Schule des Rades

Dago Vlasits

Physik und Hyperphysik

Theorie für Alles oder Alles nur Theorie?

Der amerikanische Wissenschaftsjournalist John Horgan vertritt in seinem Buch Die Grenzen des Wissens die Auffassung, dass die physikalische Grundlagenforschung im ausgehenden 20. Jahrhundert an ihr Ende gelangt ist. So wie es in der Literatur keinen Dante, Goethe oder Shakespeare mehr geben wird, so wird es in der Physik keinen Galilei, Newton oder Einstein mehr geben, und der große Traum der heutigen Wissenschaft, die endgültige Antwort in Form einer Theorie für Alles zu finden, bleibt für ihn gleich aus mehren Gründen unerfüllbar: Zum einen wird die Öffentlichkeit immer weniger bereit sein, die immer kostspieliger werdende Grundlagenforschung zu unterstützen, zum anderen könnte es sich vielleicht herausstellen, dass unser Auffassungsvermögen einfach nicht ausreicht, um die Natur wirklich zu verstehen. Vor allem aber ist er der Überzeugung, dass die Physik in eine postempirische Phase getreten ist, und damit aufhört, Naturwissenschaft zu sein. Horgan meint, dass sie durch ihre eigenen Erfolge zugrunde geht, denn sie hat mit der Quantenphysik und der Relativitätstheorie die Grenzen des empirisch Beobachtbaren erreicht. Alles was heute an weiteren theoretischen Vorstößen gewagt wird, verlässt endgültig den Boden empirischer Realität, ist Spekulation und Theologie. Diese neuen Theorien bezeichnet er als ironische Wissenschaft, denn eine Naturwissenschaft, die Bericht geben will über etwas, das empirisch nicht erfassbar ist, kann ihre Aussagen wohl nicht wirklich ernst meinen.

Abgesehen davon, dass Horgan jene Theoretiker, die auf solch dünnem Eis, ja auf dem Wasser wandeln, und dennoch meinen sie würden Physik wie einst Newton oder Einstein treiben, als naive Theologen bespöttelt, hat er durchaus Verständnis für die heroischen Versuche, die Theorie weiter voranzutreiben. Denn was soll ein junges Talent mit dem Potential eines Einstein denn tun, wenn es merkt, dass die großen Brocken deren man habhaft werden kann, schon längst von den Großen der Vergangenheit geschnappt wurden? Aber nichts was diese von Horgan als stark bezeichneten Wissenschaftler an Supertheorien formulieren, dürfe einen größeren Anspruch auf Wahrheit erheben als es ein literarischer Text tun darf.
Ist also an dem Punkt, an dem die Physik das Reich des empirisch Erfassbaren vollständig ausgelotet hat und erkennen muss, das die Ursachen für die Beschaffenheit dieser empirischen Welt innerhalb des Empirischen nicht zu finden sind, nur mehr haltlose Spekulation möglich? Dann kann und muss man getrost die Suche nach diesen Ursachen einstellen, und das Ende der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung einläuten, wie es Horgan tut. Wer sich aber anschickt, die scheinbar uneinsehbare black box, in welcher unsere Wirklichkeit wurzelt, zu öffnen, und dabei nicht nur auf Grund einer mystischen Intuition glaubend bekennen und dichterisch besingen will, was sich in diesem Bereich jenseits der Reichweite unserer Teleskope und Teilchendetektoren befindet, sondern ein wahres Wissen erreichen und formulieren will, muss sich voll und ganz der Mathematik anvertrauen.
Die Mathematik spielt natürlich auch im Rahmen der bisherigen Physik eine entscheidende Rolle, doch hier gab es bislang ein gleichberechtigtes Zusammenspiel zwischen Beobachtung und Experiment auf der einen, und mathematischer Theorienbildung auf der anderen Seite. Mal preschte die Theorie mit Voraussagen vor, um bald danach durch Experimente bestätigt oder falsifiziert zu werden, mal beobachteten Physiker neue Fakten in ihren Experimenten, die erst im Nachhinein durch neue, mathematisch konsistente Theorien verstehbar wurden. Dieses Zusammenspiel scheint sich zusehends zu entkoppeln, denn die neuen Theorien arbeiten mit Größen, die in der empirischen Wirklichkeit prinzipiell nicht beobachtbar sind. Einem mathematischen Objekt wie dem punktartige Elektron in der Theorie des Elektromagnetismus entspricht tatsächlich ein reales Ding, das dem theoretischen Teilchen zumindest sehr ähnlich ist. Die postempirischen Theorien behandeln aber mathematische Objekte, die unmittelbar kein reales Gegenstück besitzen — die Strings und die sechs verborgenen Dimensionen der Superstringtheorie haben keine direkte Entsprechung in unserem Raum der Realität. Wir wären schlecht beraten, deswegen das Ganze zum Unsinn zu erklären, aber vielleicht sollte man eine solche Forschung tatsächlich nicht mehr als Physik bezeichnen, sondern etwa als Hyperphysik.

In den empirischen Wissenschaften wird Mathematik gemeinhin als symbolische Repräsentation von real seienden Dingen verstanden. Als menschliche Konstruktion ist sie daher immer später als die realen Dinge über die sie konstruiert wurde, und so ist es nur naheliegend, das Mathematische als eine der Realität aufoktruierte, vom Menschen zum Zwecke der ökonomischsten Erfassung eben dieser Realität erfundene und zurechtgebogene Struktur einzuschätzen. Die Mathematik kann dabei höchstens von Glück reden, dass sie so gut auf die Wirklichkeit passt. Demgegenüber gibt es eine Naturauffassung, in welcher der Mathematik keine bloß beschreibende und erklärende, sondern eine erschaffende Rolle zugesprochen wird. Diese pythagoräische Auffassung über die Natur des Kosmos wurde von Heisenberg und Pauli geteilt, und heutzutage bekennt sich etwa Roger Penrose zum sogenannten Platonismus. Die meisten Forscher teilen aber Einsteins Urteil, dass Mathematik und Empirie niemals völlig übereinstimmen, und dass mathematische Modelle der Wirklichkeit immer nur Annäherungen an die Realität wären. Dabei wird natürlich stillschweigen die empirische Wirklichkeit als die vollständige und eigentliche Realität angesehen, welche auch die Ursachen aller Wirkungen enthält.
Doch der Umstand, dass heute ein Fortschritt auf dem Gebiet der physikalischen Grundlagenforschung nur mehr im Rahmen einer durch die Mathematik geleiteten, spekulativen Theorie möglich ist, kann zumindest als ein starkes Indiz dafür gewertet werden, dass Mathematik nicht bloß eine annäherungsweise Beschreibung, sondern eigentlich die verursachende Wurzel unserer Wirklichkeit ist. Schließlich hatte auch Einstein eingeräumt, dass zwar grundsätzlich jenen Theorien der Vorzug zu geben ist, welche der empirischen Anschauung am nächsten kommen, doch dass bei der Schaffung der großen, alles vereinheitlichenden Theorie dieser Grundsatz aufgegeben werden muss.
Wie sehen nun die empirischen Grenzen der neuen Kosmologie und der am anderen Ende der Größenskala angesiedelten neuen Teilchenphysik aus? Was finden bzw. vermuten Kosmologen und Teilchenphysiker oberhalb des Größtmöglichen und unterhalb des Kleinstmöglichen? Die empirischen Grenzen sind die Lichtgeschwindigkeit und die Quantengröße, ersteres wird in der neuen Kosmologie überschritten, letzteres in der neuen Teilchenphysik. Auf Grund neuester Beobachtungen, die ein beschleunigt expandierendes Universum nahelegen, vermutet die neue Kosmologie das Vorhandensein eines unendlichen Superraums mit überlichtschneller Inflation, in welchen unser endliches, maximal mit Lichtgeschwindigkeit expandierendes Universum eingebettet ist, und die neue Teilchenphysik postuliert eindimensionale Strings in einer zehndimensionalen Welt unterhalb der Planckschen Größenskala. Nichts aber was schneller ist als Licht oder kleiner als das Quant kann jemals beobachtet werden. Es existiert einfach nicht in unserer Welt. Für die neuen Teilchenphysiker und Kosmologen bleibt aber unsere beobachtbare Welt unverständlich, wenn nicht diese tieferen Gründe jenseits der empirischen Grenze von c und ℎ einbezogen werden — unabhängig davon, ob nun speziell die Theorie vom inflationären Universum oder die Superstringtheorie sich als richtig erweisen, oder in Zukunft ein völlig anderen Ansatz gefunden wird.

Dago Vlasits
Physik und Hyperphysik · 1999
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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