Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Primitivität

Jugendlichkeit

Amerika erschien nicht immer jung. Unabhängig von seinem tatsächlichen hat jeder ein wesentliches Alter. Das vom Selbstbewusstsein gespiegelt Selbst ist an sich zeitlos; gäbe es keine Umwelt (zu der auch der Körper gehört), so würde keiner merken, dass er altert. Aber eben dieses Zeitlose erscheint jeweils jung oder mittleren Alters oder alt, unabhängig von der Zahl der Jahre, die ein Mensch tatsächlich auf Erden gelebt hat. Dieses zeitlose Wesensbild ist natürlich ein Symbol. Es ist aber darum nicht weniger wirklich: auf der Ebene innerer Erfahrung ist das Symbol ein ebenso adäquater Ausdruck der Wirklichkeit wie der Körper auf der des Äußerlichen; oder vielmehr es manifestiert einen wesentlicheren Teil der ganzen Wirklichkeit. Wer sich Alexander den Großen als Jüngling, Goethe als Patriarchen und Shakespeare als etwa Fünfunddreißigjährigen vorstellt, zeigt tieferes Verstehen, als wer auf den Tatsachen ihres Wandels in der Zeit besteht.

Was vom einzelnen gilt, gilt um so mehr von Völkern. Das Sinnbild, das in den Augen anderer ihr Wesen verkörpert, bietet recht eigentlich den Schlüssel zu deren wahrem Charakter. Wer nun war in der Vergangenheit Amerikas repräsentativstes Symbol? Es war Onkel Sam; ein ältlicher Gentleman. Und wenden wir uns nun vom Symbol den Tatsachen zu, so finden wir, dass es sich in allen repräsentativen Fällen als wirklichkeitsgemäß erweist. Man kann sich einem Pilgervater nicht unter fünfzig und einen echten Puritaner nicht unter fünfundvierzig vorstellen. Die eigentümliche Detachiertheit des besten neuenglischen Kulturtyps entspricht genau der Gesinnung eines Mannes, der sich vom tätigen Leben zurückgezogen hat. Daniel Boone, das Urbild von Coopers Lederstrumpf, wirkt unglaubhaft, wenn man ihn sich jünger als siebzigjährig vorstellt; und was von ihm gilt, scheint sich jüngst bei den großen Industriepionieren zu wiederholen. Thomas Edison erscheint mir, seitdem ich von ihm weiß, im Bilde eines vielhundertjährigen Hexenmeisters; das wesentliche Alter John D. Rockefellers beträgt mindestens achtzig Jahre; und vergegenwärtige ich mir Henry Fords pergamentenes Gesicht, so bin ich jedesmal überrascht, wo ich mir klar mache, dass er nicht wirklich schon ein Patriarch ist. Ferner: wie kommt es, dass repräsentative Amerikaner so oft außergewöhnlich lange leben? Liegt dies nicht daran, dass ihr wesentliches Alter es verlangt? Unter allen Umständen hält es leichter, Stützungen für die Theorie zu finden, dass der nordamerikanische Kontinent einen Menschen vorgeschrittenen wesentlichen Alters erzeugt, als für die landläufige Auffassung, dass er verjünge. Auch das wesentliche Alter der Indianer ist selten unter fünfundvierzig Jahren. Wer sonach Amerikas Jugend preist, denkt meist unpräzis. Primitivität im kulturellen oder historischen Verstand und wesentliche Jugendlichkeit sind zweierlei. Es gibt Wilde in vielen Teilen der Welt, die nicht nur zeitlich gesehen älter sind als irgendein Kulturvolk, sondern auch alt im Sinne wesentlichen Alters. Das schwere Leben, das die europäischen Siedler in Amerika führen mussten, versetzte sie in Urzustände zurück; jünger machte es sie nicht.

Doch die jüngste Generation in den Vereinigten Staaten ist wirklich jung. Auf sie bezogen, fehlt dem Sinnbild Onkel Sams jedwede Überzeugungskraft. Die verantwortungsvollsten Posten im Geschäftsleben werden jüngst, nur ausnahmsweise Männern und Frauen über fünfundvierzig anvertraut; in einem in der ganzen Geschichte beispiellosem Grad und Maß gibt die Jugend drüben heute den Ton an. Das sind Symptome von unmittelbarer Beweiskraft. Wer im vorrevolutionären China einer reizenden jungen Dame erklärte: Sie sehen wie sechzig aus, der sagte ihr damit eine Schmeichelei. Vierzig Jahre mindestens zu zählen, war das unbewusste Ideal aller Jungen zur Zeit von Neu-Englands Vorherrschaft; damals zählten eben nur die Männer und Frauen über vierzig, wie dies in allen reifen Kulturen der Fall war. Heute nun spielt die Jugend in Amerika ungefähr die gleiche Rolle wie das Alter in den letzten Zeiten Alt-Chinas. Dementsprechend will jeder zum mindesten jung aussehen, gleichviel dank welchen Mitteln. Die Jungen beweisen den Älteren nicht die geringste Ehrfurcht, im Gegenteil: diese bemühen sich, ihr Dasein einigermaßen dadurch zu rechtfertigen, dass sie ihre ganze Sorge dem Wohlergehen jener widmen. Wie sollen wir diese Wandlung, die so groß und plötzlich ist, dass sie beinahe eurer solution de continuité gleichkommt, deuten? … Zwecks Lösung des besonderen amerikanischen Problems müssen wir es zunächst als Sonderausdruck eines allgemeineren betrachten.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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