Schule des Rades

Dago Vlasits

Vom Sinn der Zahl - Teil III

Der Mensch als Mitte

Bei der Rede von einer fünften Kraft werden wir auch an den sogenannten Vitalismusstreit erinnert, wenngleich es bei der damaligen Diskussion nicht um eine fünfte, vereinigende Urkraft ging, sondern um die Lebenskraft. Die Vorstellung einer vis vitalis, einer speziellen Kraft, welche die aufbauenden Prozesse in allem Lebendigen bewirkt, geht auf den aristotelischen Begriff der Entelechie zurück, gewann im 18. Jahrhundert zusehends an Bedeutung, und wurde im 20. Jahrhundert erneut durch v. Uexküll und Driesch vertreten. Der Streit um diese Kraft, die ja nie experimentell nachgewiesen werden konnte, gilt heute allgemein als zu Ungunsten der Vitalisten entschieden. Vor allem das jüngst gefundene Prinzip der Selbstorganisation des Komplexen aus dem Einfachen macht die Annahme einer speziellen organisierenden Kraft scheinbar überflüssig. Alles lässt sich auf die 4 bekannten Kräfte zurückführen, im gleichen Sinne betrachtet man Bewusstsein auf Physiologie, Physiologie auf Biologie, Biologie auf Chemie, und Chemie auf Physik reduzierbar. Manche Theoretiker gehen so weit, das Wort Bewusstsein überhaupt aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu verbannen. So zitiert Murray Gell-Mann — Nobelpreisträger und Begründer der Quark-Theorie — in seinem letzten Buch einen Kollegen, welcher in karrikierender Weise vom sogenannten m-word spricht (m für das engl. mind), um Bewusstsein als eine künstliche Substanz ohne jeglicher Realität zu diskreditieren.

Es gehört wohl eine gewaltige Portion Naivität dazu, um zu erkennen, dass der Kaiser keine Kleider trägt — oder vielmehr, dass in den erscheinenden Kleidern ein nackter Kaiser steckt — dass also letztlich alle objektiven Weltbeschreibungen dem subjekthaften Bewusstsein eines Menschen entstammen. Alles Bemühen um Vermeidung anthropozentrischer Sichtweisen erscheint lächerlich in Anbetracht der Tatsache, dass es immer ein Mensch ist, der Welt wahrnimmt und etwas über sie aussagt. Indem aber die Naturwissenschaftler den Menschen aus ihren Welt-Theorien ausschließen, führen sie genau jene Spaltung durch, die die wissenschaftliche Schau der Ganzheitlichkeit beraubt. Dennoch kann diese Wissenschaft mit Tatbeständen aufwarten, die dem Menschen — so man es nur sehen will — wieder eine zentrale Rolle einräumen.

Durch die kopernikanische Wende verlor der irdische Mensch seine Mitte im Universum. Der strukturierte Raum, in welchem alle Erscheinungen auf den Menschen und sein Mysterium der unergründlichen Gottheit zentriert sind, wie ihn die mittelalterlichen Kosmogonien voraussetzen, ist heute in Haufen von Galaxien zerborsten, und auf der Mikroebene finden wir einen Haufen von Energiepaketen. Ist nun der Mensch einmal erfolgreich zu einem Staubkorn unter Staubkörnern reduziert, scheint die Suche nach seinem Sinn tatsächlich ein sinnloses Unterfangen, und wer trotzdem danach fragt, wird von wissenschaftlich Aufgeklärten nicht selten mit höhnischem Grinsen bedacht.

Doch gerade diese Naturwissenschaft, welche das nüchterne Ausmessen der räumlichen Wirklichkeit zum Ausgangspunkt nimmt, und keinem Ort in diesem Raum eine besondere Bedeutung zumisst, findet den Menschen wieder in der Mitte dieses Weltraumes, dessen Ränder er ausmisst. Die einfache mathematische Operation des vergleichenden Messens und der Aufzählung von Größen, welches dem Vermögen der ganzen Zahlen entspringt, pulverisiert gleichsam das Universum horizontal in gleiche Elemente, und lässt vertikal aufsteigende Grade der Körnung, vom Photon bis zur Galaxie erkennen. Und diese objektivste Haltung zur Welt, die einfachste Art des Quantifizierens, der bloße Größenvergleich setzt den Menschen wieder in die Mitte. Es stellte sich nämlich heraus, dass sich unser Universum über rund 40 Zehnerpotenzen unterschiedlicher Körnungsgrade erstreckt, vom Quark bis zum Galaxienhaufen, und dem Menschen mit eben seiner Körpergröße und seiner Lebenswelt mussten die Wissenschaftler just wieder die Mitte zwischen beiden Extremen einräumen.

Neben der Mittelstellung, die der Mensch auf der linearen, eindimensionalen Größenskala einnimmt, wird ihm in der vierdimensionalen Raumzeit durch die Relativitätstheorie zudem eine andere Art von Mitte eingeräumt. Die Relativitätstheorie machte klar, dass Wirklichkeit immer nur lokale Wirklichkeit ist, dass sich also das was als Realität erscheint, immer vom Ort und Bewegungszustand des Beobachters her definiert. Dass in dieser Theorie kein Raumpunkt als bevorzugtes Bezugssystem gelten kann, dass also kein übergeordnetes Zentrum existiert, bedeutet andererseits, dass das reale Einnehmen eines Raumpunktes eben diesen Raumpunkt auszeichnet. Es gibt keine andere Wirklichkeit für den Beobachter, als eben die, welche er von diesem Punkt aus erlebt. Eine Supernova, die wir von der Erde aus sehen, ist unsere Wirklichkeit — wenngleich der Mensch über Raumpunkte nachdenken kann, bis zu welchen das Licht der Nova noch nicht vorgedrungen ist und die somit dort keinen Teil der lokalen Wirklichkeit bildet, oder über Raumpunkte, an denen die Spuren der Nova bereits wieder verblasst sind.

Formal ist also kein Raumpunkt in diesem Universum ausgezeichnet, real ist aber jeder Punkt im Universum die Mitte. Dies macht auch die Urknalltheorie einsehbar. Welchen Ort im Universum man auch einnimmt, er erscheint als Zentrum der Galaxienflucht, als Mitte des expandierenden Universums.

Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil III · 1996
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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