Schule des Rades

Dago Vlasits

Vom Sinn der Zahl - Teil III

Chi – Feuer – Heiliger Weiser

Die vier bekannten Kräfte werden von der Physik als fixe Gegebenheiten verstanden, nur über die fünfte Urkraft — die aber die Physik noch in keiner Weise beherrscht — sind sie ineinander verwandelbar. Falls man sie aber je technisch in den Griff bekommt, was man heute über die zehndimensionale Superstringtheorie versucht, darf man sich phantastische Wirkungen erwarten. Der Physiker und Autor Paul Davies, durch allgemeinverständliche Darstellungen der modernen Physik bekannt, spekuliert in seinem Buch Die Urkraft etwa über die Möglichkeiten einer zukünftigen Menschheit, die ihre eigenen Knoten ins Nichts binden, und Materie nach Wunsch bauen kann und gar in der Lage wäre, die Dimensionalität des Raumes selbst zu manipulieren und dabei bizarre künstliche Welten zu schaffen, die unvorstellbare Eigenschaften besitzen.

Nicht unbedingt bizarr, aber doch erstaunlich sind auch die Demonstrationen, die uns die Meister des Chi präsentieren. Der Schwerkraft zu trotzen und Wände hochzugehen, zehn Männer mit einem Handstreich umzuwerfen oder unversehrt Metallstangen am eigenen Schädel zersplittern zu lassen sind aber eine Spezialität, die nicht unbedingt als höchste Norm menschlicher Vollendung zu gelten haben. Was aber aus dem chinesischen Kulturkreis sehr wohl als eine Vorstellung höchster Vollendung zu akzeptieren ist, ist die Vorstellung eines Lebens im Einklang mit dem Tao. Es ist der Mensch, welcher mit keiner Wandlungsstufe der Kraft ausschließlich identifiziert ist, sondern im Fluss der Wandlungen den Sinn verwirklicht und die Mitte wahrt. Es ist der Heilige Weise, dessen Wirken allen förderlich ist im Sinne kosmischer Gerechtigkeit. Wann immer wir in der Liebe sind, wandeln wir in dieser Kraft. Mit Liebe ist aber nicht nur das romantische Gefühl gemeint, welches uns manchmal überfällt. Liebe wirkt dann, wenn wir uns für ihre einende Kraft und gegen den trennenden Hass entscheiden, wie wir es weiter oben beim Yoga der Zahl beschrieben haben. Es ist die Ebene des Gewahrseins der natürlichen Zahl, welche dem komplexen Chaos den schöpferischen Sinn entnimmt.

Vertraut man sich dem analogen Denken der rechten Hemisphäre an, werden die 5 Kräfte auch als die unmittelbare Körpererfahrung der 5 Sinne verständlich.

S i n n e

  • Riechen: Das vereinzelte Partikel auf unserer Erfahrungsebene ist natürlich nicht das Proton, sondern das einfache Atom bzw. Molekül. Nur der Geruchssinn reagiert auf einzelne Partikel, wobei heute die Auffassung vorherrscht, dass die geometrisch-mineralische Struktur der Partikel die Qualität des Geruchs bestimmt. Was genießbar oder ungenießbar ist, erschließt uns nicht das Auge, sondern die Nase, und der sprichwörtlichen Riecher für das, was Vorteil oder Nachteil bringt, leitet das erfolgreiche Handeln des Gemeinen. Das ausschließliche Beharren auf dieser Maxime erweist aber geistig letztendlich als Holzweg.
  • Schmecken: Schmecken erfordert die Lösung der Substanzen im wässrigen Milieu. Ein Analogon für den energiefreisetzenden Betazerfall der schwachen Kraft in unserer Lebenswelt ist die Gewinnung von Energie durch Nahrung. Der Würdige aber strebt nicht nur nach eigener Sättigung, sondern nach dem sprichwörtlich guten Geschmack, da nur dieser kommunizierbar ist. Er hat nicht nur seinen Vorteil, sondern die Kommunion mit den Anderen im Sinn, gibt im Austausch Energien und Möglichkeiten ab und nimmt solche auf. Aber auch das Streben nach Besserem und Höherem birgt eine Gefahr, wird zur endlosen Streberei. Der Würdige ist dann nicht mehr in der Kommunion auf den anderen bezogen, deren Urbild das geteilte Mahl ist, sondern im Sich-vergleichen der Kompetition.
  • Sehen: Keine Partikel, weder vereinzelt noch in ihrem bloß flüssigen Zusammenhang nimmt der Fernsinn des Sehens auf, sondern die Gestalt auf der voll entfalteten Anschauungsfläche. Das Sehen assimiliert keine Substanzen, sondern nimmt nur die von den Dingen reflektierten Photonen auf. Sehen-können bedeutet erst einmal Abstand nehmen, aus solchem Überblick heraus erst kann sinnvolles Handeln einsetzen. Es kann aber auch unterlassen werden, worin wir eine Gefahr dieser Stufe erkennen können, denn das bloße Erkennen und Betrachten der wahren Verhältnisse bleibt fruchtlos. Zu große Kopflastigkeit begegnet uns auch häufig als elitäres Gehabe und Arroganz der Wissenden.
  • Hören: Unsere unmittelbare Erfahrung der Schwerkraft sind natürlich weder das schwarze Loch, noch die Ballung der Himmelskörper, sondern das Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen auf der Erde, und der Kontakt mit den uns umgebenden schweren Massen. Der Bezug der Gravitation zum Ohr ist einerseits dadurch gegeben, dass der Gleichgewichtssinn seinenSitz im Ohr hat, andererseits durch die Tatsache, dass der Schall von bewegten Massen verursacht ist. Nun pflanzen sich Schwerkraftwellen mit Lichtgeschwindigkeit fort wie die elektromagnetischen Wellen, und die Wirkung beider Kräfte nimmt proportional zum umgekehrten Quadrat des Abstands ab. Schallwellen jedoch, die ebenfalls durch die Masse erzeugt sind, verhalten sich anders. In einem geschlossenen Zimmer etwa ist der Blick auf die Objekte der Umgebung beschränkt, der Ton bewegter Massen aber auch aus der Ferne wahrnehmbar, da Schall die Objekte durchdringt. Während der Edle also die lokale Wirklichkeit erfasst, erfasst der Berufene das globale Zusammenwirken. Der Edle erfasst den Aufbau des Atoms, somit die prinzipielle Schmiedbarkeit der Wirklichkeit, der Berufene aber das tatsächliche Zusammenwirken und Zusammenklingen der irdischen Massen. So ist eigentlich die Musik die Grundlage der Vernunft (= vernehmen) des Berufenen. Musik als Basis der Astrologie, das Verstehen der aktuellen planetarischen Zeitrhythmen, von der täglichen Drehung der Erde bis zum Weltenjahr sind maßgebend für sein Wirken, das auch das räumlich und zeitlich Ferne einbezieht. Dass auch das Besitzen von Stellung und weitreichender Macht ihre Gefahren birgt, versteht sich von selbst.
  • Tasten: Während uns die vier besprochenen Sinne letztlich eine Wandlungsform der Urkraft eröffnet, sind wir über den Tastsinn mit der Urkraft in unmittelbarem Kontakt. Verschließen wir die vier, bleiben wir dennoch als Ganzes eingetaucht in ein Kontinuum der Kraft. Dem ganzen Körper ist das Tasten zugänglich, wie man auch Feuer mit jedem Zentimeter der Körpers als Hitze wahrnehmen kann. Der Tastsinn erstreckt sich alsoüber den ganzen Körper, während die 4 besprochenen Sinne quasi nur lokale Spezialisierungen der Haut sind, Nasenschleimhaut, Zunge/Gaumen, Netzhaut und Trommelfell.

Die Einstimmung ins Chi erfolgt im Chi Gong einerseits über die Atmung, und andererseits über das Ausrichten der Körperachse nach der Schwerkraftsmitte der Erde. Die eigentliche Erfahrung dieser Kraft ist aber ein Tasten. Die Aufmerksamkeit kann den Tastsinn an jede Stelle des Körpers lenken, im besonderen wird aber das Chi über die beiden Hände und die 10 Finger ergriffen und integriert.

So können wir also den scheinbar primitivsten Sinn als den ursprünglichen bestimmen, und als jenen, der der letztlichen Ganzheit gegenüber offen ist. Der Tastsinn, welcher auf elementarste Weise zwischen 0 und 1, Nichts und Etwas, zwischen Druck und Nicht-Druck unterscheidet, ist eigentlich der Zugang zum Gewahrsein, ja Gewahrsein ist immer Körpergewahrsein. Es ist der Tastsinn, welcher uns die Freude der sexuellen Vereinigung erleben lässt, doch auch die Meditation der Leere im buddhistischen Sinn lässt sich als Vertiefung in den Tastsinn verstehen. Somitist der Vorgang der Meditation weniger ein Verschließen gegenüber aller Sinnlichkeit, sondern ein Rückführen und Konzentrieren auf den ursprünglichen Sinn, das Tasten. Auf seinem tiefsten Grund angelangt, ist es nicht mehr ein Wahrnehmen körperlicher Sensationen, sondern das Gewahrwerden der Leere, welcher die Fülle entspringt, das Kontinuum des Chi. Man ist eingetaucht in die Urkraft, die keiner anderen Kraft untertan, aber jedem Wesen erfahrbar ist.

Auch die Erleuchtung birgt ihre Gefahr, die Welt ist voll von größenwahnsinnigen Gurus. Begreift man aber sein Menschsein in der hier beschriebenen Fünffältigkeit, verwirklicht man in allen Wandlungen den Sinn und geht mit dem Tao. Das Ziel dieses Menschseins ist dann nicht ein letztendliches Erreichen der Erleuchtung oder das Aufgehen in der Leere, auch nicht die Ansammlung großer Mengen von Chi, sondern die Teilhabe am schöpferischen Sinn, der durch die 10 Chiffren, die natürlichen Zahlen von 0 bis 9 zugänglich ist. Auch die chinesische Auffassung kennt diese Vorstellung, wie es in manchen taoistischen Kosmogonien beschrieben ist (siehe den Beitrag von Árpád Romándy). Hier gilt die Null als Chiffre der Urkraft, als das Chaos, dem die 9 Arten des Chi entstammen, welche in ihrem Zusammenwirken Himmel, Erde und alle Wesen erzeugen.

Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil III · 1996
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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