Schule des Rades

Arnold Keyserling

Rückkehr der Weisheitstradition

Durch Jahrtausende war das Entwicklungsziel des Menschen der Weise — in Asien, Afrika und in allen Naturvölkern.

Der Weise ist nicht nur der Wissende, sondern auch der Tuende, dessen Handeln mit seiner Wahrnehmung, seinen Wünschen, seiner Aufgabe und seiner Berufung übereinstimmt.

Das Ideal des Weisen, des reifen alten Mannes, wurde im Abendland verdrängt durch den Helden, Heiler und Propheten. Prototyp des Helden war Alexander der Große, des Heilers und Erlösers Christus, und des Propheten die vielen Religionsgründer mit einer Offenbarung, zuletzt Mohammed im Islam.

Während dieser Periode des Glaubens und der Nachfolge trat das Wissen und die Vernunft in den Hintergrund. Weisheit als ein Wissen was alles wissbare einschließt, wurde unglaubwürdig. Kant erklärte er müsse als Philosoph das Wissen begrenzen, um dem Glauben Platz zu schaffen — die Vernunft gleichsam als Polizei des Denkens.

Mein Vater, nach dem Studium der Naturwissenschaft und Philosophie, erkannte 1911, dass in der abendländischen Tradition allein eine Antwort nicht gefunden werden könnte. So begab er sich auf eine Weltreise, um möglichst viele Kulturen und Traditionen kennen zu lernen. Er nahm als Motto das Wort Apostel Paulus: der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum.

Kann man Weisheit lehren? Und damit diese Tradition nicht nur wieder beleben, sondern auch in eine soziale Verwirklichung führen?

Zu diesem Behuf gründete er 1919 nach Verlust seiner baltischen Heimat auf Einladung des Großherzogs von Hessen, in Darmstadt die Schule der Weisheit. Wie er in der Gründungsschrift — was uns not tut, was ich will, schrieb: Es gilt den Sinn all dessen zu bestimmen, was dem Leben zum Heil diente, und durch vorläufige Kritik zerstört wurde — den Sinn der Religion, des Mythos, der Ethik, der Wissenschaft, der Wirtschaft und Politik. Durch 10 Jahre lud er die führenden Geister der Nachkriegszeit zu Tagungen ein, wo jeder ein Thema aus seiner weltanschaulichen Perspektive darstellte, damit sich im Zuhörer eine neue Ebene des Gewahrseins bildet, die den Reichtum der möglichen Welterfahrung einschließt.

Er konzentrierte sich auf Weltkulturen, kümmerte sich nicht um die Esoterik und die Naturvölker. Nach seinem Tode bemühte ich mich das Wissen der vorsprachlichen, auf Initiation beruhenden Traditionen und ihre Methodik einzubegreifen, und kam zu einer Weltformel — dem Rad — das ich als Raster einer ganzheitlichen Schau unter Einschluss der modernen Naturwissenschaft und Mathematik artikulierte, und das zur Grundlage meiner Lehrtätigkeit mit immer der gleichen Zielsetzung führte.

Aber dieses Streben stand und steht im Widerspruch zu den Offenbarungsreligionen, und obwohl mir durch Indien und China viele Klärungen zugänglich wurden, suchte ich weiter nach einem Wissen, welches an die Stelle des Glaubens und der Nachfolge persönliche und kollektive Entfaltung zugänglich machen könnte, und damit das sokratische Ideal der Anamnese, des vorgeburtlichen Wissens, und der Maieutik, der Geburtshilfe für das Sein im Wesen ermöglichen würde. 1999/2000 fing ich an mich mit der australischen Überlieferung und der Lebensart der Aborigines zu beschäftigen, und fand damit einen Ansatz, der die bisherigen Theorien transzendieren kann. Ich will es in einigen Thesen vorwegnehmen:

Das Universum ist eine Einheit, die sowohl theoretisch als auch substanziell die gesamte Möglichkeit und Wirklichkeit umfasst.

So ist Gott die Einheit von allem Bestehenden, die man nie vergessen kann. Sobald man bestrebt ist Harmonie zu schaffen und Freundschaft zu allen Wesen, ist man im Einklang mit dem großen Einen. Das große Eine, das Göttliche, ist der absolute Geist, dem alles entstammt. Doch dieser Geist setzt sich nicht direkt in die Verwirklichung um, sondern durch eine Mittelschicht, die in Australien als Traumzeit bezeichnet wird. Was immer besteht, hat in seinem Dreaming sein Wesen und seine Kraft. Jegliche Materie hat ihren Traum, der sich sowohl in einem Bild veranschaulichen lässt als auch in einem Gesang vertonen. Jedes Wesen — jedes Mineral, Pflanze, Tier und jeder Mensch hat seine Song-Line, ebenso jeder Stamm. Um an den Quell der Vitalität zu gelangen, muss man seinen Traum, seine Medizin aus der Traumzeit verstehen und durch spielen.

Ich kenne eine Beschreibung dieser Weltsicht aus der Überlieferung des zypriotischen Heilers Daskalos: er bezeichnet sie als die nopsychische Schicht oder Körperhaftigkeit.

Nur wenn es dem einzelnen gelingt, aus den Elementalen dieser Schicht ein Kunstwerk zu schaffen und damit sein Dasein in einen Stil zu verwandeln, findet er einen Weg, um sein Wesen in einem Werk, einer Aufgabe auszudrücken.

In Australien bezeichnen sich jene die dieses Wissen haben als Gesetzeshüter, die sich vor der Verfolgung durch die Weißen — das letzte mal 1926, eine der grausamsten Episoden der von der Mission und Machtpolitik der Kolonialisten getragen war — wo ganze Stämme ausgerottet wurden, ihnen die Lebensmöglichkeit und Lebensform untersagt wurde. Erst in der Gegenwart beginnt man einzusehen, dass die Australischen Aborigines die älteste Kultur der Menschheit darstellen, und dass wir daher auf ihre Weisheit zurückgreifen müssen, um die Globalisierung wieder auf die existentiellen Notwendigkeiten in der entstehenden regionalistischen Weltkultur wieder zum Träger des Lebens zu machen. Die von Marlo Morgan beschriebenen Stämme nennen sich die wahren Menschen.

Der Schritt vom Tier zum Menschen geschah in Afrika, der Schritt vom naturhaften Verstehen zum künstlerisch kulturellen in Australien vor wahrscheinlich 80000 Jahren.

Als ich begann mich mit dieser Überlieferung zu beschäftigen, erlebte ich einen psychonoetischen Wachtraum, wie ich von einer Gruppe von Ältesten empfangen wurde und um 3 Uhr früh einen englischen Vortrag hielt, wo ich diese Gedanken ausführte, und gleichzeitig verstand, dass ich dorthin müsse, um das Band zwischen der Weltkultur der Wassermannzeit und der technologischen und wirtschaftlichen Globalisierung philosophisch zu klären.

Das Älteste wird der Prototyp einer neuen Weisheit, welche von einer ideologischen Sinngebung des Sinnlosen in ein anschauliches überführen könnte (Theodor Lessing) persönliche Berufung und Aufgabe mit natürlicher und historisch-gemeinschaftlicher Evolution vereint werden könnte.

Schulen der Weisheit
Schule des Rades, Kriterion und Pleroma, Wien (Österreich)
Schule der Weisheit in Florida, USA, Winter Park, in Paris, Neapel und Athen.

Arnold Keyserling
Rückkehr der Weisheitstradition · 2002
© 1998- Schule des Rades
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