Schule des Rades

Dago Vlasits

Zur Orientierung in der globalen Kultur

Der Ursprung des All aus dem Nichts

Die Aussage, dass alles aus dem Nichts kommt, kann man als widersprüchlich kritisieren und kann einwenden, dass wenn ich eine solche Widersprüchlichkeit als Wahrheit voraussetze, ich daraus wohl alles ableiten kann, was ich will. Ein solcher Ausgangspunkt ist dann wie ein Zauberhut, aus welchem ich jedes Karnickel ziehen kann. Zugleich muss aber der Kritiker der hermetischen Widersprüchlichkeit einsehen, dass auch die moderne Physik und Kosmologie mit so einer Widersprüchlichkeit zu tun hat. Auch diese sehen sich — zumindest auf den ersten Blick — konfrontiert mit einem Nichts, aus dem Alles kommt. Wenn die relativistische Physik nämlich das expandierende Universum bis zum Urknall zurückverfolgt, landet sie bei einer uneinsehbaren Singularität. Sie stößt bei einer solchen Rückrechnung an einen Punkt, welcher unendliche Dichte und unendliche Energie besitzt. Raum und Zeit sind hier unendlich klein, wodurch diese Kategorien nicht verwendbar sind und die Gesetze der Relativitätstheorie nicht greifen, hier ist das Ende physikalischen Verstehens, denn mit unendlichen Werten kann keine Physik operieren.

Betrachtet man das ganze nicht mit den Augen der Relativitätstheorie, sondern quantenmechanisch, so steht am Anfang eine allererste Quantenfluktuation, ein spontanes Auftauchen eines Etwas aus dem Nichts. Dies ist in der Quantentheorie erlaubt, und das Etwas hat endliche Maße. Es ist das Plancksche Wirkungsquantum, mit der energetischen Größe von 10−27 Energie pro Sekunde. Es kann nicht kürzer dauern als 10-43 Sekunden, und kleiner sein als 10-33 cm. Alles was in diesem Universum in Erscheinung tritt, muss mindestens diese Energie, diese Dauer und diese Ausdehnung besitzen, was eventuell unterhalb ist, tritt eben nicht in Erscheinung. Doch die meisten Quantenmechaniker zogen es bis jetzt vor zu sagen, dass es nichts unterhalb dieser Größe gibt.

Während also die Relativitätstheorie in der Umkehrung der kosmischen Expansion den Weg des Hasen in den Zauberhut zurückverfolgt, in seinem Dunkel nichts mehr ausmachen kann und höchstens so sonderbare Aussagen macht, wie etwa, dass der im Hut auf einen Punkt geschrumpfte Hase unendlich viele Kilo auf die Waage bringt, ist der Befund der Quantentheorie etwas anders. Für sie besteht die ganze Raumzeit gleichsam aus lauter Zauberhüten, aus welchen dauernd Hasen springen. Dabei kann sie exakt angeben, welchen Umfang der Hutrand mindestens haben muss, damit Hasen aus ihm hervorspringen können, eben die Planckschen Maße. Und was den Beginn des Universums betrifft, kennt die Quantentheorie kein Zusammenquetschen des All auf einen unendlich dichten Punkt. Für sie beginnt das All in Raum und Zeit erst ab der planckschen Größe, davor gibt es nichts wovon man reden könnte. Dabei wird das Wirkungsquant als spontan, als aus sich selbst heraus seiend verstanden, denn die Theorie kennt keinen kausalen Mechanismus, welcher das Nichts als Verursacher des Quantums erkennbar werden ließe. Doch auch wenn dieses Nichts kein Gegenstand der Quantentheorie ist — aus diesem Nichts taucht das Quantum auf, scheinbar unvermittelt und zufällig.

So enden bezüglich des Anfangs unseres Universum Relativitätstheorie wie auch Quantentheorie bei einem Nicht-Wissen, bei einem uneinsehbaren Punkt, bei einem Nichts.

Man kann es also drehen und wenden wie man will, irgendwie muss die gesamte Masse und Energie dieses gewaltigen Universums in einem unendlich dichten Punkt bzw. einem Nichts ihren Anfang genommen haben. Alle Forschungen auf diesem Gebiet laufen darauf hinaus, für eine offensichtliche Absurdität eine sinnvolle Antwort zu finden, und welche Formel man hier auch finden wird, sie wird zeigen müssen, wie das All zumindest potentiell in etwas eingefaltet ist, das vordergründig wie ein Nichts erscheint.

Dass alles physikalische Wissen bei einer Singularität oder einem mysteriösen, unergründlichen Nichts enden soll, ist für den Kosmologen Stephen Hawking nicht der Wissenschaft letzter Schluss. Wo herkömmliche Relativitätstheorie und Quantentheorie bei einem undurchdringlichen Nichts eines Punktes oder Vakuums enden, sieht er die Nahtstelle zu einer Art Innenwelt, welche er als imaginäre Zeit bezeichnet, eine Zeit, die keinen Zeitpfeil besitzt. Was in der Wirklichkeit der vierdimensionalen Raumzeit wie ein Nulldimensionales erscheint, ist für Hawking bloß der Übergang zum unsichtbaren Teil und zur Wurzel unserer Wirklichkeit, zu einem imaginären Reich, das mathematisch beschreibbar ist und alle Gesetze der entfalteten, vierdimensionalen Raumzeit bedingt. Die letzte erfassbare Ebene, die Hawking als imaginäre Zeit bezeichnet, ist also für die vierdimensionalen Theorien des Raumkontinuums und der Quantenfelder eigentlich in der nullten Dimension angesiedelt — relativistisch gesprochen innerhalb der Singularität und quantentheoretisch jenseits der Quantenschwelle, bzw. im Vakuum, welches sich bisher einem theoretischen Verständnis entzogen hat.

Ebenso haben sich die Theoretiker der TOE (theory of everything) in den letzten Jahrzehnten entschlossen, den kleinsten Raumbereich, die Plancksche Skala und das was jenseits davon liegt, nicht mehr als strukturlos bzw. als Nichts zu betrachten, sondern als eine eingefaltete Welt, die mehr Dimensionen besitzt als unsere bekannte Raumzeit. Die Avantgarde der heutigen theoretischen Physik geht davon aus, dass es in dieser Größenordnung noch sechs weitere Dimensionen gibt, die noch elementarere Teilchen bergen, als die bis heute bekannten, nämlich die Superstrings. Sie sind eindimensional, also offene oder geschlossene Fäden, und die Schwingungen dieser eindimensionalen Objekte in einem Raum, der durch die heutigen empirischen Methoden nicht erfahrbar, ja eigentlich empirisch überhaupt nicht vorhanden ist, werden als die Ursache der erscheinenden Materie erachtet. Was wir also in unserer vierdimensionalen Welt als Vielfalt der Teilchen beobachten, sind gemäß der Superstringtheorie quasi die Untertöne und Obertöne der schwingenden Strings in einer unsichtbaren Welt, die ursprünglich zehn Dimensionen besitzt.

Dago Vlasits
Zur Orientierung in der globalen Kultur · 2000
Studienkreis KRITERION
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