Schule des Rades

Dago Vlasits

Die Atomstruktur – ein Bild menschlicher Ganzheit

Raum und Zahl

Das Atom ist eine arithmetisch und geometrisch gegliederte Gestalt, und neben den Zeitgestalten der Himmelskörper, welche die Astrologie bewusst macht, liefert die Erkenntnis der atomaren Raumgestalt dem Menschen einen weiteren Schlüssel zur Einstimmung auf den Sinn. Wesentlich an der atomistischen Erkenntnis ist nicht die Erkenntnis irgendwelcher Staubkörnchen, sondern die räumliche und zahlenmäßige Erkenntnis der Urgestalt. Mit einer solchen Anerkennung der Zahl als dem grundlegende Wesen der Wirklichkeit sind wir aber scheinbar Pythagoras näher als dem Atomisten Demokrit, doch so fern sind die beiden einander möglicherweise gar nicht. Der Unterschied liegt im wesentlichen darin, dass während Demokrit die Teilchennatur des Stoffes zu entschlüsseln sucht, sich Pythagoras der Wellennatur der Welt zuwendet. Die Wellennatur des Stoffes in den Größenverhältnissen der Mikroebene ist zu jener Zeit natürlich noch nicht zugänglich, Pythagoras erforscht aber das Schwingungsverhalten der Masse in den Größenverhältnissen der Menschenwelt. So erschließen sich ihm durch Untersuchung schwingender Körper wie Saiten und Glocken die Gesetze der Tonwelt, und er erhebt die Mathematik der Musik zum zentralen Erkenntnisgegenstand, welcher den Menschen zu seiner Vollendung und Einstimmung auf den Kosmos führen kann. Denn die rhythmische, harmonische und melodische Gliederung der unsubstantiellen Tonwelt, das Schwingungsverhalten der Massen und deren Resonanzen zeigen deutlich, dass die Zahl selbst das gliedernde, verbindende und gestaltende Prinzip ist, ja dass es außer den Wirkungen dieser Zahlen überhaupt nichts anderes wahrzunehmen und zu erkennen gibt.

Trotzdem nun heute auch die zur Teilchenauffassung komplementäre Wellenauffassung für eine vollständigen Beschreibung der Materie als notwendig gilt, blieb die moderne Physik doch mehr dem demokritischen Erbe verbunden, und sieht nicht die Zahl, sondern das körnige Teilchen als das Urelement. Im folgenden sei aber eine Annäherung an die Zahlennatur des Kosmos vom Atomismus her versucht, und es sei zudem versucht zu entdecken, inwiefern ein solches Zahlenverständnis in der Raumvorstellung des Atomismus implizit immer schon vorhanden war.

Gemäß den antiken Atomisten ist die Kombinatorik der Atome, welche die Erscheinungswelt hervorbringt nur möglich, weil es den leeren Raum zwischen den Atomen gibt, in welchem sich diese kombinatorischen Operationen vollziehen. Anders als Parmenides, der dem Nichts — der Voraussetzung des Werdens, das ja des nicht mehr und des noch nicht bedarf — jegliches Sein abgesprochen hatte, setzten die Atomisten das Nichts als den leeren Raum neben die vollen Atome als ein ebenso ursprünglich Existierendes. Betrachtet man nun dieses reale Nichts des Raumes, so muss man erkennen, dass eigentlich die Möglichkeiten der komplexen Erscheinungswelt in den geometrischen Möglichkeiten des leeren Raumes selbst liegen. Nicht nur die Bewegungsweisen der Atome, auch ihre Gestalten — nämlich die der regelmäßigen und unregelmäßigen Körperchen — spiegeln die im 3D-Raum mögliche Geometrie wieder. Im selben Atemzug werden wir bei der Betrachtung des Raumes aber auch seiner scheinbar paradoxen Natur gewahr: In der erscheinenden Wirklichkeit ist der Raum ein Leeres, ein Nichts, und zugleich ist er der Born aller möglichen Form und Gestalt.

Doch die dreidimensionalen Möglichkeiten der Gestalt und Bewegung für die demokritischen Atome sind allerdings nur ein Aspekt des wirklichen Raumes. Das Volle und das Leere, bei Demokrit die vielen Ichts (den) und das Nichts (uden) scheinen hier noch einfach nebeneinandergestellt, wenngleich das Nichts des Raumes für die vielen Teilchen, für die vielen Ichts die geometrische Bedingung bildet. Das aber Teilchen und Raum in inniger Weise verbunden und verwoben sind — das Teilchen den Raum erfüllend und der Raum das Teilchen gebärend — zeigt erst die moderne Atomphysik. In ihr erfuhren sowohl das antike Konzept der Teilchen als auch das antike Konzept des Raumes eine starke Veränderung. Das ursprünglich Volle, das atomare Teilchen wurde von der Physik als vorwiegend leerer Raum erkannt, der durch innere, noch elementarere Teilchen in einen Kernbereich und sieben Schalen gegliedert ist, und das ursprünglich Leere, das Nichts des Raumes erwies sich als voll von Energie. Denn das räumliche Vakuum wird in der heutigen Physik nicht als leere, dreidimensionale Bühne gesehen, auf welcher die harten Teilchen herumkullern, sondern als ein Potential, welches mit unendlicher Energie erfüllt ist. Diese Potentialität wird dauernd zur aktualen Wirklichkeit, indem aus dem Raum die realen Teilchen geboren werden.

Dago Vlasits
Die Atomstruktur – ein Bild menschlicher Ganzheit · 1998
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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