Schule des Rades

Dago Vlasits

Wissenschaft und Weisheit

Subjektiver Sinn und Naturwissenschaft

Die Sinnfrage hatte nun in den Naturwissenschaften nichts mehr verloren. Die Verdrängung des Subjekts ist die Verdrängung des Sinnes, denn Sinn kann nur einem Subjekt werden. In Anbetracht dessen, dass die Naturwissenschaften und ihre technische Anwendung unseren Alltag bestimmen, die Geisteswissenschaften aber eher ein Dasein im Elfenbeinturm fristen, erscheint die Lage höchst unbefriedigend. Daher finden manche von denen, die nach dem Sinn fragen, dass der von den Griechen eingeschlagene Weg, welcher zur modernen Naturwissenschaft führt, ein Irrweg ist. Andere wiederum nehmen den Sinnverlust achselzuckend hin. Wenn ein Nobelpreisträger wie Steven Weinberg meint: Je mehr wir von der Natur verstehen, um so weniger Sinn ergibt sie, begreift er die Sinnverdrängung fast schon als eine zwangsläufige Funktion der Naturwissenschaften. Zu dieser Auffassung liegt aber kein zwingender Grund vor, ob ich den Sinn sehen will oder nicht, ist eine spontane Entscheidung. Wie werden aber die Dinge und das Geschehen um mich herum sinnvoll? Sie werden sinnvoll, indem ich sie auf mich beziehe. So ist der Mensch des schamanischen Weltbildes in einem Dialog mit der Natur, Geschehnisse in der objektiven Welt werden ihm zum Omen auf seinem persönlichen Weg. Das wissenschaftliche Weltbild ist hingegen nicht so angelegt, dass es dem menschlichen Subjekt Sinn und Orientierung bieten soll. Diese Funktion hat die europäische Wissenschaft in Auseinandersetzung mit der Kirche erklärtermaßen von sich gewiesen.

Wenn aber das Sehen von Sinn bloß eine subjektive Entscheidung voraussetzt, dürfte es wohl egal sein, was die Naturwissenschaftler über die Welt sagen. Viele, die nach Weisheit suchen und den Wissenschaften skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, sind dieser Auffassung. Doch wenn die Naturwissenschaft nicht zur Sinnorientierung beiträgt, man aber trotzdem nach dem Sinn fragt, so bedarf es eines Glaubenssystems, von den Geisteswissenschaften oder Religionen übernommen, eklektisch zusammengeklaubt oder selbst gedichtet. Die beklagte Spaltung wird auf jeden Fall dadurch nicht überwunden und eine ganzheitliche Schau nicht erreicht. Das mag für den Einzelnen noch hingehen. Betrachtet man aber die Sinnfrage nicht nur als Privatangelegenheit, sondern als vitales Bedürfnis, dessen Befriedigung über Gesundheit oder Krankheit der Gesellschaft entscheidet, muss die Diskussion dieser Frage in völlig anderer Weise geführt werden. So dürften etwa öffentliche Institutionen wie die Pädagogik die Behandlung der Sinnfrage nicht privaten religiösen Vereinen allein überlassen. Während in den westlichen Schulsystemen der Begriff der Integration alle pädagogischen Bemühungen beherrscht, tritt hinsichtlich der religiösen Erziehung eine höchst fragwürdige Situation ein. Die Schüler, welche in allen Gegenständen gemeinsam dem Unterricht beiwohnen, werden beim Religionsunterricht, wo es also um den einen Gott, die Ganzheit und den Sinn geht, gemäß ihren Konfessionen voneinander getrennt. Dies wird in einer Selbstverständlichkeit hingenommen und unter dem Etikett des Pluralismus und kultureller Toleranz gesehen, dass man darüber den Schaden, welcher damit angerichtet wird, überhaupt nicht wahrnimmt.

Geglückte Pädagogik und jede echte Bemühung um kulturelle Entfaltung ist nicht zuletzt durch spontane Entstehung von Vielfalt gekennzeichnet, und diese Vielfalt muss auch eines der erklärten Ziele sein, und nicht Gleichschaltung. Doch die Probleme, welche unsere Welt beherrschen, resultieren nicht aus einem Zuviel an Gemeinsamkeit und geistiger Uniformität. Die Welt ist vielmehr zerrissen durch eine Vielfalt einander widersprechender Ismen und Ideologien religiöser und politischer Provenienz, welche ein babylonisches Sprachengewirr ergeben. Gibt es aber eine gemeinsame Sprache? Die Möglichkeit einer universalen Sprache wird heute zumeist als hoffnungsloser Traum verworfen. Wir täten aber gut daran, es mit Poincaré zu halten, der da meint, nicht ob die Welt eine Einheit ist müssen wir herausfinden, sondern in welcher Weise sie es ist.

Ohne dass nun die Frage nach der universellen Sprache einer Entscheidung zugeführt wurde, hat sich aber weltweit ein Konsens mit beispielloser Verbindlichkeit herausgebildet, eben auf dem Gebiet der Naturwissenschaft. Es gibt kein vergleichbares geistiges Unterfangen in der Menschheitsgeschichte, wo mit gleicher Redlichkeit nach einer gemeinsamen Wahrheit gesucht und jede vermeintliche Wahrheit verworfen wird, wenn sie durch neue Ergebnisse in Frage gestellt wird. Aber kann diese Naturwissenschaft, welche das Subjekt ausklammert und die Sinnfrage außerhalb ihres Verantwortungsbereichs sieht, auch etwas zur spirituellen Gemeinsamkeit beitragen? Auch ihre Borniertheit ist ja beispiellos, wenn sie alles Unwissenschaftliche ausschließt, nach dem Motto, dass nicht sein kann, was im Rahmen des jeweils aktuellen Paradigmas nicht sein darf. Doch diese Beschränktheiten, welche in den letzten Jahrzehnten ausreichend kritisiert wurden, kann man nur als Kinderkrankheiten bezeichnen. Mag man die naturwissenschaftliche Methode auch als zu beschränkt kritisieren, so ist es gerade diese Methode, welche ihre eigenen Grenzen erkunden konnte und sich heute anschickt, in einer radikalen Weise eine ganzheitliche Sicht der Welt zu eröffnen.

Dago Vlasits
Wissenschaft und Weisheit · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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