Schule des Rades

Dago Vlasits

Die Atomstruktur – ein Bild menschlicher Ganzheit

Ganzheit

Von den mikrokosmischen Konstanten ist das Atom insofern ein Markstein unseres Weges, als es die erste zusammengesetzte und zugleich stabile Gestalt im Mikrokosmos bildet. Somit ist es eine Ganzheit, wobei wir als eine Ganzheit etwas verstehen wollen, was quantitativ nicht geteilt werden kann, ohne dass es zugleich auch seine Qualität einbüßt. Teile ich etwa ein Kilo Zucker, so besitzen die beiden Hälften immer noch die Qualität Zucker. Doch so wie etwa ein Planet nicht geteilt werden kann, ohne dass er zerstört würde, so kann man ein Atom nicht teilen. Zerteile ich etwa ein Uranatom (U 92), das schwerste der 92 natürlichen Elemente, so erhalte ich nicht zwei kleinere Uranatome, sonder zwei völlig verschiedene Atomarten, etwa Gold (Au 79) und das silbrige Aluminium (Al 13), oder — in einer anderen Teilung — Silber (Ag 47) und das rosenrote Rhodium (Rh 45).

Dass eine Ganzheit das ist, was nicht teilbar ist, versteht sich eigentlich von selbst, diese Einsicht ist so mysteriös wie die Einsicht, dass Autos oder Bäume, die ich zersäge, aufhören Autos und Bäume zu sein. Doch sosehr ich Atome so wie Autos und Bäume in gleicher Weise als unteilbare Ganzheiten erkennen muss, sind doch bezüglich ihres Verhältnisses zur Ganzheit wesentliche Unterschiede vorhanden. Zersäge ich etwa einen Baum, so kann durchaus aus einem seiner Stücke, das erst einmal kein Baum mehr ist, ein neuer Baum erwachsen. Denn der Baum ist nicht nur eine Ganzheit, sondern jeder Teil, jede Zelle in ihm hat ein Streben zu und eine Erinnerung an die ursprüngliche Ganzheit, welches aus den Ressourcen der Umgebung einen neuen, ganzen Baum erschaffen kann. Die Teile eines Autos jedoch setzen sich nicht von selbst zu einem Auto zusammen, der Schaffenswille eines Konstrukteurs muss hinzutreten, damit seine funktionale Ganzheit entsteht.

Wenn also das Streben zu einer ganzheitlichen Gestalt bedeutet, dass aus einer disparaten Mannigfaltigkeit eine übergeordnete Einheit entsteht, die in der Zeit überdauert, so ist in der kosmischen Evolution unmittelbar nach dem Urknall durch das Ausfrieren der Atome aus der Ursuppe der sub-atomaren Teilchen dieses Streben zum erstenmal zur Vollendung gelangt. Unteilbar und daher ganz sind zwar auch Quarks und Leptonen, bzw. Protonen, Neutronen und Elektronen, doch sie fügen sich gleichsam automatisch zu etwas anderem, komplexerem, zum Atom, das ewig unveränderlich seine Gestalt aufrechterhalten kann. Im Mikrokosmos ist das Atom die erste integrierte Ganzheit und vollständige Gestalt, alle vier für unsere Materie relevanten Fermionenarten kommen in ihm zur Wirksamkeit — u-Quarks, d-Quarks, Elektronen und Neutrinos — und ebenso alle Bosonenarten der 4 Wechselwirkungen — Gravitonen, Photonen, intermediäre Vektorbosonen und Gluonen.

Dass die Kenntnis des Atoms Ausgangspunkt einer elementaren Weisheitslehre sein kann, wird erst durch die moderne Physik einsichtig. Die innere Struktur des Atoms und das Periodische System der Elemente, welche die modernen Atomphysik als Vollendung des atomistischen Denkenansatzes erkannt hat, zeigt uns Urbildliches von der menschlichen Erkenntnis- und Wahrnehmungsweise.

Dago Vlasits
Die Atomstruktur – ein Bild menschlicher Ganzheit · 1998
Studienkreis KRITERION
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