Schule des Rades

Dago Vlasits

Der neue Name Gottes

Vorwort zu dem gleichnamigen Buch von Arnold Keyserling

Mit dem herrschenden Konsens, dass die Frage nach dem Sinn im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes nicht gestellt und diskutiert werden kann, was für viele gleichbedeutend ist mit der Auffassung, dass es überhaupt keine wahren, also allgemeingültigen Antworten auf diese Frage gibt, mit diesem aufklärerischen Konsens sieht sich heute jeder philosophische und religiöse Denker konfrontiert. Wahrheit im Sinne von Richtigkeit hat im naturwissenschaftlichen Denken seinen Platz, wer aber auf philosophischem Gebiet Wahrheiten verkündet, macht sich verdächtig. Wenn zudem ein Philosoph seine entdeckten Wahrheiten auch noch als eine den Menschen wandelnde Weisheit versteht, bei der Gewinnung dieser Weisheit der Naturwissenschaft eine konstitutive Rolle einräumt und obendrein die transzendente Wirklichkeit als eine sinnliche bestimmt, dann hat er nicht nur das naturwissenschaftliche Lager gegen sich, sondern auch das der Geisteswissenschaftler und der Religiösen. In den Augen dieser Kritiker kann es sich bei einer solchen Philosophie wohl nur um den Rückfall in Esoterik und Hermetik, um unzulässige Grenzüberschreitungen und generalisierenden Dilettantismus handeln, wenn nicht gar um einen totalitären Wahn, welcher den weltanschaulichen Pluralismus und die geistige Toleranz gefährdet. Das Werk von Arnold Keyserling ist mit Anfechtungen dieser Art konfrontiert, und soweit es überhaupt wahrgenommen wird, hat es bislang nur außerhalb der akademischen Welt Anerkennung gefunden. Allerdings steht einer positiven Rezeption seiner Bücher auch die schwierige Lesbarkeit dieser Texte entgegen, was nicht nur auf den Stil, sondern durchaus auch auf die Natur und den Inhalt dieses Denkansatzes zurückzuführen ist. Doch als inspirierter Lehrer und Vortragender begeistert Arnold Keyserling nun seit Jahrzehnten unzählige Menschen durch das lebendige Wort. Tatsächlich ist aber die Essenz seines philosophischen Beitrags nicht so sehr eine abgeschlossene Theorie, sondern stellt sich formal als ein geometrisches Bild dar, als das sogenannte Rad. Als eines der ältesten Symbole der Menschheit, das für Vollendung und Ganzheit der Erkenntnis steht, tauchte es in mehr oder weniger vollständiger Form in den verschiedenen Epochen und Kulturen auf und ist der unbewusste Hintergrund des in der Philosophiegeschichte immer wieder auftauchenden Begriffs der philosophia perennis, der immerwährenden Philosophie.

In seiner Vielschichtigkeit ähnelt das Rad einem Fraktal, ist eindeutig und endlich in seinen geometrischen und arithmetischen Beziehungen, unendlich vieldeutig aber in seiner Anwendung auf die verschiedenen Größenskalen der kosmischen und menschlichen Wirklichkeit. In diesem Symbol ist die universelle Struktur oder Grammatik freigelegt und reflektierbar gemacht, die der Wirkgrund von Wahrnehmung und Wirklichkeit ist, die aber ob ihrer Selbstverständlichkeit und dauernden Gegenwärtigkeit dem Alltagsbewusstsein entzogen ist. Das Rad ist also keine Heilslehre, die Glaube und Bekennertum erfordert, sondern Lernen und Verstehen, wobei dieses Erlernen eigentlich ein Bewusstmachen und Innewerden seiner dauernden Wirksamkeit ist. Denn wir leben dauernd im Rad, und sind durch seine Gesetze bedingt, auch wenn wir es nicht wissen. Erlernt man es aber, dann dient es als Karte auf einem Weg der Weisheit, auf dem wir zum Wirkgrund von Sein und Erkenntnis vorstoßen, den Sinn und die Bedeutung von Mensch und Kosmos erschließen und schöpferisch unser Leben gestalten. Das Rad ist somit einerseits ein Werkzeug zur Erweckung unseres wahren Subjekts, der Leere des Gewahrseins, zeigt unsere Bedingtheiten, um immer wieder zur Freiheit durchzustoßen. Andererseits aber macht es die Komponenten der menschlichen Anlage und Motivation bewusst, ist eine Hilfe für den eigenen Lebensentwurf und beim Finden der einzigartigen Aufgabe. Sie gilt es zu verwirklichen, denn die allgemeine Rolle des Menschen in der Natur wird durch das Rad definiert als die des Mitwirkenden am Werk der Erde, welcher die triebhaften Motivationen mit den geistigen Inspirationen im schöpferischen Tun verbinden soll.

Bei dieser Einstellung bildet der Träger aller Motivation, der sinnliche Körper und mit ihm alle Materie keinen Gegensatz zum Geist, und es ist unter anderem gerade dieses Vermögen, Natur und Geist zu vereinen und ein wirklich holistisches Weltbild zu liefern, was das Rad für unsere Zeit so bedeutsam macht. In einer Zeit, in der Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, aber auch die einzelnen Disziplinen innerhalb der beiden großen Lager allesamt eifersüchtig ihre Grenzen wahren, kann ein solcher Ansatz gar nicht hoch genug geschätzt werden. Denn mittlerweile wird zwar der Dialog zwischen angrenzenden wissenschaftlichen Disziplinen erfolgreich geprobt, von einer Überbrückung der Kluft zwischen Religion und Naturwissenschaft kann aber keine Rede sein. Viele sind der Überzeugung, dass bei einem Annäherungsversuch höchstens ein gegenseitiges Tolerieren erreicht werden kann, dass eine Integration und Vereinigung prinzipiell nicht möglich ist, da Religion und Naturwissenschaft offenbar von zwei verschiedenen Wirklichkeiten reden. Diese doppelte Buchführung ist jedoch nur erträglich, wenn man entweder das spirituelle Bemühen des Menschen sowieso nur als Jagd nach Chimären versteht, oder die Bewertung anders vornimmt, also den Geist über die Materie setzt und etwa die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als irrelevant für das spirituelle Leben erachtet. Ein solches Nebeneinander von zwei inkompatiblen Weltbildern ist jedoch nicht befriedigend, wenn man geneigt ist, Natur und Geist einer einzigen, ursprünglichen Realität zuzurechnen.

Auf welche Weise erfüllt nun das Rad eine Vermittlerfunktion, bzw. inwieweit ist es ein Bild der Ganzheit, das einen Widerspruch zwischen Religion und Naturwissenschaft gar nicht aufkommen lässt? Indem das Rad die Struktur des Bewusstseins, das Organ der Vernunft ist, ist es der unbewusste Generator aller Weltbilder. Alle Ideologien und Religionen lassen sich als besondere Synthesen oder Betonungen von bestimmten Radelementen identifizieren, und das Rad kann deutlich machen, welcher Sinn und welche Werte in dem jeweiligen Weltkonzept hervorgehoben sind. Somit ist es das unbewusste Spiel der Grammatik des Rades hinter allen Konstruktionen, das Wissen hinter dem Wissen, welches die Vielfalt der heute existierenden Ideologien, Religionen und Weltanschauungen bewirkt. Einen physikalischen Ausdruck bemühend, kann man die verschiedenen Weltbilder als angeregte Zustände des Rades verstehen, das Rad selber hingegen als Grundzustand ist. Als solcher zeigt er die Funktionen und Bereiche des menschlichen Bewusstseins genauso, wie sich darin auch das Universum der modernen Naturwissenschaften wiederfinden lässt, mit allen heute bekannten Entitäten des Mikro-, Meso- und Makrokosmos.

In Anbetracht der Komplexität und Fülle des Wissens, das die Menschheit bis heute angehäuft hat, ist es wohl offensichtlich, dass eine derart integrale Schau nur auf Basis des analogen Denkens erreicht werden kann. Zwangsläufig ist dieses Wissen dann generalistisch und nur qualitativ. Denn das analoge Denken reduziert die verschiedensten Bedeutungsebenen auf eine einzige Ebene, die des Sinnes, wodurch erst eine ganzheitliche Schau erreicht wird und das Spezialistenwissen der Naturwissenschaften seine philosophische Relevanz gewinnt. Das Rad ist nun die Systemik des analogen Denkens, welches seinerseits auf der Numerologie beruht. Während das analytisch-digitale Denken schrittweise vorgeht, reduktionistisch ist und aus Elementen Komplexe zusammenbaut, geht das holistisch-analoge Denken von Sinnformen oder — gestalten aus, welche es in den verschiedenen Größenordnungen und Systemen als selbstähnliche Strukturen wiederentdeckt. Diese Sinngestalten sind auf die zehn Zahlen oder Ziffern rückführbar, sie eröffnen die Einfachheit des Sinnes in jeglicher Komplexität und auf jeder Bedeutungsebene, und traditionell wird diese Disziplin, welche die mathematischen Archetypen als Ursprung des Seins und des Sinnes versteht, als Numerologie bezeichnet. Innenwelt als auch Außenwelt lassen sich numerologisch erfassen, und die Trennung in Materie und Geist, welche in der Theorie Anaxagoras als erster vorgenommen hat, erweist sich in dieser Sichtweise als sekundär. Im Rad haben Religion und Naturwissenschaft ihre gemeinsame epistemologische Wurzel, in ihm erscheinen Geist und Materie als integrale Einheit, und wie in der Hermetik wird die Evolution der Materie bis zum Menschen als die werdende Gottheit gesehen. Das Bild des materiellen Universums aber, welches sich durch die Numerologie des Rades ergibt, wird dem Menschen zur entscheidenden Orientierung bei seiner Wesensentwicklung. Doch nicht diese Radkosmologie, welche die menschliche Norm spiegelt, soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein, sondern der erstaunliche Befund, dass uns heute offenbar die Physik das numerologische Denken nahe legt.

Die dem Rad zugrunde liegende Methodik, die als Numerologie, Kabbalistik oder Zahlenmystik heutzutage nicht besonders hoch im Kurs steht, gründet auf der Überzeugung, dass Mathematik die Quelle der Weisheit ist. Was Mathematik eigentlich ist, welches Verhältnis sie zur Wirklichkeit hat, lässt sich nicht durch empirische Fakten oder logische Schlüsse zwingend klären, weshalb man die drei vorherrschenden Richtungen in der Mathematik, den Platonismus, den Formalismus und den Konstruktivismus durchaus als Glaubensrichtungen bezeichnen kann. Ist Mathematik eine eigenständige Realität, die unabhängig vom menschlichen Verstand existiert und entdeckt und erforscht werden kann, wie man einen Kontinent entdeckt und erforscht? Oder ist sie ein formales Spiel, den Gesetzen der Logik unterworfen, und nur dann mit den realen Dingen in Beziehung, wenn die mathematischen Objekte definierenden Axiome so gewählt wurden, dass sie eben reale Dinge und deren Verhalten abbilden? Oder ist Mathematik eine Konstruktion, die wir, ausgehend von empirischen Objekten — und immer entlang der empirischen Objekte konstruierend — handelnd erschaffen?

Gemäß dieser unterschiedlichen Grundeinstellungen der drei Schulen unterscheidet sich auch ihre Einschätzung des Status und der Natur der Zahl. Für den Platonismus sind die Zahlen in einem idealen Himmel angesiedelt, und durch das Zahlhafte an einer sinnlichen Erscheinung schimmert etwas von deren wahren Wesen und Sinn hindurch. Für den Formalismus wiederum ist die Zahl ein ebenso axiomatisch festlegbares Objekt, wie es Punkte, Bierkrüge oder unendliche Mengen sind. Für den Konstruktivismus schließlich, der auch als Intuitionismus bezeichnet wurde, liegt die Zahl in der menschlichen Psychologie begründet. Sie hat ihren Ursprung in der Fähigkeit des Zählens, welches ein Handeln mit den Urintuitionen, den Zahlen ist.

Gewiss hat der numerologische Ansatz des Rades die größte Nähe zur platonischen Einstellung, eine Einstellung, die in der kabbalistischen und hermetischen Tradition weiterwirkte, und im Pythagoräismus seine nächsten, im jungsteinzeitlichen Schamanismus seine fernsten Wurzeln hat. In diesen alten Überlieferungen sind die zehn ersten Zahlen als Namen Gottes, als schöpferische Prinzipien oder als welterschaffende und welterhaltende, transzendente Mächte begriffen worden. Die Numerologie des Rades gleicht dem Platonismus in der Auffassung, dass die Zahlen das hinter den sinnlichen Erscheinungen liegende wahre Sein sind. Doch die sinnlichen Phänomene gelten hier nicht wie in der platonischen Philosophie bloß als Schatten und Abglanz des wahren Seins. Vielmehr wird die phänomenale Welt als die Fülle der möglichen Formen betrachtet, in die das Göttliche eingehen kann, als das göttliche Pleroma, das kosmische Kleid Gottes, welches durch die Zahl gewirkt ist.

Bezüglich der Ähnlichkeiten der Numerologie mit der konstruktivistischen Mathematik ist zu sagen, dass das Zählen nicht wie im Konstruktivismus einfach als eine spezifische Art des menschlichen Handelns verstanden wird, sondern als das Urvermögen des schöpferischen Gewahrseins. Demnach sind die Zahlen die Chiffren des Sinnes, sie sind in aller Wahrnehmung und in aller Erkenntnis. Es sind die zehn Sinngestalten, durch die wir der Wirklichkeit und der Möglichkeit, der inneren und der äußeren Erfahrung, der Wesen und Dinge in Mikro- Makro- und Mesokosmos gewahrwerden, vom Photon über den Menschen bis zur Galaxie. Die Zahlen — in ihrem arithmetischen als auch geometrischen Aspekt — bestimmen jegliche abstrakte Struktur und jegliche natürliche Erscheinung, insofern es immer das zählende Gewahrsein ist, in welchem innere oder äußere Wirklichkeiten erscheinen. Doch wie die Grammatik bei einem Satz, bleibt der zahlhafte Charakter bei einer erfahrenen Farbe, einem erfassten Gedanken oder einem erlebten Gefühl unbewusst.

Wenig Parallelen hat die Radmathematik mit der formalistischen Richtung in der Mathematik, die da meint, Mathematik wäre ein bedeutungsleeres Spiel mit Symbolen, welches nur dann mit der Realität übereinstimmt, wenn entsprechende Axiome festgelegt wurden. Hingegen behandelt die von Keyserling als Arithmosophie bezeichnete Disziplin die offizielle Zahlentheorie — die verschiedenen Zahlenarten und die in ihnen möglichen Rechenoperationen — als den Ursprung der räumlichen und zeitlichen Dimensionen unserer Realität. In der Arithmosophie wird die Analogie zwischen mathematischen, physikalischen und Bewusstseinsdimensionen, also der Zusammenhang der fünf Zahlenarten — natürliche, ganze, rationale, reelle und komplexe Zahlen — einerseits mit dem Schichtenbau des Kosmos, andererseits mit den Stufen des Bewusstseins formal dargestellt.

Das realistische Mathematikverständnis, wie es dem Rad zugrunde liegt, gewinnt heute durch die neuesten Forschungen auf dem Gebiet der theoretischen Physik neue Plausibilität. Vor allem die Superstringtheorie scheint zu zeigen, dass die zehn Zahlen Grund und Ursprung unserer Wirklichkeit sind. Was ist die Superstringtheorie? Sie ist das Ergebnis der Suche nach der letzten großen Vereinheitlichung in der Physik, der Suche nach dem vereinigenden Prinzip von Quantentheorie und Relativitätstheorie, der heilige Gral der heutigen Physiker. Die Theorie, welche die beiden einander widersprechenden Weltauffassungen vereinen kann, wird in populärer Sprache als TOE (theory of everything) bzw. als Weltformel bezeichnet. Bei dem Problem geht es darum, einen äußersten Gegensatz zu überwinden, also zwei einander widersprechende Pole zu einer Ganzheit zu fügen. Es ist das paradoxe Problem, das einende Prinzip für das Ausgedehnte und das Unausgedehnte, für das Diskrete und des Kontinuierliche zu finden. Sie schließen einander aus, und doch erleben und wissen wir beides als Realität. Mit dem String glaubt man nun das eine Urteilchen gefunden zu haben, das den Widerspruch von Quanten- und Relativitätstheorie aufhebt, bzw. aus welchem sich die Vielfalt der bekannten Teilchen in den beiden Klassen der Bosonen und Fermionen ableiten lässt.

Die Ausgangslage bei dem großen Vereinigungswerk sieht folgendermaßen aus: Die Relativitätstheorie geht vom Kontinuum des großen kosmischen Raumes aus, die Quantentheorie von den kleinen diskontinuierlichen Teilchen bzw. Quantenwirkungen, die sich ereignen. Dabei behandelt die Quantentheorie die Teilchenprozesse auf dem Hintergrund einer vorausgesetzten Raumzeit, während die Relativitätstheorie eben diese Raumzeit zum Gegenstand hat. In einem Quantenfeld, wie es der Quantenfeldtheorie zugrunde liegt, ist außerdem die spontane Erzeugung und Vernichtung von Teilchen erlaubt, gleichsam wie magisch tauchen sie auf und verschwinden im Raumzeithintergrund. In einem klassischen Feld, wie dem der Relativitätstheorie ist dies hingegen nicht möglich. Hier kann nichts im Raum auftauchen oder verschwinden, nur Verformungen des Raumes sind erlaubt. Nun sind die drei Teilchentheorien, die Theorien des Elektromagnetismus, der schwachen und der starken Kraft als Quantenfeldtheorien formuliert und auch weitgehend in der GUT (grand unified theory) vereinheitlicht. Doch die vierte Kraft, die Gravitation ist Gegenstand der allgemeinen Relativitätstheorie, die nichts mit Quanten zu tun hat, und sich der Umwandlung in eine Quantenfeldtheorie widersetzt. Versucht man die Gravitationskraft zu quanteln, erfasst sie in der sogenannten Theorie der Quantengravitation also als einen Gravitonenaustausch, wird sie unendlich stark, unendlich viele Gravitonen tauchen auf, was alle Berechnungen zunichte macht.

Die zwei Theorien sind zueinander komplementär, insofern jede von ihnen nur eine Seite des ursprünglichen Gegensatzes beleuchtet, das jeweilige Komplement aber als Mysterium erscheinen lässt: der Relativitätstheorie ist der kleinste, diskontinuierliche, singuläre Raumpunkt ein Rätsel, der Quantentheorie das ungreifbare, kontinuierliche Vakuum, in welchem sich die Quantenwirkungen vollziehen. Aber wenn auch die Singularität des auf das Nichts eines Punktes geschrumpften Universums im Augenblick des Urknalls für die Relativitätstheorie nicht verstehbar ist, muss sie doch konsequenterweise eben diese Singularität als erste Ursache anerkennen (allerdings mit dem Problem, dass dann niemals die Anfangsbedingungen unseres Universums erkennbar sind, und damit die Wissenschaft in einer Sackgasse gelandet ist.) Und wenn es im Konzept der Quantentheorie auch überhaupt keinen Platz für die Vorstellung eines lückenlosen Kontinuums gibt, da hier alles — Raum, Zeit und Energie — quantisiert ist, muss sie doch auch ein Kontinuum, ein bis heute noch nicht verstandenes Vakuum der potentiellen Energie als Hintergrund aller Felder und Quantenaktivitäten annehmen. (Hier taucht dann aber als Konsequenz theoretischer Überlegungen das Problem auf, dass diese Energie unendlich oder zumindest myriadenfach größer sein müsste — bzw. in irgendeiner unbekannten Weise auch ist — als die Energiemenge, die wir in unserem Universum tatsächlich beobachten.)

Da diese Urenergie jenseits der Quantenschwelle existiert, ist es für die Physik und das rationale Bewusstsein ein Leeres, ein Nichts. Doch bloß im Alltagsbetrieb der Physik können das unbegreifliche Vakuum und die Absurdität der Singularität als bedeutungslos übersehen werden, nicht aber bei der Suche nach der Einheit der vier Kräfte und der Suche nach dem Ursprung unseres Universums. Genauso wenig ist dieses Nichts philosophisch bedeutungslos. Vielmehr müssen wir es als das formlose Feld hinter allen geformten Feldern verstehen, als die unendliche Energie, der alle endlichen Quantenwirkungen entspringen. Damit haben wir natürlich nicht die letzte Vereinheitlichung durchgeführt oder sonst einen wissenschaftlichen Beitrag zur Physik geleistet. An dieser Stelle soll es uns aber auch nicht nur um Physik gehen, sondern darum, diese Urenergie als letzte Realität des Menschen anzuerkennen. Dieses letzte Vakuum ist der keimhafte Urgrund aller sich manifestierenden Energie, im Taoismus als Chi bezeichnet. Der Schritt, dies als des Menschen tiefsten Grund anzuerkennen, und sich dauernd in diesem verwurzelt zu wissen und aus diesem heraus sein Leben zu gestalten, hat nichts mit Wissenschaft und Physik im engeren Sinn zu tun, ist aber die Voraussetzung eines sinnvollen und kreativen Lebens.

Durch die Gleichsetzung des schöpferischen Ursprungs mit physikalischen Begriffen wie Vakuum oder Singularität haben wir aber letztlich doch nicht mehr erreicht, als eine neue Metapher für das, wovon jeder Gläubige sowieso ausgeht, haben also bloß das Bekenntnis zum göttlichen Urgrund erneuert. Doch wenn wir diesen Weg weitergehen, werden wir erkennen, dass die neue Physik mehr als zeitgemäße Metaphern für das Bekenntnis zum schöpferischen Urgrund bereit hält. Auf diesem Weg zeigt der Kosmos Symmetrien und Strukturen, deren Verständnis dem Menschen die Natur seines eigenen Wesens eröffnet. So stehen etwa die siebenstufige Atomstruktur mit dem Energieleib der sieben Chakren und den epistemologischen Urbegriffen empfinden, denken, fühlen, wollen, Körper, Seele und Geist in analoger Beziehung. Es ist der Archetypus der Zahl, welcher in den unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Atom, Chakrenleib und Epistemologie den einen, alles durchdringenden Sinn trägt , und letztlich diese verschiedenen Erscheinungen unserer Realität erschafft. Wie gesagt, ein solch realistisches Mathematikverständnis wird heute in einer neuen Weise durch die Superstringtheorie bestätigt, die der Numerologie somit gleichsam eine naturwissenschaftliche Begründung liefert. Der Entwicklung dieser Theorie, welche seit rund drei Jahrzehnten andauert, aber eigentlich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann, wollen wir uns kurz zuwenden. Doch sei vorausgeschickt, dass die Superstringtheorie noch nicht vollendet ist, und auch noch nicht als die einzig mögliche Lösung gilt, wenngleich sie der vielversprechendste Kandidat unter den konkurrierenden Theorien ist.

Bei dem erfolgreichen Versuch, die beiden damals bekannten Kräfte, den Elektromagnetismus und die Gravitation zu vereinen, hat Theodor Kaluza, ein Zeitgenosse Einsteins, in der Theorie eine fünfte Dimension eingeführt, unter der Annahme, dass diese wirklich, aber wegen ihrer winzigen Größe unserer Erfahrung nicht zugänglich ist. Dieses erweiterte Dimensionskonzept geriet jedoch bald in Vergessenheit, als die schwache und die starke Kernkraft entdeckt wurden, die sich auch in fünf Dimensionen nicht mit dem Elektromagnetismus und der Gravitation vereinen lassen. Heute, da man vor der Unvereinbarkeit von Quantentheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie steht, greift man wieder auf Kaluzas Konzept einer Erweiterung der Dimensionszahl zurück. Im Rahmen der Superstringtheorie stellte sich nun heraus, dass der sich als notwendig erwiesene Schritt über die vier bekannten Dimensionen hinaus nicht bloß ein Schritt in eine fünfte, sondern ein Schritt in insgesamt sechs weitere Dimensionen ist. Notwendig ist diese zehndimensionale Geometrie deswegen, da sich nur auf einer solchen Basis die Eigenschaften der bekannten Teilchen in unserer vierdimensionalen Welt erklären lassen. Unsere fundamentale Realität ist gemäß der Superstringtheorie zehndimensional, vier Dimensionen haben sich beim Urknall entfaltet, sechs blieben eingerollt. In diesen befinden sich die Strings, eindimensionale Objekte mit einem komplexen Schwingungsvermögen. Die Schwingungen, die sie veranstalten, gleichsam die Töne, die sie erzeugen, sind die Teilchen, die in den vier entfalteten Dimensionen erscheinen und somit unsere phänomenale Welt konstituieren.

Anstatt von nulldimensionalen Punktteilchen wie im Standardmodell, geht die Stringtheorie von eindimensionalen Linien- bzw. Kreisteilchen aus. Der Punkt im Standardmodell ist einfach die Mitte des vorgestellten Teilchens bzw. seiner Ladungsfelder, die sich sphärisch um diesen Mittelpunkt anlagern. Nur diese Teilchenfelder behandelt die Standard-Teilchenphysik, der Teilchenmittelpunkt aber gilt ihr als eine Abstraktion, ja er bereitet bei den Berechnungen eigentlich große Schwierigkeiten, weil er unendliche Werte erzeugt. So müssten etwa die Ladungsfelder eigentlich unendlich sein, da die Kräfte zum Zentrum hin stärker werden, und wo der Abstand zur Mitte null ist, ist also das Feld unendlich stark. Doch so etwas gibt es nicht in unserer Wirklichkeit, hier gibt es nur Kräfte mit endlicher Stärke. Daher wurde ein mathematisches Verfahren entwickelt, die Renormierung, welche mit den störenden Unendlichkeiten fertig wird und das Punktteilchenmodell funktionstüchtig erhält; und das in den Siebzigerjahren vollendete Standardmodell liefert somit Voraussagen, die mit den Teilchenexperimenten übereinstimmen. Worauf aber die Teilchenvielfalt zurückzuführen ist, warum es die zwei Klassen der Fermionen und Bosonen, also Materieteilchen und Kraftteilchen gibt, warum sie diese und jene Ladungsstärken, Massen und andere besondere Eigenschaften haben, kann dieses Modell nicht erklären.

Der Wechsel vom unendlich kleinen Punkt zum String löste nun nicht nur das Problem mit den Unendlichkeiten — denn diese treten bei einem endlichen, eindimensionalen Objekt nicht auf — sondern löste auch das Rätsel der Teilcheneigenschaften. Der nulldimensionale Punkt im Standardmodell ist ein Ärgernis und droht die Beschreibung der vierdimensionalen Realität zu vereiteln. Er taucht quasi nur zwangsläufig auf, als abstrakter Mittelpunkt eines Feldes, der dann aber durch Renormierung unschädlich gemacht werden muss. Der kreisförmige String und sein Schwingungsverhalten hingegen liefert die Erklärung für die Beschaffenheit unserer Welt, liefert die Ursache und den Grund, warum die Teilchen in drei Raum- und einer Zeitdimension so erscheinen, wie sie eben erscheinen. Und das Problem der Vereinigung von Quantentheorie und Gravitationstheorie verschwindet, da sie von Anfang an eine Einheit bilden: Das Graviton, das Boson der Schwerkraft wird durch die einfachste Schwingung, die Grundschwingung eines Strings erzeugt. Und komplexere Schwingungsformen erzeugen die fermionischen Quarks und Leptonen des Atoms und die anderen Bosonen, wie die Photonen des Elektromagnetismus, die Gluonen der starken Kernkraft und die Vektor-Bosonen der schwachen Kernkraft.

Wo sind aber die Strings und die verborgenen Dimensionen? Sie liegen in einer Welt, die man durch die sogenannte Planck-Skala misst. Dies ist jene Größenordnung, die in der Quantentheorie die Grenze zur Wirklichkeit bildet, denn jeder Raum, jede Zeit und jede Energie, die kleiner ist als das Wirkungsquant — dessen Größe die kleinste Maßeinheit der Planck-Skala bildet — ist keine Wirklichkeit in unserer Raumzeit. In der Physik des 20. Jahrhunderts ist also die Quantengröße jener Bereich, wo sich überhaupt erst einmal Wirklichkeit zeigt, bzw. der Bereich, wo die Konturen der Wirklichkeit zu verschwimmen beginnen, die Unschärfe von Ort und Impuls. Doch in der Physik des 21. Jahrhunderts scheint sich auf dieser Skala ein Tor zu einer anderen Welt zu öffnen, die unausgedehnt bzw. eingefaltet auf Planckgröße an eben dieser Schwelle liegt. Was der bisherigen Physik wie ein Nichts erschien, birgt die keimhaften Anfangsgründe unserer Wirklichkeit. Es ist nicht das Nichts des unendlich kleinen Punktes, sondern die Welt der ersten und fundamentalen Einheit unseres Universums, die Welt des Wirkungsquants mit der Größe von 10-32 cm und 10-42 sec. Das Plancksche Wirkungsquant ist die Zahl Eins des Universums, es bestimmt die typische Größe eines Strings, welcher in zehn Dimensionen existiert. Seine vierdimensionale Erscheinungsweise ist uns als Teilchen in unserer Welt gegeben, doch was diese Erscheinung bewirkt, liegt in den eingefalteten sechs Dimensionen.

Wenn wir jedoch danach fragen, woraus denn nun Strings bestehen, können uns selbst die besten Stringtheoretiker keine physikalisch sinnvolle Antwort darauf geben. Es ist sowenig zu beantworten, wie die Frage, woraus denn eine Linie oder ein Punkt besteht. Letztere wurden bislang überhaupt als unwirklich, als Abstraktionen betrachtet. Jetzt aber sollen sie das Fundament der Wirklichkeit sein. Tatsächlich sind es nicht nur Linien, sondern auch Punkte, Flächen und weitere topologische Größen, insgesamt zehn 0- bis 9-dimensionale Mannigfaltigkeiten, die — für uns scheinbar nur der Abstraktion zugänglich — die Grundfesten der Wirklichkeit bilden. Diese null bis neundimensionalen Mannigfaltigkeiten nennt man Membranen, und die M-Theorie, eine Verallgemeinerung der insgesamt fünf möglichen Stringtheorien, behandelt dann so Dinge wie die Entstehung einer one-brane aus einer two-brane, also das Zusammenrollen einer zweidimensionalen Membrane zu einem eindimensionalen String. Und wenn wir fragen, was denn jenseits der Strings liegt, bzw. was denn noch kleiner ist, so müssen wir einsehen, dass es für den Verstand ein Nichts ist — immer noch dieses Nichts, in welchem alle Singularitäten wurzeln, aus dem alle Quanten entspringen, das Nichts, welches das (unmögliche) Zentrum eines Teilchens im Standardmodell ist, oder die Mitte einer Stringschlaufe. So wie die Substanz der Strings, wird auch dieses Nichts niemals von einer naturwissenschaftlichen Theorie erfasst und beschrieben werden können. Jeder Physiker wird vielmehr danach trachten, eine geschlossene Theorie zu formulieren, die ohne dem singulären Nichts auskommt. Existenziell ist dieses Nichts aber jedem Menschen zugänglich, es ist die Leere des Gewahrseins.

Mögen sich nun das Nichts und der Stoff, aus dem die Strings bestehen, dem Verstand entziehen, aus numerologischer Sicht lässt sich sagen, dass die Strings bzw. die Membranen der (wahrscheinlich) fundamentalste physikalische Ausdruck der schöpferischen Zahl ist, wenngleich diese Physik weit jenseits unseres phänomenologischen Horizonts liegt. Die Stringtheorie wirft somit ein neues Licht auf die Numerologie, indem sie als tiefsten Grund der Materie eigentlich mathematische Größen findet, und somit den pythagoräischen Ansatz erhärtet. Mit der Stringtheorie scheint jener Entwicklungsschritt in der Naturerkenntnis erreicht zu sein, bei dem sich zeigt, dass der Stoff, aus dem Materie besteht, derselbe Stoff ist, aus dem unser Gewahrsein besteht — nämlich aus Zahlen. Ist somit eine physikalische TOE auch eine Theorie des Bewusstseins oder Gewahrseins? Diese Möglichkeit erfüllt eine physikalische Theorie genauso wenig, wie eine Weisheitslehre ein Ersatz für Physik sein kann. Und insofern Physik eine Naturwissenschaft ist, wird sie immer bestrebt sein, eine objektive Welt zu beschreiben, und nicht das Subjekt des menschlichen Bewusstseins. Will aber eine TOE, eine Theorie für Alles ihrem Namen gerecht werden, so müsste sie sehr wohl irgendwann auch eine Theorie des Bewusstseins umfassen. Bis die Physik eine solche formuliert — wenn überhaupt — wird wohl noch einige Zeit vergehen. Aber immerhin bewegen sich die heutigen physikalischen Theorien auf eine Grenze zu, wo es die intellektuelle Redlichkeit zwingender als bisher gebieten wird, einen unfassbaren Hintergrund anzuerkennen, in dem nicht nur die Materie, sondern auch unser Gewahrsein wurzelt. Damit mündet die Physik offensichtlich in die Philosophie. An dieser Stelle muss sie aber nicht einfach der Philosophie das Sagen überlassen, sondern verpflichtet sie dazu, an den physikalischen Erkenntnissen anzuknüpfen. Dies ist möglich, aber nur dann möglich, wenn man numerologisch denkt, ansonsten ist der Einwand kaum zu überwinden, dass die Ebene der Strings skalenmäßig und bedeutungsmäßig sehr, sehr weit von der menschlichen Ebene entfernt ist. Schließlich ist ja ein String der mathematische Wirkgrund eines einfachen Teilchens wie etwa dem Elektron, der Mensch aber ein komplexes biologisches und geistiges Wesen. String und Mensch haben offenbar weniger miteinander gemein, als ein Sandkorn mit einem Wolkenkratzer. Allerdings wird im Rahmen der Stringtheorie spekuliert, dass die schwingenden Strings nicht nur die Felder der Mikropartikel erklären können, sondern dass durchaus auch Stringschwingungen möglich sein könnten, die niederenergetische aber langreichweitige Kräfte erzeugen, die die Naturwissenschaft bis heute nicht kennt, die aber ihre Wirksamkeit auch auf der chemischen, der biologischen und auf noch höheren Ebenen entfalten. Falls dies zutrifft, wäre damit eine noch viel weitergehende Bestätigung des numerologischen Ansatzes gegeben.

Die Bestätigung des numerologischen Denkens durch die Entwicklungen auf dem Gebiet der String-Physik, die einen zehnfältigen Anfangsgrund der Wirklichkeit voraussetzt, ist philosophisch betrachtet von höchster Bedeutung. Denn diese Entwicklungen führen uns vor Augen, dass es nicht allein durch epistemologische Überlegungen gefundene Gründe sind, die uns auffordern, numerologisch zu denken, um die Einheit von Geist und Natur zu erkennen, sondern dass uns dies die Natur — obwohl durch die objektivierende Wissenschaft untersucht — selber nahe legt. Haben wir aber einmal die universelle Rolle der Zahl eingesehen, ist auch die Legitimität des Rades als Anfangsgrund allen Philosophierens leicht einzusehen, und das Rad verstehbar als die Darstellung der Wirkweisen der Zahl im Bereich der phänomenalen Wirklichkeit. Diese Systemik der 10 Zahlen auf der sinnlichen, sprachlichen, psychologischen und spirituellen Ebene ist der Gegenstand des vorliegenden Buches. Es ist zu hoffen, dass sein Erscheinen dieses neue Verständnis der Einheit von Natur und Geist, und das Verständnis des Rades als den Weg der Weisheit einem breiten Publikum näherbringt.

Dago Vlasits
Der neue Name Gottes · 2001
Vorwort zu dem gleichnamigen Buch von Arnold Keyserling
© 1998- Schule des Rades
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