt ist. Ich vergaß noch zu sagen, als ich anfing, den Hut meines Sohnes aufzusetzen — gewissermaßen um einen magnetischen Kontakt herzustellen — stellte ich mir auch immer vor, wenn ich gegessen habe oder getrunken oder geraucht: er — mein Sohn — isst und trinkt jetzt mit meinem Mund, ich leihe ihm meinen Mund und meine Augen und meinen Körper usw.
Da kam es manchmal höchst merkwürdigerweise vor, dass ich plötzlich Appetit nach Getränken oder Speisen bekam, die ich selber garnicht mag. Ich erfuhr dann, dass mein Sohn die im Leben sehr gern gehabt hatte. Seltsam ist auch: in der Nacht vom 12. Juli, in der Nacht, als mein Sohn sich tötete, verließen mich mit einemmal die gräßlichen Schmerzen zwischen den Schultern, die mich bis dahin länger als einen Monat fast ununterbrochen gefoltert hatten, und ich war am Morgen erwacht als fast gesunder Mensch! Als mein Sohn noch in der Klinik lag, litt er schrecklich an den gleichen Schmerzen an derselben Stelle. Damals fasste ich ihn an der Hand und konzentrierte mich, sie ihm wegzunehmen; gleich darauf war er frei von den Schmerzen und ich hatte sie statt dessen.
Später als er tot war, und ich die Verbindung mit ihm suchte, wurde mir die Erkenntnis: dieses Einswerden mit ihm ist ein ähnlicher Prozess wie bei einem sogenannten Transfigurationsmedium, nur viel besser. So wie sich das Transfigurationsmedium sogar vorübergehend körperlich in den Toten verwandelt, ohne sich dessen aber selbst bewusst zu sein und dabei in Trance liegt, so verwandelte ich mich innerlich und wach und bewusst in meinen Sohn und wenn es wieder geschieht, so wird es immer vollkommener werden.
Ich weiß, dass es immer schöner werden wird und in einer Art, die ich mir heute natürlich garnicht vorstellen kann.
Ich meine also, dass Du es mit Deiner Frau ähnlich machen sollst wie ich es mit meinem Sohn gemacht habe. Setze Deine Liebe und Deine Hoffnung auf die Allmutter Isis und sie wird Dir helfen. Deine Frau war die Liebe und Güte selbst auf Erden, also ist sie eine liebe Tochter, der Isis und die Mutter Isis wird Dir und ihrer Tochter auf irgendeine unbegreifliche Weise helfen. Auf unbegreifliche Weise, von der Du Dir gar kein Bild machen sollst, denn die Erfüllung geht weit über das hinaus, was ein Mensch sich ausmalen kann. Vor allem muss Dich der Wunsch bewegen: Du sollst Deiner Frau helfen, auch wenn sie es garnicht braucht. Auf diese Art gehst Du zu ihr hin, nicht etwa räumlich.
Es gibt in Wahrheit gar keinen Raum,und keine Entfernung, sowas ist nur Suggestion und irdische Blindheit. Die Toten sind genau da, wo wir sind, es sind nur Schwingungen, die nicht gleich sind wie wir und deshalb glauben wir, wir seien räumlich getrennt. Wenn die Schwingungen die gleichen werden, dann sind wir vereint.
Bei meiner Tochter, obwohl ich mit ihr über meinen Sohn gar nichts gesprochen hatte, hat sich bereits derselbe Zustand eingestellt wie bei mir. Sie sagte mir gestern abends, ich weiß nicht, was da plötzlich geschehen ist, ich fühle mich mit einemmal so unendlich glücklich, wie nie in meinem Leben. Ich trauere nicht mehr um ihn und bin so froh, dass er tot ist, ich fürchte mich vor mir selber, denn es klingt ja wie gräßliche Gefühlsroheit. Mein Schwiegersohn saß dabei und wurde blass vor Entsetzen, denn er glaubte natürlich, meine Tochter sei wahnsinnig geworden. Ich musste dabei an die Stelle im Golem denken, wo der Rabbi Hillel selig lächelt über den Tod seiner geliebten Frau und an die Stelle im Grünen Gesicht vom Umstellen der Lichter im Lazarus Eidotter.
Ich frage mich nur, wie konnte ich damals, als ich diese beiden Romane schrieb, wissen, dass es sowas gibt? Man muss sich nur immer vor Augen halten: das Leben auf Erden ist wie eine Zuchthausstrafe; statt sich von Herzen zu freuen, wenn einer aus dem Gefängnis herauskommt in die Freiheit, die er schon ganz vergessen hatte, weint man und klagt. Ganz und gar verkehrt ist der Mensch geworden! Das, was ich erlebt habe ist natürlich noch ganz wenig, verglichen mit dem, was noch kommen wird, das weiß ich gewiss. Sei versichert, mein lieber Freund, sofort werde ich Dir schreiben, wenn ich wieder etwas habe, womit ich Dir helfen und beistehen kann.
Ich wünsche Dir aus tiefstem Herzen, Du mögest bald so glücklich sein, wie ich es bin! Bei meiner Frau steht das Wunder noch bevor.
Bis jetzt ist sie zwar ruhig, aber das Große muss erst noch kommen. Ich habe das Gefühl, bei ihr wird es etwas ganz besonderes sein.
Dein Gustav Meyrink
Arnold Keyserling
Die Todesschwelle in Meyrinks erleben · 1969
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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