Schule des Rades

Dago Vlasits

Vom Sinn der Zahl - Teil I

Die 4. Funktion

Was ist aber nun psychologisch betrachtet der Zugang zu diesem Erleben, das einem die beseligende Erfahrung beschert, dass die Welt einem wohl will und dass man mit ihr in Einklang ist? Es ist das Wollen als 4. Funktion, von Jung als Intuieren bezeichnet, die neben empfinden, denken und fühlen die Organisation des Großhirns bestimmt. Die digital arbeitende linke Hirnhemisphäre beherbergt das nach außen gerichtete Empfinden der Sinnesdaten, die analoge rechte die inneren Signale des Fühlens. Der hintere Bereich beim Sehzentrum ist als Ort des sprachlichen Ichs zu betrachten, und die leere Zone des Vorderhirns erzeugt die gerichtete Aufmerksamkeit.

Die frühen Forscher waren zutiefst erstaunt, als sie das vordere Hirn als völlig leer von irgendwelchen Funktionen vorfanden. Alle anderen Bereiche des Gehirns veranlassen den Organismus zur Reproduktion von mechanischen Reaktionen, wenn bestimmte Areale von außen angeregt werden. Im Stirnhirn hingegen konnte man herumstochern, soviel man wollte, alles blieb tot und still. Damals meinte man diesen Hirnteil löffelweise entfernen zu können, ohne dem gesunden Funktionieren des Menschen einen Abbruch zu tun. Bis sich bei medizinisch notwendigen Operationen an diesem Hirnteil herausstellte, dass bei Fehlen dieses Areals der Mensch zu einem robotergleichen Monster verkommt.

Empfinden und Denken sind jedem bewusst als Wachen und Reflexion zugänglich, Fühlen und Wollen sind als Traum und Tiefschlaf dem Bewusstsein weitgehend entzogen. Auch wenn die Ursache von Sinneseindrücken draußen liegen mag, ich kann betasten, hinhören oder wegschauen nach eigenem Gutdünken. Ebenso sind zwar die wenigsten Menschen absoluter Herr ihrer Gedanken, doch man kann das Denken bewusst auf einen Gegenstand richten oder nicht. Die Gefühle scheinen aber unserer bewussten Kontrolle kaum zugänglich, ich kann sie weder erzeugen, noch mich ihnen leicht entziehen. Sie reißen mich von innen mit, und zumeist sind die bewegenden Motive etwa für Abneigung und Zuneigung einem selbst nicht verständlich. In all dem schwingt aber bereits das Vierte mit, das Wollen und Wählen. Es ist meine Wahl, ob ich etwas höre oder nicht, oder ob ich mein denkerisches Interesse auf etwas richte, und sogar Gefühle kann ich zumindest bejahen oder verneinen. Dass aber die wenigen bewussten Entscheidungen nur die Spitze eines Eisbergs sind und die meiste Wahl sich gleichsam im Schlaf ohne unser Zutun vollzieht, kann jeder bestätigen. Denn wenn eigentlich jedem Sinnesdatum, jedem Gedanken und jedem Gefühl ein Ja oder Nein, ein Für oder Gegen die jeweilige Erfahrung zugrunde liegt, ist es offensichtlich, dass wir an den meisten dieser Entscheidungen bewusst nicht beteiligt sind. Zu jeder Zeit werden wir von unzähligen Eindrücken sinnlicher, sprachlicher und emotionaler Natur überschüttet, und die wenigsten Menschen werden behaupten, dass sie für all das verantwortlich sind, dass sie sich gleichsam im Ansatz jedes einzelnen Ereignisses für dessen Erleben entschieden haben. Doch gerade das Erreichen einer solchen Autonomie ist das höchste Ziel. Hierin liegt das eigentliche Geheimnis aller Weisheit, der Stein der Weisen, die Tinktur, die alles in Gold verwandelt — das befreite Wollen. Wollen ist nicht persönliche Willkür, sondern vielmehr ein Im-Einklang-Sein mit dem Großen Wollen, welches das All geschehen lässt, weshalb im I Ging das Wollen als das Empfangende bezeichnet wird. Und doch ist es eine persönliche Kraft im Sinne von Don Juan, welcher seinem Schüler Castaneda einen Zuwachs an Kraft zusprach, nachdem sich bestimmte Dinge in der Außenwelt ereigneten, ohne dass dieser bewusst etwas in diese Richtung unternommen hatte. Die Chinesen wiederum sprechen von Chi, einer das gesamte räumlicher Kontinuum erfüllenden Kraft, die Qi-Gong-Meister zu wundergleichen Taten befähigt.

Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil I · 1995
Studienkreis KRITERION
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