Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Die amerikanische Landschaft

Beschränktheit und Abgeschlossenheit

Ja, Amerika ist heute zutiefst ein Neuland keimender Regionalismen, ähnlich wie es Europa am Ende der Völkerwanderung war. Nur wenige dieser Regionalismen habe ich hier skizziert, doch ich meine, sie dürften genügen, meine Leser auf diese sehr wesentliche Seite der amerikanischen Landschaft aufmerksam zu machen, die nun jeder nach Maßgabe seiner eigenen Erkenntnisse tiefer ergründen mag. Mir liegt nunmehr ob, einen neuen Grundton anzuschlagen. Denn eben an dieser Stelle sind die Vergleichsmöglichkeiten zwischen Amerika und Europa zu Ende. Die beschriebenen Regionalismen werden nämlich nie genug erstarken, um die Einheit der Union zu sprengen. Um dies einzusehen, wenden wir unsere Aufmerksamkeit nunmehr einer anderen und noch bedeutsameren Seite der amerikanischen Landschaft zu, die zu der eben beschriebenen im Verhältnis eines logischen Widerspruches steht.

Im Spektrum Europas haben wir gezeigt, dass das Urbild des in diesem Buch betrachteten Kontinents die Balkanhalbinsel ist. Alles Gute — nicht allein alles Schlechte — in Europa beruht auf seiner Vielfältigkeit, auf den grundlegenden Unterschieden der europäischen Völker und ihrem gegenseitigen Widerstreit. Demgegenüber ist Amerika ein wesentlich einheitlicher Kontinent. Natürlich hätte es ein Land vieler Sprachen, Völker und Staaten werden können; es gibt geographische Grenzlinien, die ideal natürliche Grenzen ergeben hätten. Überdies läuft über den nordamerikanischen Kontinent eine nicht gerade natürliche, aber desto realere Grenzlinie: ich meine die zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada. Hier perpetuiert der Umstand, dass die Nachbarn verschiedenen , Kulturkreisen angehören, einen Typenunterschied, welcher trotz dauernden Verkehrs und großer Ähnlichkeit in der Lebenshaltung sich mit der Zeit eher steigert als verringert; diese Tatsache beweist besser als die meisten mir bekannten die ungeheure Macht kultureller Tradition. Dennoch halte ich es nicht für einen Zufall, dass das Gebiet der Vereinigten Staaten ein einheitliches Land geworden ist: sein eigenster Geist ist einer der Weite. Er ist dem Geiste Russlands und Zentralasiens ähnlich und dem von Europa vollkommen unähnlich.

Erklären lässt sich dies vorläufig noch kaum. Aber jeder feinfühlige Reisende empfindet es als selbstverständlich, dass Amerika ein einheitliches Ganzes sein muss. Wohl hätte es in politisch autonome Teile zerfallen können, wie dies ja auch mit China und Russland zeitweilig geschah. Aber die wesentliche Einheit würde sich dennoch erhalten und immer wieder irgendwie neu durchgesetzt haben, genau wie in Russland und China; dies beweist abschließend die geistige Bedeutungslosigkeit der Einzelstaaten der Union, so selbständig sie seien. Dieses Land, das Gebiete mit arktischem, tropischem, nördlichem, gemäßigtem und südlichem Klima, Meeresküste und Wüsten, Waldland, Gebirgszüge und Prärien umschließt, kann offenbar nicht anders als einheitlich sein. Selbst die ersten Siedler mit ihren unzulänglichen Mitteln für Expansion nach außen zu empfanden sich als virtuelle Besitzer des Ganzen. Und der Zug nach dem Westen wäre nicht allen Schwierigkeiten zum Trotz so unaufhaltsam vor sich gegangen ohne diese Überzeugung, dass Amerika seinem Wesen nach unermeßlich und dennoch eins ist und sein muss. Hier macht sich der Geist der Erde auf eine neue und noch großartigere Weise geltend, als aus dem früher Gesagten zu erkennen war. Nicht allein die Verengerung der sich verwurzelnden Nomaden geht auf Erdeinfluss zurück — gleiches gilt vom Expansionsdrang: wäre es anders, die Einwanderer aus Europa verfügten drüben nicht über so viel mehr kinetische Energie. Das amerikanische Nomadentum ist als erster und primitivster Ausdruck innerer Weite zu beurteilen; gleiches galt von jeher von den Nomaden Zentralasiens. Beide Erscheinungen sind Äquivalente der rein körperlichen Bewegungen, durch welche ein idiotischer Säugling Empfindungen äußert, die beim erwachsenen Irren ihren Normalausdruck in geistigen Symptomen finden.

Ich musste erst die Tatsache der amerikanischen Engigkeit als Folge des schöpferischen Einflusses der Erde in — wie ich jetzt gestehen darf — übertriebener Weise betonen, weil es sich hier um den wenigst verstandenen und beachteten Aspekt des amerikanischen Problems handelt. Der wesentliche Einfluss der amerikanischen Erde wirkt zweifelsohne erweiternd und verbreiternd. Das Verengernde beruht einfach auf den Gesetzen, die allgemein den Prozess des Wurzelschlagens eines nicht dem Herrschertypus zugehörenden Volks in neuem Boden bestimmen. Einmal sagte ich zu Reportern im Scherz, Amerika erschiene mir weniger wie eine riesenhafte Schweiz als wie ein riesenhafter Kanton Appenzell. Aber der Nachdruck muss auf dem Adjektiv riesenhaft liegen. Ausdehnung und Weite auf der physischen Ebene begünstigen und schaffen tatsächlich eine entsprechende innere Großzügigkeit. Diese dem Kontinent eigentümliche und unter seiner Einwirkung dem Menschen eingebildete Weite tritt dermaßen auffallend als dessen Grundeigenschaft hervor, dass man mit Sicherheit voraussagen kann: es entwickle sich der Regionalismus so sehr als überhaupt möglich — immer wird er das Sekundäre bleiben; die sich herausbildenden Unterschiede werden nie mehr bedeuten als die zwischen Nord- und Südrussland oder Nord- und Südchina. Man glaube ja nicht, die Einheitlichkeit bedeute eine bloße Folge der Standardisierung: diese konnte vielmehr nur auf Grund der vereinheitlichenden und erweiternden amerikanischen Atmosphäre so weit gehen und führen, wie sie es getan hat. Andernfalls wäre sie ein vollkommen Oberflächliches — was ja tatsächlich von jener psychologischen Gleichheit gilt, deren Herstellung das eine Ziel der Schulen zu sein scheint, deren Einfluss die Kinder armer Einwanderer grundsätzlich zuerst unterworfen werden. Wirkliche Gesinnungsgleichheit beruht auf gemeinsamen Gefühlen, nicht auf allgemein gebrauchten Schlagworten — mehr als letzteres bedeuten die sogenannten gemeinsamen Gedanken selten — und Gefühle entwickeln sich langsam, weil sie nur erwachsen können wie Kinder im Mutterschoß; hier wurzelt die typische Abneigung der Söhne altangesessener amerikanischer Familien gegen alle Fremden, die sich für Amerikaner ausgeben. Nun gehört der Amerikaner, der berechtigten Anspruch darauf hat, als echter Sohn der amerikanischen Erde zu gelten, immer dem gleichen Menschentypus an, in welchem Teil des Kontinents er auch geboren sei. Dies führt uns denn zur Erkenntnis einer neuen bedeutsamen Wahrheit. Man mag die Vereinigten Staaten mit China vergleichen; man mag sie mit Russland vergleichen. Aber es ist schlechterdings falsch und schlechterdings ungerecht, sie in irgendwelcher Hinsicht mit Europa zu vergleichen.

Dies führt uns denn zu einer Einschränkung dessen, was wir von der amerikanischen Engigkeit behauptet haben, welche ihrerseits eine Einschränkung dessen, dass der Mittelwestler dem gleichen Typus wie der Schweizer zugehört, bedingt. Auch in Russland gibt es äußerst enge Typen, die Sektierer z. B.; und auch der chinesische Bauer oder kleine Kaufmann kann nicht als großangelegter Typus gelten. Aber beide gehören einer wesentlich weiten und großzügigen Menschenart an, wie Teile zum Ganzen; gleichsinnig bildet der englische Provinzler, dessen bewusster Gesichtskreis über private und lokale Interessen nicht hinausreicht, doch einen integrierenden Bestandteil einer wesentlich imperialen Nation. Dass nun auch der Amerikaner wesentlich weit und großzügig ist, selbst wo er Babbitt darstellt, tritt am deutlichsten gerade in seinen engsten Vertretern in die Erscheinung. Die Art, wie der gewöhnlich Geschäftsmann Geld verdient und ausgibt und stets den kürzesten Weg zu seinem jeweiligen Ziel erkennt und dabei alle kleinlichen Gesichtspunkte außer acht lässt; seine Fähigkeit mit anderen trotz aller Differenzen oder gar Gegensätze im einzelnen zusammenzuarbeiten; seine Bereitschaft, jeden Augenblick mit seiner Vergangenheit zu brechen — schon diese Eigenschaften kennzeichnen einen ursprünglich großzügigen Menschentyp. Im übrigen muss es innerhalb jedes Volksganzen enge individuelle oder Standestypen geben; das größte Genie bedarf der gewöhnlichen Füße zum Gehen. Die chinesische Philosophie bietet in ihrer mythischen Bildersprache die beste mir bekannte Theorie des wahren Zusammenhangs; ich will sie hier in ihren großen Zügen wiedergeben, weil vollkommenes Verstehen des Tatbestandes von äußerster Wichtigkeit ist. Nach chinesischer Vorstellung bilden Himmel und Erde, Weltgeschehen und Menschenleben, Moral und der normale Verlauf der Natur ein einziges zusammenhängendes ganzes. Erst kommt der Himmel, dann der Kaiser; er stellt das Bindeglied dar zwischen Himmel und Erde. Doch der Bauer ist das Glied, welches die Erde mit dem Menschen verknüpft. Der Mensch — mit der einen Ausnahme des Kaisers — hat die Erde zum Bilde. Der Bauer ist der der Erde am stärksten unterworfene Mensch. Aber eben deshalb ist er das Fundament des Ganzen. Erfüllt er nicht streng seine Pflichten, so geraten Himmel wie Erde ins Wanken.1 In den Vereinigten Staaten gibt es infolge besonderer Umstände — vorläufig wenigstens — keinen Bauernstand. Doch die Rolle, die der Bauer innerhalb der Weltordnung spielt, wird dort durch jenen engen Typus verkörpert, den wir mit dem Schweizer verglichen; in der Tat, man lasse dem Bauern eines beliebigen Landes eine oberflächlich-liberale Erziehung zuteil werden und schaffe solche Bedingungen, dass er sich in allem, was er tut und sagt, auf diese beziehen muss, so wird er unvermeidlich zu einem perfekten Babbitt werden. Babbitt bedeutet das genaue Äquivalent dessen, was vor der Zeit, da der dritte Stand Bedeutung erlangte, dem Typus von Molières Bourgeois Gentilhomme so große Überzeugungskraft verlieh.

So ist es denn kein Wunder, dass die meisten, die im späteren Leben in New York reüssierten, aus dem Mittelwesten stammen. Zwischen der Engigkeit George F. Babbitts und dem großzügig planenden und weltumfassenden Amerikanertyp besteht kein größerer Widerspruch als zwischen dem Bauer und dem Herrscher in China und Russland; sie gehören zusammen, ergänzen sich wechselseitig, und der eine Typ schlägt immerzu in den anderen um. Hieraus folgt denn ein überaus Wichtiges und gleichzeitig Tröstliches: die Amerikaner sollten sich ihres Babbitt nicht schämen. Heute ist Babbitt der gesundeste und zuverlässigste Vertreter des ganzen Kontinents. Was die Amerikaner anstreben sollten, ist allein, dass ihre erdgebundene Abart nicht mehr so selbstverständlich die Rolle des Bourgeois Gentilhomme des französischen 17. Jahrhunderts spielte; dass er standesbewusster werde und sich dementsprechend weniger mit Dingen abgebe, zu deren Verständnis er physiologisch unfähig ist. Ferner sollten die Amerikaner, die keine Babbitts sind, diesen nicht mehr als den Amerikaner preisen oder schmähen; sie sollten ihn einfach in Frieden lassen — und mehr verlangt er auch nicht. Endlich sollten sie nach Möglichkeit die Entwicklung eines höheren erdgebundenen Typs fördern, welcher dem Landadel der Alten Welt entspräche. Der Landedelmann ist der Mensch, in dem sich die Elemente des Geistes und der Erde die Waage halten; deshalb war er in aller Geschichte der geborene Führer. Auch in Amerika hat er sich als solcher erwiesen. Dies beweist schon die eine Tatsache, dass eine so außerordentlich große Anzahl bedeutender Amerikaner dem Süden und insbesondere Virginien entstammt.

Man kann den Amerikaner sonach mit dem Russen, dem Chinesen und dem Zentralasiaten vergleichen, nicht jedoch mit dem Europäer. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich klar macht, dass nicht nur der schweizerähnliche, sondern auch der großzügige Typus des Amerikaners seinem Wesen nach beschränkt und abgeschlossen ist, sowohl innerlich als räumlich. Dies war bei allen Völkern der Fall, deren Mehrzahl in sogenanntem kontinentalem (in Gegensatz zu ozeanischem) Klima lebte. Seefahrerstämme sind in der Regel aufgeschlossen; hieraus erklärt sich, warum alle weitreichenden und verpflanzbaren und kolonisierenden Kulturen am Meer erwuchsen. Aber die Chinesen blickten nie über China hinaus. Gleichsinnig hat der Russe, so weit seine Seele ist, den Nichtrussen von je für unaufrichtig gehalten; sprach er vom Menschen im allgemeinen, so meinte er doch immer nur den Russen. Was nun die Bewohner Zentralasiens betrifft, so traten diese oft als Welteroberer auf; doch gerade die Art ihrer Eroberung und Herrschaft beweist jene für alle Bewohner kontinentaler Klimata typische innere Abgeschlossenheit. Ähnlich steht es denn mit denen der Vereinigten Staaten. Deren echt-eingeborener Typus beurteilt alles Nichtamerikanische instinktiv als minderwertig, wenn nicht gar als moralisches Greuel. Das Schlagwort: Amerika ist der richtige Ort für Amerikaner ist aufrichtig gemeint und bedeutet etwas ganz anderes als des Engländers Liebe zu seiner Heimat. Aber der gleiche Umstand erklärt auch, warum der Amerikaner trotz aller Versatilität wesentlich anpassungsunfähig ist. Er versteht nicht zu kolonisieren, er kann nur erobern und absorbieren. Glaube er noch so ehrlich an die Gleichberechtigung aller Völker — seine unwillkürliche Einstellung Nachbarn wie den Mexikanern und Mittelamerikanern, gegenüber ist die eines Lehrers vom alten Schlag, der den Charakter eines bösen Buben bessern möchte. Er kann nicht einsehen, dass Demokratie, wie er sie versteht, vielleicht nur eine Lebensform unter anderen ist, den Amerikanern durchaus gemäß, doch für andere Völker gänzlich unbrauchbar; seiner Meinung nach müssen seine Besonderheiten die absolut besten Eigenschaften in abstracto sein. Gleiches erklärt endlich, warum das sogenannte Land der Freiheit so gar keinen Sinn für Gedankenfreiheit hat. Der Amerikaner ist wesentlich dogmatisch. Freilich darf man allerlei sagen, solange es ohne ernste Folgen bleibt. Wird aber ein geistiger Einfluss, der mit ursprünglichen amerikanischen Tendenzen nicht übereinstimmt, zur Macht — sofort erhebt sich der Geist des Ku-Klux-Klan in irgendeiner Gestalt. Gleich zu Anfang fiel mir auf, dass die amerikanischen Radikalen — im europäischen Verstande des Worts — kein Verantwortungsgefühl zu besitzen scheinen; weder ihre Kritik an den Zuständen noch sich selbst scheinen sie letztlich ernst zu nehmen. Dies liegt daran, dass ihre Stellung in hohem Grade der des Hofnarren im Mittelalter gleicht. Das Wesentliche am Hofnarren war ja nicht seine Narrheit — meist war er sogar der weiseste Mann am Hof — sondern, dass seine Weisheit jeder Macht gebrach.

Betrachten wir noch zwei Tatbestände, dann wird unser Bild der amerikanischen Beschränktheit und Abgeschlossenheit wohl vollständig sein. Die Möglichkeiten der Standardisierung und Massensuggestion auf amerikanischem Boden scheinen unbegrenzt. Andererseits aber reicht ihr Einfluss über die geographischen und politischen Grenzen der Vereinigten Staaten nicht hinaus; nicht einmal über die kanadische Grenze reicht er hinüber. Dies bedeutet, dass die eigentliche Seele jener Standardisation der instinktive Glaube jedes Amerikaners ist, dass was für den einen gut ist, für alle gut sein muss. Diese eine Überlegung erklärt, warum alles echt Amerikanische wesentlich unübertragbar und unverpflanzbar ist. Eine Amerikanisierung der Welt ist demzufolge vollkommen ausgeschlossen. Freilich werden sehr viele technische Erfindungen und Geschäftsmethoden und sogar Lebensgewohnheiten auf die Dauer von den meisten Ländern übernommen werden, sofern sie praktisch sind. Wenn aber das Wort Amerikanisierung nicht mehr als das bedeutete, so implizierte dies, dass Amerika keine Seele hat. Entweder eine Nation ist eine Seele, oder sie existiert nicht. Wir werden später sehen, dass und inwiefern von Seelenlosigkeit als Dauererscheinung in den Vereinigten Staaten keine Rede sein kann. Doch schon auf Grundlage der bisher gewonnenen Einsicht können wir erkennen — womit wir zum zweiten Punkt, den wir in diesem Zusammenhang behandeln wollten, gelangt sind —, dass die amerikanische Seele ein wesentlich Abgeschlossenes sein muss. Das System der Vereinigten Staaten ist seinem Wesen nach ein geschlossenes System. Deshalb leuchtet die Monroe-Doktrin allen Amerikanern dermaßen als richtig ein; daher Amerikas erzkonservativer Geist: ein geschlossenes System muss wesentlich konservativ, seine Grundlagen müssen unwandelbar sein. China hat nie daran gedacht, das konfuzianische Gesetz zu ändern; Russlands Christentum (bis zur Revolution war die Einheit Russlands religiöser Natur) erkannte nicht einmal die Möglichkeit einer Evolution an. Gleichsinnig hält Amerika mit ungeheurer Zähigkeit nicht nur an seiner Urverfassung, sondern auch an besonderen Einrichtungen fest, die, wie alle denkenden Amerikaner zugeben, veraltet, unzulänglich, oder gar dem Geist der Zivilisation an sich konträr sind. Wir sehen sonach, dass die Unterschiede zwischen Europa und Amerika nicht bloß solche des Alters oder Kulturgrades oder der Sonderart sind, sondern dass es sich recht eigentlich um Wesensverschiedenheiten handelt. Da der Zustrom der Europäer noch anhält, kann dieser Tatbestand als äußere Erscheinung noch nicht klar zutage treten. Desto mehr aber gehört er schon heute zum Wichtigsten der inneren Erfahrung jedes echten Amerikaners jüngerer Generation. Hier haben wir denn die Stelle erreicht, wo wir die wahrhaft gewaltige Bedeutung des Weltkriegs für die Vereinigten Staaten ermessen können: dieser bedeutet für deren Geschichte zweifelsohne mehr als für die Europas. Und dies nicht etwa deshalb, weil Amerika aus einer Nation von Geldnehmern auf einmal zu einer Nation von Geldgebern geworden ist; auch nicht, weil es heute das reichste Land der Welt ist; nicht einmal wegen des ungeheuren politischen und moralischen Einflusses, den es gewonnen hat — all diese Errungenschaften könnten sich letzten Endes als Augenblickserrungenschaften herausstellen.

Der Weltkrieg stellt das wichtigste Ereignis in der bisherigen Geschichte der Vereinigten Staaten dar, weil Amerika als Ganzes dank der durch ihn verursachten Erschütterung sich zum erst einmal seiner eigenen Seele bewusst geworden ist. Vor dem Weltkrieg betrachtete es sich noch wesentlich als Kolonie Europas oder zum mindesten als einen der vielen Teile der einheitlichen westlichen Welt. Die Erschütterung des Weltkriegs nun brachte dem eingeborenen Amerikaner zum erstenmal sein Amerikanertum zum Bewusstsein; sie ließ ihn erkennen und fühlen, dass er eine ausschließliche Volksseele besitzt. Und dieses Erwachen war ein dermaßen Gewaltiges, dass selbst die Vertreter der jüngeren Generation, deren Eltern Ausländer waren, sich heute als Amerikaner und nichts anderes, das heißt im Gegensatz zu Europa, fühlen. Da diese neue Seele gerade erst zum Bewusstsein erwacht ist, kann sie sich unmöglich in Form der Vollendung ausdrücken. Doch eignet Babbitt heute die Überzeugungskraft einer mythologischen Figur, so ist dies nichts anderes als die selbstverständliche logische Folge dessen, dass der enge Amerikanertypus sich zuerst, aus den schon angeführten Gründen, als Amerikaner und nichts sonst zu erleben vermag. Und Babbitt konnte eine Bedeutung erlangen, die nur sehr wenige Söhne älterer Kulturen ganz verstehen, weil Amerikaner überhaupt zu sein, in den Anfängen der Entstehung Amerikas, wie der jeder anderen Nation, den grundlegenden Wert darstellt. So dürfen wir denn mit Sicherheit behaupten, dass die eigentliche Geschichte Amerikas erst mit der Wende des Weltkriegs begonnen hat; was vorher geschah, war europäische Kolonialgeschichte, oder aber es gehörte — so mag der Amerikaner, in dem die Vergangenheit lebendig geblieben ist, fühlen — zur mythischen Vorzeit der Neuen Welt, wie das homerische Zeitalter in bezug auf die historischen Griechen. Diese eine Erwägung erklärt das meiste an der Haltung der Vereinigten Staaten nach dem Kriege: die Ablehnung des Wilsonismus, das Ausscheiden aus dem Völkerbund, die Schuldenpolitik, die Gesetze zur Beschränkung der Einwanderung. Sogar die Prohibition gehört zum Teil hierher.

Von hier aus verstehen wir denn auch die Plötzlichkeit und Übersteigerung gewisser Erscheinungen. Da das Bewusstsein, Amerikaner im Gegensatz zum Europäer zu sein, erst gestern in Form plötzlicher Erschütterung erwachte, so muss der jungen Generation sehr ähnlich zumute sein, wie seinerzeit Adam und Eva bei ihrer denkwürdigen Auseinandersetzung mit dem Baum der Erkenntnis. Nur zweifelt sie nicht daran, eine bessere Lösung zu finden als diese und lehnt es von Hause aus ab, sich aus dem, was für sie das Paradies ist, vertreiben zu lassen.

1 Vgl. die Kapitel Tsi Nan Fu und Peking meines Reisetagebuchs.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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