Schule des Rades

Arnold Keyserling

Konkretes und abstraktes Denken bei Lévi-Strauss

Doxa und Episteme

Für das abstrakte Denken bleibt die griechische Unterscheidung von Doxa und Episteme, von Meinung und Wissen maßgebend: die Summe des sicher gewussten ist ein kleiner Ausschnitt im weiten Ozean der Rätsel der Wirklichkeit. Ferner befindet sich das abstrakte-Denken in stetem Fluss; es bildet nicht das ruhende Sein der parmenidischen Idealvorstellung, sondern beschreibt das geschichtliche Werden des menschlichen sozialen Gedächtnisses als Grundlage der progressiv-wissenschaftlichen Zivilisation. Die Rolle des konkret-magischen Denkens fällt hierbei an ergänzende philosophische Ideologien wie den Marxismus, der die historische Bewegung selbst im Sinne eines geglaubten Schemas interpretiert, und der Positivismus, der die soziale Basis in der Vereinigung aller aufrichtig Strebenden sieht, im Sinne jener Behauptung des Logikers Charles Sanders Peirce, dass Wahrheit diejenige Meinung ist, welche dazu bestimmt sei, letztendlich von allen Prüfern in Übereinstimmung anerkannt zu werden, wobei die beiden letzten Ideologien im Zuge der technischen Veränderung des Planeten die traditionellen religiösen Weltbilder wie Christentum und Islam, die den totalen Anspruch und die Rolle der magischen Vorstellungen fortgesetzt hatten, in gleicher Weise verdrängen wie einst in Griechenland das logische Denken den mythischen Kosmos der Antike.

Sowohl die kommunistische Planungsgesellschaft als Ausdruck der ersten Richtung als auch die amerikanisch-westliche Konsumgesellschaft sind dem konkreten Denken in zwei Hinsichten unterlegen: erstens befinden sie sich auf der Ebene des dialektischen Bewusstseins im Werden, auf der Seite des scheinbar sicher Gewussten, und die unbewussten Voraussetzungen ihres Denkens und Handelns bleiben außerhalb der Diskussion; die Unterscheidung von Doxa und Episteme schlägt sich nieder im Gegensatz zwischen Wissenden und Unwissenden, Führern und Geführten, so sehr ihre Ideologie das auch ablehnen möchte:

  • im Westen die Herrschaft der Verbände, die den Rest der Bevölkerung manipulieren,
  • und im Osten die Herrschaft der Parteigremien, die die Richtlinien des Handelns festlegen.

Zweitens werden sie weder dem Problem der Erfüllung der Einzelexistenz im traditionell religiösen und philosophischen Sinn, noch dem des Todes gerecht, weil diese beiden eine Einbeziehung des Unbewussten verlangen — der Welt des Traumes und des Schlafes in jene von Wachen und sozialem Gedächtnis, in dem allein die dynamischen Bewegungen ihr Dasein haben. Eine Gleichsetzung dieser beiden Bereiche mit der unverbindlichen Meinung ist trotz aller marxistischen und positivistischen Versuche deswegen nicht möglich, weil unterbewusste und unbewusste Schichten bei ihrer Nichtbeachtung nicht verschwinden, sondern zu bedrohlichen Akteuren aufsteigen, wie uns die jüngste Vergangenheit deutlich gemacht hat.

Der Gegensatz von konkretem und abstraktem Denken ist nun keineswegs neu in der europäischen Geistesgeschichte: er prägte die Hauptauseinandersetzung des Mittelalters, den Universalienstreit.

  • Liegen die Begriffe, die Gattungen oder Universalien der Wirklichkeit zugrunde, wie es im Anschluss an Platon die Realisten forderten, in dem Sinne, das sich nach dem Urbild des Pferdes immer neue Individuen bildeten,
  • oder sind Begriffe nichts Anderes als Abstraktionen von äußeren Tatbeständen, reine Namen, wie es die Nominalisten im Anschluss an die Schule von Megara behaupteten.
  • Die sprachliche Lösung hatte schon Abaelard in seinem Konzeptualismus gebracht: Begriffe sind sowohl Erzeugungsprinzipien im Sinne Platons, sobald sich bleibende Gattungen feststellen lassen, als auch Namen einzelner Gegenstände und Abstraktionen. Aber sie sind auch etwas drittes: sie sind Zeichen, die beide Sphären miteinander verbinden und damit eine eigene Wirklichkeit haben, welche die Ebene von Sinn und Bedeutung konstituiert.
Arnold Keyserling
Konkretes und abstraktes Denken bei Lévi-Strauss · 1969
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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