Schule des Rades

Dago Vlasits

Physik und Hyperphysik

Was können wir vom Ganzen wissen?

Jede Zeit und jede Kultur hat ihre eigene Erklärung von der Entstehung der Welt, und heute ist an die Stelle der alten mythischen und proto-wissenschaftlichen Kosmogonien die Urknalltheorie und die Beschreibungen einer Evolution auf mikro-, makro- und mesokosmischer Ebene getreten. Allerdings erscheint in einer naturwissenschaftlichen Sichtweise das Universum immer als eine Sache, und nicht als eine lebendige Wesenheit, wie etwa in den anthropomorphen Bilder der Schöpfungsmythen. Im mythischen Denken ist die Ganzheit immer von göttlicher Wesenheit, während das göttliche Wesen im naturwissenschaftlichen Denken ein letztes mal eine tragende Rolle in Newtons Tagen gespielt hat, nämlich als Lückenbüsser. In Newtons Weltkonzept oblag es Gott — nachdem er die Welt geschaffen hatte — hin und wieder die mechanische Uhr unseres Sonnensystems richtigzustellen, welches aber ansonsten ohne seine Gegenwart in irgendeinem seiner Teile auskam. Bessere Berechnungsmethoden brachten Gott auch um diesen Part eines Platzhalters für unbekannte Variablen in unausgereiften mathematischen Termen.
Allerdings gibt es bis heute noch keinen Term bzw. keine Theorie, welche das ganze Universum als Wissen umgreift. So ist bis heute keine Ursache bekannt, die die Werte der Naturkonstanten wie Lichtgeschwindigkeit, Gravitation, die elektrische Feinstrukturkonstante oder die Teilchenmassen festgelegt hat. Gott dafür verantwortlich zu machen, bedeutet für einen Naturwissenschaftler natürlich, an dieser Stelle die naturwissenschaftliche Forschung und Erklärung aufzugeben. Doch die heute gesuchte Theorie für Alles sollte auch die Randbedingungen und Naturkonstanten erklären können.
Sicher ist auf jeden Fall, dass wir vom Universum als Ganzem grundsätzlich nicht in gleicher Weise wissen können, wie von seinen Teilen, etwa von einem Atom oder einem Galaxienhaufen. Seine Ränder in Raum und Zeit entziehen sich unserer Beobachtung und bis heute auch unserem Verstehen. Wie der Rand des Universums beschaffen ist, und ob es denn überhaupt einen Rand hat, das sind Fragen, die heute die Physiker im Rahmen der Bemühung um eine endgültige Theorie für Alles eifrig diskutieren. Mehrere theoretische Ansätze konkurrieren miteinander, aber auch die Frage, ob eine solche Theorie überhaupt möglich ist, wird thematisiert.
Lässt sich vielleicht nicht einmal Letzteres entscheiden, ob also ein Wissen auch über das Ganze, und nicht nur über Teile grundsätzlich möglich ist, geschweige denn, welche von mehreren möglichen Theorien über das Ganze die richtige ist? Rufen wir uns in Erinnerung, was die Physik mit einer TOE (Theory Of Everything) eigentlich meint.
Mit einer Theorie für Alles wird nicht Allwissenheit angestrebt, sondern die endgültige Summe von Gesetzen, die das Geschehen in der Wirklichkeit verstehbar macht. Und zwar verstehbar im Prinzipiellen, nicht im Einzelnen, denn Verstehbarkeit bedeutet nicht grundsätzlich Voraussehbarkeit und Kalkulierbarkeit. Das Unerwartete wird keine Theorie jemals ausschließen können.
Wir können den deterministischen Aufbau eines Prozesses oder einer Struktur erkennen, doch die Werte für die Impulse etwa, die in einem Prozess wirksam sind, sind uns nicht mit absoluter Genauigkeit zugänglich. Dass also die Anfangswerte eines Systems — also seine Vergangenheit und somit aber auch seine Zukunft — real nicht zu erkennen sind, wurde vor allem durch die Chaostheorie deutlich, obwohl sie durchaus mit einem Objektverständnis der klassischen Physik operiert. Und ebenso hat die Quantentheorie gezeigt, dass sich die genauen physikalische Werte für Ort und Impuls eines Teilchens nicht nur wegen ihrer Winzigkeit unseren Meßgeräten entziehen, sondern dass den Quantenobjekten eine prinzipielle Unschärfe anhaftet; sie sind einfach nicht eindeutig definierbar und festgelegt.

Mit dieser wichtigen Einschränkung, dass jede legitime Theorie (vom Ganzen) nur die Gesetze, aber nicht das Spontane — oder das Nichtkalkulierbare — erfassen kann, wenden wir uns der Theorie vom Ganzen auf dem Boden der Physik zu.
Was die Sucher nach dem heiligen Gral der Physik eigentlich verstehen wollen, ist schnell in zwei Fragen zusammengefasst: Warum haben die von uns beobachteten Teilchen und Kräfte die Beschaffenheit, die sie eben haben, und warum erscheint uns das Universum so, als ob es vor etwa 12 Milliarden Jahren in einem Urknall entstanden ist? Beide Fragen verschmelzen zu einem Thema, spezielle Bereiche der Teilchenphysik und der Kosmologie sind heute dem gleichen Objekt zugewandt, nämlich einem, das winzig klein ist, aber dennoch quantitativ unser ganzes Universum enthält.

Tatsächlich aber können wir niemals ein Universum wie unseres im Experiment reproduzieren und können niemals aus dem Universum heraustreten und seine Eigenschaften von außen anschauen. Ist es dann nicht hoffnungslos, das Ganze verstehen zu wollen? Nicht wenn man annehmen darf, dass sich die Totalität aller grundlegenden Eigenschaften des Universums, die sich an sich nur einem Blick von Außen auf das Ganze erschließen, dass sich diese Eigenschaften als innere Eigenschaften zeigen. In der Geometrie kennen wir einen solchen Fall, dass sich eben das Höhere und Äußere im Niedrigeren und Inneren zeigt. Die Rede ist von dem — lösbaren — Problem, wie und ob ein Wesen einer bestimmten Dimensionalität erkennen kann, ob noch höhere Dimensionen in seiner Welt wirksam sind.
So könnte etwa ein zweidimensionales Wesen, welches in der Oberfläche einer riesigen Kugel lebt und seine Welt für eine Ebene hält, erkennen, dass seine zwei Dimensionen in eine nächsthöhere Dimension gekrümmt sind, auch wenn es sich seine Welt niemals als eine Kugelfläche vorstellen wird können. Diese Erkenntnis, die das Augenscheinliche übersteigt, ist möglich, wenn das Wesen ein Dreieck konstruiert, das groß genug ist, um Abweichungen von der Winkelsumme 180° festzustellen. Wenn es dann solche Abweichungen festgestellt hat, weiß es, dass es noch eine weitere Dimension gibt. Dennoch muss das Wesen nicht unbedingt zum Bild der Kugel greifen, um zu verstehen was in seiner Welt vor sich geht. Es kann — und muss ja eigentlich — bei der Vorstellung der vertrauten, flachen Ebene bleiben, nur mit dem Unterschied, dass in dieser Ebene größer werdende Dreiecke zusehends ihre Winkelsumme verändern, bzw. die Seiten des Dreiecks eine Krümmung erfahren. Zerren etwa drei Bewohner einer Kugelfläche einen Gummiring gleichzeitig in drei verschiedene Richtungen, werden sie beim Wachsen des Dreiecks auch das Größerwerden der drei Winkel beobachten. Sie werden dieses Phänomen dann als eine Kraft deuten, die in ihrem zweidimensionalen Raum wirksam ist.

Wenn ein Wesen auf einer stark gekrümmten Fläche, also einer kleiner Kugel lebt, kennt es diese Kraft natürlich schon längst, und hat schon längst die Vorstellung, dass es in einer Welt mit zwei Dimensionen und einer Kraft lebt. Das Wesen wird es aber vielleicht reizen zu verstehen, warum die Dimensionen und die Kraft zwei so grundverschiedene Dinge sind. Wenn es ihm dann gelingt, mit Hilfe einer dritten Dimension auch die Kraft als Dimension zu begreifen, dann hat es tatsächlich eine Vereinfachung gefunden, mag es sich die dritte Dimension auch nur behelfsmäßig in einer niedrigerdimensionalen Analogie vorstellen können, etwa mit Hilfe einer eindimensionalen Linie, die in die zweite Dimension gekrümmt ist. Das Wesen hat eine Vereinfachung und Vereinheitlichung gefunden, da es nicht mehr mit zwei Substanzen — Dimension und Kraft — operieren muss, sondern nur mehr mit einer, mit geometrischen Dimensionen.

Natürlich ist es auch denkbar, dass das Wesen auf einer so gewaltig großen Kugel lebt, dass es praktisch völlig außerstande ist, jemals so große Dreiecke zu konstruieren, die eine von 180° abweichende Winkelsumme zeigen. Doch wenn das Wesen völlig außerstande ist, die Wirksamkeit der höheren Dimension in seiner Welt festzustellen, dann ist die Annahme, dass es auf einer Ebene lebt, zumindest genauso gut wie die, dass es auf einer Kugel lebt, deren Krümmung sich aber ihm niemals in seiner Wirklichkeit zeigen wird. Das bedeutet aber zugleich, dass ein Unerkennbares ein Nichtexistentes ist, denn was soll eine Existenz, die sich mir in keiner Weise zeigt denn anderes sein, als ein Nichts. Vernünftiger ist es dann, von einer Ebene auszugehen. Denn eine Kugeloberfläche zu postulieren, die aber keine Wirksamkeit zeigt, ist ein unnötiger theoretischer Ballast.

Mit letzteren Überlegungen zu Flachland sei darauf aufmerksam gemacht, dass es nur dann sinnvoll ist, äußere Eigenschaften anzunehmen, wenn diese in irgendeiner indirekten Weise auch als innere Eigenschaften oder Wirkungen existieren. Eigentlich also können wir immer nur innere Eigenschaften unseres Universums erkennen. Hypothetische äußere Eigenschaften anzunehmen — etwa mehr Dimensionen, als in der eigenen Welt vorstellbar sind — hat nur dann einen Sinn, wenn ich die zusätzlichen Dimensionen bzw. deren Wirkung mit inneren Eigenschaften der mir erfahrbaren Welt identifizieren und gleichsetzen kann, ich sie also längst als Kräfte kenne. In der Regel wird man diesen waghalsigen Schritt, nämlich mehr Dimensionen anzunehmen, als vorstellbar sind, nur dann tun, wenn man innere, bekannte Eigenschaften mit den unvorstellbaren Dimensionen nicht nur identifizieren, sondern die bekannten Eigenschaften mit Hilfe der neuen Dimensionen besser und einfacher verstehen kann.

Wir leben im Unterschied zu dem oben erwähnten zweidimensionalen Wesen in einer Welt mit vier Dimensionen, die — zumindest von den Spezialisten — ganz gut verstanden wird. Tatsächlich haben wir eine Theorie, nämlich Einsteins Relativitätstheorie, in welcher eine bekannte Kraft, die Schwerkraft auf geometrische Eigenschaften des Raumes zurückgeführt wurde; ähnlich wie es das oben zitierte zweidimensionale Wesen mit der linienkrümmenden Kraft gemacht hat. Doch mit der vierdimensionalen Raumzeit haben wir noch nicht alles verstanden. In diesen vier Dimensionen gibt es noch drei weitere Kräfte und mehrere Arten von Massepartikeln. Auch diese verstehen die Physiker zwar ganz gut, doch es ist nicht klar, wie sie in die vier Dimensionen hineingekommen sind bzw. wie sie mit diesen vier zusammenhängen. Sie scheinen von einer anderen Beschaffenheit als die Dimensionen, ja ihr Gegenteil zu sein. Sie sind insofern von gegenteiliger Natur, als Dimension ja Ausdehnung bedeutet, und an Ausdehnungen kennen wir nur Höhe, Länge, Breite und Zeit. Mit diesen Konzepten lässt sich aber nicht das ganze Wesen der Partikel und Kräfte erfassen.
Wohl verwenden wir unsere vier bekannten Dimensionen, um eine gewisse Anschauung und ein gewisses Verständnis von Partikeln und Kräften zu gewinnen, wenn wir etwa Partikel als dreidimensionale Kugeln mit einem Drehimpuls veranschaulichen, oder Kraft als ein dreidimensionales Feld, in welchem kontinuierlich eine Wirkung von einem Ort zum nächsten übertragen wird. Das Wesen der Partikel und Kräfte ist aber damit noch nicht vollständig getroffen. Denn das reale Partikel ist keine glatte, homogene Kugel, sondern hat einen pulsierenden, unscharfen Rand. Das Atom etwa bestehen hauptsächlich aus leerem Raum, und das volumenartige Bild das wir uns von ihm machen sind Wolken von Wahrscheinlichkeiten, deren Dichte uns angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir Teilmassen bzw. Teilladungen des Atoms an einem Ort finden können, bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit sie sich an einem Ort realisieren werden.
Und die Felder, deren sich die Quantenphysik bedient um Übertragung von Kraftwirkungen im Raum zu veranschaulichen, sind nicht kontinuierlich gewobene Netze, die das dreidimensionale Volumen regelmäßig erfüllen. Vielmehr zeigen diese Felder unerwartete, unberechenbare Löcher, an denen Wirkungsquanten spontan erzeugt und vernichtet werden können.
Dass Partikel und Kraft das Gegenteil von Dimension ist, zeigt sich vor allem in der Mathematik der modernen Teilchenphysik. Denn hier sind alle Partikel prinzipiell ausdehnungslose Punkte, im Unterschied zu Höhe, Länge, Breite und Zeit, die ausgedehnt sind. Das theoretische Konzept der punktartigen Teilchen hat sich als äußerst erfogreich erwiesen, wovon nicht zuletzt die gesamte moderne Technologie ein beredetes Zeugnis abgibt. Darauf, dass die Anerkennung von unausgedehnten Punktteilchen in letzter Konsequenz aber zu Ungereimtheiten und Schwierigkeiten führt, wie etwa, dass das punktartig gedachte Elektron aus logischen Gründen eigentlich eine unendliche Ladungen besitzen müsste, was absurd ist und nicht mit der Realität übereinstimmt, darauf wollen wir hier nicht weiter eingehen. Es ist aber einer der Gründe, warum die heutige Teilchenphysik nach mehr als vier Dimensionen greift.

Es gibt also vier ausgedehnte Dimensionen einerseits, und andererseits unausgedehnte Punkte, die in den vier Dimensionen ein bestimmtes gesetzmäßiges Verhalten zeigen. So oder so ähnlich lässt sich die Weltsicht der Teilchenphysik auf Grund des in den Siebzigerjahren vollendeten Standardmodells sehr verkürzt darstellen. Offen sind hier aber eben die Fragen, wie die Partikel mit den Dimensionen zusammenhängen, warum die Partikel die vorfindlichen Eigenschaften haben, wie die zum Teil höchst unterschiedlichen Teilchen miteinander zusammenhängen, ob sie vielleicht von einem gemeinsamen Urteilchen abstammen, warum es so und so viele von einer Art gibt, warum gerade diese endliche Anzahl von Teilchenarten, und nicht mehr oder weniger…?
Die neue Teilchenphysik ab dem Standardmodell macht den gewagten Schritt, Dimensionen jenseits unserer vierdimensionalen Vorstellungskraft einzuführen, weil sie hofft, obige Fragen damit beantworten zu können. Damit will sie nicht etwas verstehen und darstellen, was nicht sowieso schon in unserer bekannten Welt vorhanden ist. Sie will das sowieso Bekannte — eben die Teilchen und Kräfte — aber nicht mehr nur als innere Eigenschaften darstellen, sondern mit Hilfe äußerer Eigenschaften bzw. höherer, in unserer Welt nicht vorhandener Dimensionen. Zu diesem Schritt sieht sich die Physik genötigt, nicht weil man die inneren Eigenschaften unseres Universums nicht zur genüge kennen würde, sondern weil diese inneren Eigenschaften in ihrer vierdimensionalen Darstellung unzusammenhängend dastehen, kein geschlossenes Bild liefern. So wie das zweidimensionale Wesen nach einer dritten Dimension greift, um den Unterschied von Dimension und Kraft aufzuheben, so greifen die heutigen Physiker nach sechs weiteren Dimensionen, um den Unterschied zwischen der 4D-Raumzeit und den darin befindlichen Kräften und Partikeln aufzuheben. Erst mit 10 Dimensionen lassen sich die Raumzeit und die Partikel — und die Kräfte, die quantenmechanisch ebenfalls als Partikel verstanden werden — als von gleicher Substanz, nämlich als geometrische Dimensionen begreifen. Denn während sich die beiden Pfeiler der heutigen Physik, die Relativitätstheorie und die Quantentheorie — also die Theorie von der 4D-Raumzeit und der Schwerkraft und die Theorie von den Partikeln — bis heute unversöhnlich gegenüberstehen, so offenbaren sie einen innigen Zusammenhang in einem zehndimensionalen Weltmodell, das der Superstringtheorie zugrunde liegt.
Alle bisherigen Versuche, die Einsteinsche Theorie der Schwerkraft, die auf der kontinuierlichen Geometrie des Raumes beruht, mit der Theorie der diskreten Quantenwirkungen zu vereinen, sind gescheitert. Die zehndimensionale Stringtheorie der Quantenpartikel kommt hingegen ohne Schwerkraft überhaupt nicht aus, bzw. die Grundschwingung eines Superstrings ist die quantisierte Schwerkraft, also das sogenannte Graviton. Höhere Schwingungen sind dann die anderen — onen und — inos in unserer bekannten Welt — Protonen, Neutrinos, Gluonen etc. Sie sind die Ober- und Untertöne, die Differenz- und Summationstöne, die in unserer 4D-Welt erklingen, erzeugt von eindimensionalen Saiten, die in 10 Dimensionen schwingen.

Dago Vlasits
Physik und Hyperphysik · 1999
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD