Schule des Rades

Dago Vlasits

Vom Sinn der Zahl - Teil II

Die Attraktoren des Chaos

In der Leere des Vorderhirns, in der 4. Funktion des Wollens haben wir den Zugang zur Urkraft gefunden. Sie wird in der linearen Zeit zum raumhaften Allzusammenhang, erlebbar als Fügung. Im Wollen ergreifen wir die Ereignisse in ihrem Ansatz, als Keime möglicher Wirklichkeit. Quantenmechanisch haben wir also das Wollen als Subjekt gefunden, welches im Augenblick der Entscheidung eine der vielen Welten, mathematisch eine der vielen Wahrscheinlichkeitswellen wählt. Auch wenn wir im Alltag keine Wahrscheinlichkeitswellen, sondern eben unsere konkrete Wirklichkeit vor Augen haben, ist unser Wählen eigentlich ein zutiefst mathematischer Prozess, und was gewählt wird, sind mathematische Größen und Zusammenhänge. Dies sind natürlich keine Formeln oder Berechnungen, sondern die Zahlen als Einfältigkeit, Zweifältigkeit, Dreifältigkeit… ect., die Chiffren des Sinnes. Doch nur dem leeren Gewahrsein werden sie als solche offenbar. Für das inhaltliche Bewusstsein bleiben sie unterschwellig, wie die Grammatik für das sprachliche Denken unterschwellig bleibt. Ein solches Verständnis von Mathematik ist das Wesen der pythagoräischen Numerologie.

Der bedeutungsleere, farblose Stoff, aus welchem die Struktur des Gewahrsein gebildet ist, ist die Gesamtheit aller Zahlen der 5 Zahlenarten, der natürlichen, der ganzen, der rationalen, der reellen und der komplexen Zahlen. In ihrer Gesamtheit konstellieren sie 4 Arten der Dynamik, welche in der Physik auf topologischer Basis als die 4 Attraktoren bekannt sind. Es ist der 4-fältige Wirkraum des handelnde Subjekts, was zugleich als 4 Arten der Zeiterfahrung gegeben ist. Aus den 5 Zahlenarten werden 4 Attraktoren, da jede Zahlenart mit einer anderen verbunden ist. Dies ergibt sich deswegen, weil das Ganze in 8 Komponenten zerfällt. Die Zahlen der 1., 2. und 3. Dimension zerfallen in einen positive und eine negative Komponente, wohingegen die natürlichen Zahlen nullhaft sind, also keine Größe haben, und das imaginäre i (i = Wurzel -1), der wesentliche Bestandteil einer komplexen Zahl, weder als positiv noch als negativ zu verstehen ist. Die 8 Komponenten gruppieren sich nun zu 4 Paaren, eine Komponente die Zeit, die andere den Raum generierend. Dabei kombinieren sich die Paare in der Weise, dass ihre dimensionale Summe jeweils 4 ergibt, jedes Raum-Zeit Paar steht also für das Ganze.

In obigen Tabelle wurden also die Attraktoren mit den 5 Zahlenarten und ihren dimensionalen Entsprechungen in Zusammenhang gebracht:

Die Gewahrseinskomponenten, welche den Torus-Attraktor konstituieren, sind räumlich die Linie, zeitlich die rotierende Sphäre. So erzeugt etwa die nach den Gesetzen der ersten Dimension schwingende Saite hörbare Obertöne, die sich in der Zeit kugelförmig, also dreidimensional ausbreiten.

Die Gewahrseinskomponenten, welche den Fixpunkt-Attraktor konstituieren, sind räumlich das Volumen, mit der Möglichkeit des Füllens und Leerens, was zeitlich als Flussrichtung, als Bahn erscheint.

Die Gewahrseinskomponenten des Grenzzyklus-Attraktors sind beide zweidimensional. Zeitlich der identitätschaffende Umlauf, und räumlich die Fläche, in welcher er zur Anschauung kommt.

H y p e r k u b u sDie Gewahrseinskomponenten des seltsamen Attraktors aber sind der nulldimensionale Punkt, der nur zeitlich existiert, und der Raum des 4-dimensionale Hyperkubus, in welchem der punkthafte Augenblick zur Wahl einer räumlichen Entfaltungsmöglichkeit wird.
Die 5 Zahlenarten konstellieren also die Struktur des Gewahrseins, welche 4 Zeiterfahrungen ermöglicht: gerichtete Zeit (Fixpunkt), zyklische Zeit (Grenzzyklus), stabile Zeitresonanzen (Torus) und den singulären Augenblick (chaotischer Attraktor).
Zur Darstellung dieser vier Wirkweisen der 4-dimensionalen Raumzeit bedient man sich in der Physik der Topologie, welche scherzhaft auch als Gummigeometrie bezeichnet wird. Man geht von 3 Raumdimensionen aus, welche gedehnt, geschrumpft und geknetet werden können, wobei diese Plastizität die Zeit und ihre 4 möglichen Organisationsweisen zum Ausdruck bringt. Der Phasenraum, in welchem das Phasenportrait (der mögliche Entwicklungsverlauf eines Systems oder Wesens in der Zeit) zur Darstellung kommt, ist also der kontinuierliche Raum der Topologie. In diesem ist ein Würfel geometrisch das gleiche wie ein Teller oder eine Kartoffel, alle lassen sich kontinuierlich ineinander überführen, arithmetisch ist dieses Kontinuum durch die komplexen Zahlen repräsentiert. Kontinuität bedeutet hier, dass sich zwischen zwei unendlich dicht beieinanderstehenden komplexen Zahlen noch immer unendlich viele komplexe Zahlen befinden.

In diesem topologischen Raum sind also vier Strebensweisen, die 4 Attraktoren möglich. Schrumpfen alle drei Dimensionen gegen einen Punkt, so haben wir die Dynamik des Fixpunkt-Attraktors, die gerichtete Zeit, dargestellt als Spirale. Schrumpfen zwei, und bleibt eine stabil, so haben wir den in einer Ebene um eine ruhende Mitte kreisendend Grenzzyklus, die zyklische Zeit. Schrumpft nur eine Dimension und bleiben zwei stabil, so gewinnen wir die Dynamik des Torus mit den beiden senkrecht zueinander stehenden Kreisebenen. Auf seiner Oberfläche ist das Zusammenspiel von mehreren Zyklen darstellbar, welche sich in der Erfahrung als beharrende, dreidimensionale Gestaltungen zeigen. Habe ich aber die Kombination von einer stabilen, einer schrumpfenden und einer sich ausdehnenden Dimension, ergibt sich die unberechenbare, nicht-determinierte Dynamik des seltsamen Attraktors. Jeder Punkt in diesem Phasenraum ist ein Punkt eines möglichen nicht-linearen Sprunges, ein Verzweigungspunkt, an welchem der nächste Entwicklungsschritt des Systems in unvoraussehbarer Weise entschieden wird. Versteht man Systemverläufe als Reihen von Zahlenwerten, so folgt bei den ersten drei Attraktoren ein zukünftiger Zahlenwert zwangsläufig aus den vorhergehenden Werten, beim seltsamen Attraktor aber besteht diese kausale Abhängigkeit der Zukunft von der Vergangenheit nicht. Als Zeiterfahrung ist dies der singuläre Augenblick, in welchem sich spontane Wahl vollzieht.

Alles im All ist von den Attraktoren geprägt. Um uns zu orientieren, müssen wir sie unterscheiden und erlernen, und wir beginnen damit schon im vorsprachlichen Alter. Beim Erwachsenen wurde ihre Bewusstmachung in vielen geistigen Traditionen als die eigentliche Initiation verstanden. Dies ist noch als kulturelle Reminiszenz vorhanden, wenn ein König bei der Krönung mit dem Zepter in die 4 Himmelsrichtungen weist und diese in Besitz nimmt. Auf dem Weg des Wissens, wie er dem Anthropologen Castaneda von Don Juan vermittelt wurde, ist es die Überwindung der 4 Feinde. Psychologisch entspricht es der Bewusstmachung, Trennung und Integration der 4 Funktionen — empfinden, denken, fühlen und wollen — bei C. G. Jung als Individuation bezeichnet. Wer die 4 hat, kann handeln, und die vierte Funktion des Wollens eröffnet ihm die freie Wahl im Chaos des Nagual, wie von Don Juan die wogende Welt der Möglichkeit bezeichnet wird, im Unterschied zum Tonal, der bekannten Welt des bereits Gewordenen mit seiner Statik und seinen regulären Abläufen.

Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil II · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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