Schule des Rades

Dago Vlasits

Zwischen gezweitem Bewusstsein und mystischer Einheit

Das Denken und die geschichtete Wirklichkeit

Betrachten wir das Singuläre und das Allgemeine, denn so oder unter ähnlichen Begriffen stellt sich dem sprachlichen Denken der ursprüngliche Gegensatz und Widerspruch von Fülle/Leere, Sein/Nicht-Sein dar, bevor der Mensch ihren höheren Zusammenhang in der erleuchteten Gnosis, die immer musikisch-zahlhaft ist, erfasst.

Was das sprachliche Denken auf jeden Fall zu fassen kriegt, ist die Gegenständlichkeit der Welt. Über deren Beschaffenheit kann Übereinstimmung zwischen den Menschen gefunden werden, die Phänomene sind allgemeingültig in der Weise, wie sie die Naturwissenschaft beschreibt. Doch auch zwei wissenschaftlich Ungebildete sind sich sofort darüber einig, dass ein Stein ein Stein ist. Ob aber diese offensichtliche Realität in einem tieferen Sinn dann doch noch als Illusion beurteilt wird oder nicht, ist ein mögliches Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen philosophischen Einstellungen:

Man kann etwa, wie der reine Positivist, nur die gegenständlichen Daten als einzige Realität anerkennen. Doch damit ist noch gar nichts darüber gesagt, wie die Gegenstände in unserem Bewusstsein überhaupt entstehen. Wer hingegen weiterdenkt, die Phänomene durchdringend, und zwar bis an die Grenzen des Denkbaren, dem erschließt sich diesseits und jenseits des Phänomens ein unfassliches, singuläres Numinosum. Jenseits als ein unbegreifliches Ansich-Sein des Dinges, diesseits als ebenso unbegreifliches Subjektsein, welches allem ich denke vorausgeht. Offenbar an den entgegengesetzten Enden des Phänomenalen vorgefunden, sind beide in ihrer Numinosität einander identisch.

Fasse ich aber die Differenz — also etwa als Subjekt und Phänomen oder als Nichts und Etwas — und will sie denkend doch noch einen, so kann ich sie nicht gleichsetzen — Nichts = Etwas (oder Alles) ist keine Gleichung. Sprachliches Denken, das seine Aufmerksamkeit auf einen Ort richtet, findet entweder Etwas oder Nichts, dort kann nicht beides zugleich sein. Ich kann sie nur in eine Relation des Hintereinander setzen, eines wird zum Ersten, das andere zum Zweiten, das Erste die Ursache und den Ursprung des Zweiten bildend. So ist dann die Potentialität des Nichts die Voraussetzung, dass die Aktualität eines Etwas werden kann. Das Nichts als Erstes muss der Ursprung des All als Zweitem sein.

Wir erkennen somit, dass im logischen Denken immer eines auf dem anderen ruht, eines am anderen haftet, bzw. alles aus einem Urprinzip abgeleitet wird, wie es die Vorsokratiker als erste taten. Wer daher durch Denken den Sinn sucht, kann gar nicht anders als zum Monisten oder Pantheisten werden und die große Einheit, das ursprünglich Eine bekennen.

Was erschließt sich also dem gerichteten, logischen Denken, das durch Induktion und Deduktion sukzessive seine Erkenntisse gewinnt, dem Denken, das aus einem Ersten ein Zweites und daraus ein Drittes, etc. ableitet, oder umgekehrt, vom Tausendsten zum darunterliegenden einen Prinzip vorstößt? Ein Universum aus Worten, das im besten Fall auch tatsächlich das reale Universum abbildet. Denn sosehr das Denken auch Gefahr läuft, künstliche Systeme und Wolkenkuckucksheime zu erzeugen, ist es doch auch dazu befähigt, das Sein dieser Welt als einen Schichtenbau zu begreifen, in welchem eine Schicht mit der anderen, ein jeweils unteres mit einem jeweils darüberliegenden Sein logisch-kausal verknüpft ist. Um das Geschichtete und die Geschichte dieses Kosmos, um den Körper dieser Wirklichkeit zu erfassen, muss ich die worthafte Schöpfung in ihrem logischen Zusammenhang erfassen, muss ich die musikische Zahl als zum Wort verdichtet erkennen. Ich kann das Universum nicht verstehen, wenn ich nicht mit begrifflich wie auch faktisch differenzierten Größen wie Elektronen, Atomen, Tieren, Planeten etc. operiere. Aber auch eine esoterische, okkulte Begrifflichkeit, die von Engelshierarchien, Geistern oder abgestuften Energien handelt, folgt dem gleichen Denkmuster.

Denkend den einen Sinn ergründen wollend, komme ich also immer zu einer genetischen Weltsicht, eines ist aus dem anderen, das All aus dem Nichts entstanden. Immer von der Urdifferenz ausgehend, erschließt sich dem Denken ein geschichtetes Universum, so wie beispielsweise das Denken zwischen der befruchteten Urzelle und dem ausgewachsenen Organismus die vermittelnden Stufen und Strukturen der Embryonalentwicklung erkennt.

Dieses geschichtete Universum begreifen zu wollen gehört aber ebenso zur ganzheitlichen Einstimmung auf den Sinn, wie die umfassendere musikische Sinnerfassung, auch wenn hier nun die Vieldeutigkeit des musikischen Sinnes zur Eindeutigkeit der Sprache verengt ist. Tue ich dies aber, erschließt sich auch im Logischen der musikische Sinn, dann treten nämlich die richtig gestellten und gestimmten Gegenstände in meinem inneren Erkenntnisraum in Resonanz mit den ebenso gestellten und gestimmten Gegenständen der Außenwelt.

Diese Differenz von subjektivem Innenraum und objektivem Außenraum bleibt für das Denken immer bestehen, und solange ich in einer solchen Welt lebe, kann ich den digitalen Zusammenhang der linken Hirnhemisphäre, den logischen Sinn, welchen die wirklichen Gegenstände untereinander haben, nicht ignorieren. Missachte ich ihn, dann muss ich vor der Welt fliehen. Will ich aber in der Welt bleiben, kann ich den Großen Sinn, der musikisch ist, nicht ganz erfassen, wenn ich nicht auch den logischen Aufbau dieser Welt integriere, da in diesem Fall innere und äußere Gegenstände nicht übereinstimmen. Realisiere ich aber diese Übereinstimmung, so erfahre ich nichts geringeres als das, was man als Wahrheit versteht, die Übereinstimmung von begrifflicher Vorstellung und ontischer Wirklichkeit.

So erfahre ich also letztlich auch in jeder logischen Wahrheitserkenntnis den musikischen Sinn, denn er geht auf, wenn Innen und Außen, wenn innere und äußere Gegenstände übereinstimmen und somit in Resonanz, in harmonischem Zusammenschwingen sind. Daher ist es eine der zentralen philosophischen Aufgaben, die Stellung des Menschen in diesem logisch geordneten Kosmos zu bestimmen, unseren Platz und unserere Rolle, quasi unseren Text in der Goldenen Kette der Wesen — wie traditionellerweise das geschichtete Universum bezeichnet wird — zu erlernen. Zum Denken, welches also in letzter Konsequenz immer generisch ist, sei an dieser Stelle daher vorläufig ein Abschließendes gesagt: Denken findet seinen vollendeten Einsatz, wenn es die Fleisch- oder Wortwerdung der göttlichen Zahl, die Kosmogonie aus dem Quant, vom Photon bis zum Molekül, von der Galaxie bis zum Mond, vom Kristall bis zum Menschen beschreibt und somit den Ort des Menschen in diesem Kosmos bestimmt.

K o s m o s

Dago Vlasits
Zwischen gezweitem Bewusstsein und mystischer Einheit · 1996
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD