Schule des Rades

Dago Vlasits

Zwischen gezweitem Bewusstsein und mystischer Einheit

Logischer und musikischer Sinn

Soweit der Mensch sein Gewahrsein im Ursprung aller Unterscheidung verankert hat, lebt er glückselig im Gewahrsein des Sinnes. Doch fernab von dieser Ursprungsnähe ist er auch ein komplexer Organismus in einer komplex organisierten Welt, weit fortgetrieben von der Einfachheit des Anfangs. In dieser Vielfalt geht der Sinn leicht verloren, man sieht gleichsam den Wald vor lauter Bäumen nicht, ist nicht mehr des einen Sinnes gewahr, der alle Zwecke und Bedeutungen durchdringt. Dieser Sinn ist die Quintessenz aller möglichen Semantiken, die sich auf physikalischer, chemischer, biologischer und soziologischer Ebene ergeben. Nur physikalisch über die Welt nachgedacht könnte man etwa meinen, alles unterliegt dem massiven Zwang einer blinden Mechanik. Auf der chemischen Bedeutungsebene nachgedacht, mag man wiederum wie hypnotisiert auf die Entropie starren, und im Verfall und in der Auflösung aller Verbindung, im Tod die einzige Gewissheit und trostlose Wahrheit sehen. Biologisch wiederum scheint das Leben mitgerissen und bestimmt zu sein durch eine Getriebenheit zum Überleben, allerorten ein Fressen und Gefressenwerden, welches allen höheren Werten höhnt. Und auf der sozialen Ebene erscheint der Einzelne gefangen in einem Netz ihn bedingender Mitmenschen und deren Kommunikations­weisen, von der Familie bis zu Staat und Gesellschaft mit ihren zwangsläufig manipulativen Medien.

Doch der Sinn des Anfangs kann immer wieder angepeilt werden in der Meditation, im Durchstoßen aller peripheren Vielfalt, welche sich in der Zeit entfaltet hat. Um aber den Sinn im zeitlichen Werden, in der phänomenalen Welt, und nicht nur in einer endgültigen mystischen Einung zu erleben, müssen wir uns die unterschiedlichen Weisen der Sinnerfahrungen in der Logik und in der Musik vergegenwärtigen. Zwar gibt es nur einen Sinn, er ist in einem Sonnenaufgang, in einer Blume, in einer Melodie, in einer geglückten Begegnung genauso, wie in einem logisch richtigen Satz. Doch die Logik spricht Seinsurteile, sie kann mir den Sinn eines (des Einen) Seins vermitteln, aber wenn sie die Identität von Sein und Nichtsein, von Fülle und Leere, von Leben und Tod erkennen soll, so stockt sie. Sie kann nicht beiden Polen des Gegensatzes ein Sein zusprechen, eines muss gemäß ihrer Gesetze unwahr oder eine Illusion sein. Als Werdende leben wir aber immer dazwischen, der Tod und die Leere sind nicht weniger wirklich als das Leben und die Fülle. Hier ist der entscheidende Sprung notwendig, der logische Sinn muss sich zum musikalischen wandeln und erweitern, sonst scheitert die Philosophie am Widerspruch, der für die Logik grundsätzlich unüberwindlich ist. Also ist die höchste Sinnerfahrung weniger im Denken als in der Ästhetik angesiedelt, hat weniger mit logischer Richtigkeit als mit musikalischem Zusammenstimmen zu tun.

Das logische Denken kann also mit Widersprüchen nur so umgehen, dass es einen Pol des Widerspruchs durch den anderen ausschließt, musikische Sinnerfassung hingegen ist gleichsam immer ein Verbindung-herstellendes-Springen, das sich über jede Differerenz hinweg vollzieht. Höre ich etwa eine Melodie, so erfahre ich einen Sinn, doch die Töne sind in keiner Weise logisch miteinander verbunden. Zwei verschiedene Töne sind zwei verschiedenen Töne, ihre Differenz ist unumstößlich gegeben. Aber über die Kluft ihres absoluten Unterschiedes spannt sich ein Intervall, der mir im Hören als ein Sinn aufgeht. Unser Trachten geht also auf die Erringung dieses musikisch-mathematischen Sinnes, der imstande ist, auch die Widersprüchlichkeiten der Lebenswirklichkeit zu einen. Nichts anderes meint die heute kaum noch ernstgenommenen Rede der Alten von der Harmonie der Sphären, in welche sich der Mensch einstimmen soll.

Der Sinn also, von dem wir hier sprechen, ist nicht lebendig in einem sinnvollen, und tot in einem sinnlosen Satz, sondern webt und schwebt einend über Dissonaz und Konsonanz. Diesen Sinn müssen wir finden, denn unser Leben ist kein logischer Prozess, sondern eine Aneinanderfügung von Ereignissen. Ihr Zusammenhang ist nicht logisch, sondern den Sinn ihres Zusammenhangs muss ich gleichsam hören. Der entscheidende Sprung ist der Wechsel vom sprachlichen, assoziativen Bewusstsein zum musikischen Erleben bzw. ganzheitlichen Gewahrsein, dessen formale Sprache die Mathematik ist. Mathematik ist somit nicht nur die von Anfang an zu wählende Methode, sondern zugleich das höchste zu verwirklichende Ziel, denn der alldurchdringende Sinn ist nicht als Satz fassbar, sonder nur im Gewahrsein der Zahl erlebbar. Physiologisch bedeutet es den Überstieg vom digitalisierenden Denken der linken Hirnhemisphäre zum ganzheitlichen Gewahrsein des rechten Gehirns, vom brain-mind zu body-mind, wie es ein moderner Lehrer der nordamerikanischen Tradition, Hyemeyohsts Storm bezeichnet.

Der Sinn, um welchen sich alles menschliche Streben nach Weisheit dreht, ist immer der Sinn der Zahl. Dies gilt auch für die Mystik, die sich nicht um Mathematik kümmert. Denn auch wenn die Vertreter der verschiedenen Traditionen sich nicht explizit mathematisch ausdrücken, — die Entzweiung überwindend, erzählen, dichten und singen die Erleuchteten von der großen Einheit, oder schweigen über die Leere der Null.

So ist musikischer Sinn zwar wortlos, aber nicht zahllos. Es spannt sich der erlebte Sinn des Intervalls wie ein Nichts über zwei Töne, doch sind Intervalle über Zahlen zu unterscheiden, denn zwei oder mehrere Töne in Relation zueinander gesetzt gewinnen Zahlenwerte auf einer gemeinsamen, eindeutigen Skala. Es sind die 10 Zahlen der natürlichen Obertonreihe, welche Pythagoras als Anfangsgrund des mathematischen Philosophierens erkannt hat. Sie sind die Chiffren des Sinnes. Dennoch sind Worte nicht bloß Schall und Rauch. Dem Wert und der Bedeutung des sprachlichen Denkens für die Sinnsuche wollen wir uns im nächsten Abschnitt annähern.

Dago Vlasits
Zwischen gezweitem Bewusstsein und mystischer Einheit · 1996
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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