Schule des Rades

Arnold Keyserling

Evolutionstheorie und Religion

Gespräch Teil 3

F. K.
Eine etwas gespentische Angelegenheit, insofern die Größenordnung, die hundert Milliarden Jahre, nach den neuesten Hochrechnungen der Urknalltheorie tatsächlich den Expansions- und Kontraktionszyklus des Alls bemessen könnte.
A. K.
Alle interdisziplinären Forscher, zu denen auch ich mich rechne, stellen fest, dass, je weiter man zurückgeht, die Erkenntnisse den Ergebnissen der heutigen Naturwissenschaft ähnlicher werden.
F. K.
Je weiter zurück hat natürlich eine Schranke — irgendwann kommt man natürlich in die vorkulturellen Primitivzustände…
A. K.
Davon bin ich nicht ganz überzeugt. Ich arbeite jetzt seit zwei Jahren mit den indianischen Schamanen zusammen, da fällt es mir sehr schwer, von Primitivität zu reden.
F. K.
Auch die Vorkultur ist bereits Urkultur?
A. K.
Ja, und es ist eine sehr große Frage, ob es primitive je gegeben hat.
F. K.
Wenn man es evolutionstheoretisch nimmt: Irgendwann muss ja wohl das vormenschliche Lebewesen primitiver gewesen sein als der Mensch.
A. K.
Es gibt einen Anfang. Aber die Hochkulturen sind von Anfang an da.
F. K.
Vom Anfang an, das könnte auch heißen, der Geist ist plötzlich aufgeflammt — wie man neuerdings annimmt, durch Rückkopplung von Sprach- und Hirnentwicklung. Und dieses erste Aufflammen des menschlichen Geistes zur Urkultur hat in diesem Sinne zu Kulturen von einer Höhe, die möglicherweise später nicht mehr erreicht wurde, geführt. Also von da an Evolution, sondern Devolution?
A. K.
Die Indianer hatten geheime Erkenntnisse von großer Bedeutung. Vor allem hatten sie eine uns unzugängliche Beziehung zwischen Vision und Wirklichkeit. Als die Spanier kamen und alles zerstörten, waren die Schamanen gezwungen, nach Norden zu gehen, also zu den einfachen, damals fast paläolithisch lebenden Leuten, und ihre Lehre in einer ganz einfachen Form darzustellen.
F. K.
Also: die Indianer-Kultur enthält Elemente einer Indianer-Urkultur, einer Welt-Kultur…
A. K.
Die Paläolinguistik stellt fest: Es gibt dreihundert Worte, die auf sechs Ursilben zurückgehen, die sich auf der ganzen Erde finden. Das Interessante ist nun, dass es eine Sprache von dreihundert Worten bei den Indianern gibt, die eine Handsprache ist, so wie die Taubstummensprache, und die können alle Indianer in ganz Süd- und Nordamerika, und die enthält dieses ganze Wissen. Dieses Wissen ist absolut zugänglich und sehr rational verständlich.
F. K.
Das hieße, die europäische Evolutionstheorie irrt. Die Welt entwickelt sich nicht von der Blaualge bis zu Albert Einstein. Der Geist kommt auf einmal — und dann geht’s eigentlich bergab.
A. K.
Die Gegentheorie ist, dass der Mensch die Vision als Ganzes empfangen hat. Also der Punkt Omega ist sozusagen von Anfang an im Punkt Alpha vorgebildet gewesen.
Arnold Keyserling
Evolutionstheorie und Religion · 1999
im Gespräch mit Franz Kreuzer
© 1998- Schule des Rades
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