Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Das Tierideal

Geologische Periode des Menschen

Im vorhergehenden Kapitel unterschieden wir scharf zwischen einem mechanisch gewordenen und einem technisierten Leben, das heißt einem Leben, das eine technische Zivilisation irgendwelcher Art entwickelt hat — ohne indes in das Problem tiefer einzudringen. Dieses zu tun, ist unsere nächste Aufgabe. Denn keine andere Zivilisation ist so ausgeprägt technisch wie die der Vereinigten Staaten.

Um die volle Bedeutung der modernen technischen Zivilisation zu erfassen, tut es not, sich über den üblichen Standpunkt zu erheben, der nur die Menschheitsgeschichte überblickt, und diese letztere von dem des Geologen, das heißt des Menschen, dem diese nur ein Kapitel der Erdgeschichte bedeutet, zu betrachten. Seit seinem ersten Auftreten auf unseren erkaltenden Planeten ist das Leben durch viele Formen, Phasen und Metamorphosen hindurchgegangen. Diese Phasen, deren jede dem Gesamtleben einen von jedem früheren oder späteren scharf unterschiedenen Allgemeincharakter gab, können als Teile eines Ganzen gelten, die man als solche geologische Formationen heißt; deren bis auf die jüngste Zeit wichtigsten sind: das Archaikum, Silur, Devon, Karbon, Perm, Jura und Kreide; und diese wiederum lassen sich drei Hauptperioden, der paläozoischen, mesozoischen und känozoischen einordnen. Jede Formation ist durch Leitfossile charakterisiert — das heißt in jeder Periode herrschten gewisse Tiere und Pflanzen derart vor, dass ihr Vorkommen in einer Schicht deren absolut sichere chronologische Bestimmung möglich macht. Es gibt charakteristische Leitfossilien für jede Phase des Lebensverlaufs auf Erden. Überblickt man diese jedoch von jenem höchstmöglichen Standort, von dem aus nur die allgemeinsten Umrisse in die Augen fallen, so kann man sagen, dass einander der Knorpelfisch, das Amphibium, das Reptil, das Beuteltier und schließlich Säugetier in der Vorherrschaft abgelöst haben.

Was ich hier kurz zusammengefasst habe, ist, die geltende Lehre der Paläontologie. Aber ist es wirklich wahr, dass das letzte ins bekannte Zeitalter das des Säugetiers ist? Wenden wir die bewährten Begriffe der geologischen Formationen und Leitfossilien unbefangen auf die moderne Zeit an. Dann können wir nicht umhin zu erkennen, dass wir nicht mehr in der geologischen Periode der Vorherrschaft des Säugetiers im allgemeinen leben, sondern im geologischen Zeitalter des Menschen. Gab es je ein Geschöpf, das sämtliche Eigenschaften eines Leitfossils besaß, so ist dies der moderne Mensch. Kein Riesensaurier hat auch nur entfernt in dem Maß seiner Zeit sein Gepräge gegeben, wie jener es tut, der da den Lauf der Flüsse ändert und Tunnels durch Bergketten bohrt, von seiner Unterwerfung aller anderen Lebewesen zu schweigen. Andererseits aber gilt dies vom modernen Menschen allein. Berichtet die Bibel recht, dann wurde der Mensch bereits im Paradies zum Herrn der Schöpfung erklärt. Tatsächlich jedoch war er dies noch vor zwei kurzen Jahrhunderten in keiner Weise. Vom Standpunkt der Natur aus beurteilt, war er nicht mehr als ein Geschöpf unter anderen, an Verstand freilich den übrigen überlegen, doch in anderen Hinsichten so schwach und vor allem so gering an Zahl, vornehmlich in seinen höchstbegabten Abarten, dass nur blindeste Eitelkeit ihn glauben lassen konnte, er beherrsche die Erde. Und wirklich haben jene Bahnbrecher auf den Gebieten der Religion und Philosophie, deren Ideen dem ganzen vormodernen Leben den Grundton gaben, nie eine hohe Meinung vom Menschen als irdischer Macht gehabt. Gemäß der Weltanschauung der alten Inder war der natürliche Mensch nur ein Tier unter anderen, und seine Seele konnte ohne weiteres aus einem menschlichen in einen tierischen Körper hinüberwandern. Innerhalb des chinesischen Systems gehörte die Kulturgeschichte des Menschen der gleichen Ebene an wie der Wechsel der Jahreszeiten. Und im wahrhaft christlichen Zeitalter (das heute vorüber ist) galt der Mensch nicht als wesentlich mächtiges, sondern ohnmächtiges Geschöpf, dessen Gedeihen ganz von Gottes Gnade abhing. Heute aber hat der Mensch die dann im Paradiese zugewiesene Stellung erobert. Heute ist er der Herr der Schöpfung. Dies vor allem erklärt, warum die Religionen und Philosophien, deren Grundvorstellungen dem Menschen nicht die Vorherrschaft über die übrige Schöpfung zuerkannten, an Macht über Geist und Seele unaufhaltsam verlieren.

Wir leben sonach nicht mehr im Zeitalter des Säugetiers im allgemeinen, sondern in dem des Menschen. Haben wir dies erst erfasst, dann erfassen wir auch sofort die genaue Bedeutung des technischen Zeitalters: es ist nicht nur eine Phase der Menschheitsentwicklung, es bedeutet viel mehr: geologisch gesprochen bedeutet es, dass der Mensch von der vormenschlichen Stufe zur eigentlich menschlichen aufgestiegen ist; zwischen dem vortechnischen und dem technischen Zeitalter besteht eine gleich große solution de continuité wie zwischen zwei beliebigen geologischen Perioden. Denn die Wissenschaft und angewandte Wissenschaft allein ist es, die den Menschen im Lauf der letzten Jahrhunderte zum Herrn der Schöpfung im natürlichen oder irdischen Sinn gemacht hat. Andererseits aber unterschied gerade die Möglichkeit einer Entwicklung, wie er sie eben jetzt vollendet hat, den Menschen als Tier von anderen Tieren von jeher; aus diesem Grunde konnten prophetische Geister ihn schon in vorbabylonischen Tagen als Herrn der Schöpfung vorausahnen. Mit dem technischen Zeitalter hat der Mensch sein eigenstes Ziel erreicht. Hieraus erklärt sich denn, warum das Zeitalter des sogenannten Fortschritts durch eine so beispiellose Vitalisierung all derer, die als Pioniere daran teilhatten, charakterisiert war: sie fühlten sich als Privilegierte, denen vergönnt war, als erste das Ziel zu erreichen, nach dem die ganze Menschheit seit Jahrmillionen suchend getastet hatte. Hieraus erklärt, sich auch das beispiellose Tempo dieser Zeit. Dem Menschen war zumute wie einem Reiter am Ende eines Rennens. Nachdem er lange mehr oder weniger gleichmäßig galoppiert war, um die Kräfte seines Pferdes nicht vorzeitig zu erschöpfen, sah er nun das Landziel vor sich und spornte sein Roß zu höchster Leistung an.

Es erklärt aber noch vieles andere. Es erklärt, warum die technische Zivilisation unwiderstehlich unseren ganzen Planeten erobert. Der irdische Mensch ist ein Tier unter anderen; dies ist der Sinn der Redensart, dass des Menschen Natur sich niemals ändere (was in der Tat zutrifft). Die Elementartriebe nach Macht und Lust und Expansion beherrschen sein Verhalten ebenso primär wie das des Tiers; ist nichts da, um sie zu zügeln, so nehmen sie Reißaus mit ihm. Und auf der Ebene technischer Entwicklung gab es nichts, was sie hätte zügeln können; denn keine Religion oder Philosophie der vormenschlichen Zeit (ich brauche das Wort wieder im geologischen Sinn) hatte jene Entwicklung vorausgesehen. So ging denn der technisierte Mensch ebenso erbarmungslos an die Eroberung der Erde wie nur irgendein Saurier; und so erbarmungslos wie irgendein Riesensaurier seine ihm im Wege stehenden geringeren Vettern niedertrat, eroberte, versklavte oder vernichtete der technisierte Mensch alle Völker, die seine technische Stufe nicht erreicht hatten. Indes war dies nur die erste Phase des Vorgangs. Bald wurden alle Rassen, schwarze, gelbe, braune und weiße, inne, dass die technische Zivilisation in Wahrheit das Erbe des Menschen als Menschen darstellt; und dies in weit höherem Maße als politische Freiheit, da diese offenbar wenig nützte, wenn sie nicht mit Macht gepaart war. Hieraus erklärt sich denn jener frenetische Drang nach Technisierung, den wir seit dem großen Krieg, der die europäischen Völker schwächte und damit den anderen ihre erste große Chance gab, auf dem ganzen Erdball beobachten. Denn, wie ich in der Neuentstehenden Welt dargelegt habe, die wahre Seele des Bolschewismus ist nicht eine bestimmte Regierungsform, sondern das Evangelium der Technisierung ohne Ausbeutung. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von den Emanzipationsbewegungen im ganzen Osten, Gleiches ist überall die wahre Triebkraft aller radikalen sozialen Programme. Diese Bewegungen sind insofern unwiderstehlich: der Mensch als solcher lässt sich das ihm als Leitfossil des geologischen Zeitalters des Menschen Zustehende nicht mehr vorenthalten. Es ist daher gar nicht dran zu denken, den technischen Fortschritt einzuschränken oder innezuhalten, wie so viele Idealisten dies wünschen. Steht, eine noch so schöne Kulturform dem Drang des Menschentiers im Wege, so wird sie einfach vernichtet, wie dies Chinesen, Türken und Russen bereits mit ihren überkommenen Lebensformen getan haben; und die tierischen Impulse sind immer desto stärker, je primitiver ein Volk. Und nun verstehen wir auch, warum gerade die primitiven Völker sich so leidenschaftlich dem technischen Fortschritt zuwenden: da dieser eine Etappe der animalischen Entwicklung darstellt, so nimmt der primitive Mensch eine Vorzugsstellung ein. Vergegenwärtigen wir uns nunmehr, dass die überwältigende Mehrheit aller Menschen bis heute zu den Unterdrückten zählte, so können wir voll ermessen, was die bloße Möglichkeit technischen Fortschritts für die Menschheit als Ganzes bedeuten muss. Hier steht ganz anders Tiefes und Wesentliches in Frage als Demokratie. Das demokratische Zeitalter war ja auch eines der privilegierten Kasten. Es war das des privilegierten Weißen im allgemeinen und Angelsachsen im besonderen. Fortan will die ganze Menschheit ihr Leben voll ausleben. Mit allen Privilegien soll es für immer vorbei sein.

Das Gesagte erklärt jenes ungeheure Freiwerden von Energie, die wir auf dem ganzen Erdball beobachten. Es erklärt aber auch den außerordentlichen Grad der Verjüngung, welche die neuen Aussichten bewirkt haben. Jede neue Idee, die dem Leben einen neuen Sinn gibt oder die Erreichung eines neuen erstrebenswerten Ziels in Aussicht stellt, verjüngt. Die Menschheit als solche altert nicht; nur jede bestimmte Entwicklungslinie ist endlich. Man lasse den ältesten Typus, solange er persönlich wandlungsfähig ist, in neuer Richtung neu beginnen — und alle Zeichen der Jugend werden in ihm aufblühen. Wie aber nun, wenn das fragliche Ideal animalisch ist: Solches Zusammentreffen muss eine wahrhaft ungeheure Steigerung der Erdkräfte bewirken. Gedenken wir nunmehr unserer Erkenntnis, dass das technische Zeitalter eine neue geologische Epoche einleitet: unter diesen Umständen beginnt der Mensch recht eigentlich eine neue animalische Laufbahn. Dies erklärt denn abschließend den barbarischen Charakter der neuentstehenden Welt. Einer Naturkatastrophe gleich leitet die Vernichtung aller vorhergehenden Kulturzustände das neue geologische Zeitalter ein.

Selbstverständlich muss die Eigenart der neuen geologischen Epoche dort am deutlichsten in die Erscheinung treten, wo der Mensch zu Beginn ihrer oder kurz nachher ein neues historisches Dasein begann. Hier liegt die Wurzel des Grundunterschiedes zwischen Amerika und Europa. Aber Gleiches erklärt auch, warum Amerika und das bolschewistische Russland sich dermaßen ähneln. Russland hat gewaltsam alle Fesseln seiner Vergangenheit abgeworfen, und obgleich die russische Seele von der amerikanischen gänzlich verschieden ist, so hat der Umstand, dass ein neues Ideal — das Ideal der neuen, seiner Rolle als des Herrn der Schöpfung angemessenen Einstellung des Menschen innerhalb der Gesamtnatur — zur Haupttriebkraft geworden ist, Russland doch auf einmal den Vereinigten Staaten ganz nahe gebracht. Und Gleiches wird bei all den verjüngten Völkern der Fall sein, die es für nötig befanden, ihre Vergangenheit abzuschütteln, um ein neues Leben zu beginnen. Bald werden sie alle entweder dem Zentrum, dessen Symbol Amerika ist, oder aber Russland zustreben. Wir werden später sehen, welches das genaue gegenseitige Verhältnis dieser beiden Pole künftigen historischen Lebens ist.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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