Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Sozialismus

Mechanisierte Ameisen-Menschen

Es ist dermaßen wichtig, diesen Punkt ganz richtig zu erfassen, da ich noch etwas mehr auf die Tatsachenseite des Falles eingehen möchte, obgleich ich für Amerikaner schreibe, die selbstverständlich viel mehr darüber wissen als ich. Wir wollen zunächst ein wenig näher betrachten, in welch erstaunlichen Maß das amerikanische System zur Verwirklichung gerade der Ziele des europäischen Sozialismus führt und sogar die gleichen allgemeinen Erscheinungen zeitigt. Dieser lehrt, dass nur der Arbeitende ein Recht habe zu leben; Gemeinnützigkeit sei die eine Grundlage individueller Rechte. Ebendies ist der Glaube aller typischen Amerikaner. Der übliche Ausdruck dieses Gebotes ist: jeder soll bis zuletzt Geld verdienen. Aber in Amerika ist Geld eben das Symbol für alle erfüllten Aufgaben. Ferner ist angemessene Vergütung aller Arbeit Grundforderung des Sozialismus. Die dem amerikanischen Leben zugrunde liegende Idee ist in Wahrheit die, dass ein der Gemeinschaft nicht nützendes Leben ein Skandal ist. Hier nun spielt die Sondervorstellung hinein, dass in erster Linie Warenproduktion Social Service bedeutet. Um das richtig zu verstehen, sollte man den Nachdruck auf das Service-Ideal als solches legen, nicht auf die Mittel, durch welche heute Service geleistet wird; diese Mittel können jederzeit eine Wandlung erleben, ohne dass am Stand der Dinge Wesentliches geändert würde. Im übrigen: ist nicht auch der orthodoxe Sozialismus materialistisch? Doch die Ähnlichkeit der Auswirkungen des sozialistischen Standpunkts einerseits und des amerikanischen andererseits geht noch weiter. Eins der wichtigsten Ziele des Sozialismus ist, eine Ausbeutung des Menschen durch das Kapital unmöglich zu machen. Vom Standpunkt abstrakter und theoretischer Möglichkeiten kann nun Kapital nirgends auf Erden so unbehindert Ausbeutung betreiben wie in den Vereinigten Staaten; und im Ausland lässt das amerikanische Kapital in dieser Hinsicht auch nichts zu wünschen übrig. Aber im Inland wirkt der theoretischen Möglichkeit die Triebkraft des organischen Sozialismus übermächtig entgegen. Selbstverständlich sucht jeder möglichst viel zu verdienen, und freilich suchen überaus viele ihren Mitmenschen so viel als nur möglich zu übervorteilen. Hier bedenke man jedoch, dass sich die innere Kraft einer lebendigen Tendenz, die nun einmal kein Maschinenhaftes ist, allemal am besten an der Menge der Ausnahmen, welche die Regel bestätigen, ermessen lässt. In keinem aristokratischen Gemeinwesen herrschte jemals Einzigkeitsgefühl vor im Sinn von Rousseaus volonté de tous, wohl aber in dem einer volonté générale, worauf allein es ankommt. Denn dann prädeterminiert eine bestimmte Gruppenseele alle individuellen Handlungen von innen her mittels eines Ehrenkodex, moralischer Anschauungen oder geglaubter Ideale. Daher ist alles, was Europäer, gestützt auf Upton Sinclairs Enthüllungen oder persönliche Beobachtungen, denken, wesentlich falsch, selbst wo die Tatsachen zutreffen, weil diese nicht das bedeuten, was Sinclair glaubt (oder zu glauben vorgibt). Die amerikanischen Kapitalisten vom reinen Räubertyp und die Sozialisten russischen Musters bedeuten in Amerika genau soviel und nicht mehr wie Verbrecher in wesentlich gesetzfrommen Ländern wie Deutschland und England. Man kann geradezu sagen, dass Freibeutertum des Einzelnen in Amerika, dank dessen Grenzertradition, als zum Spiel und Abenteuer des Lebens gehörend fröhlich bejaht wird — welches Spiel von vornherein als gemeinsames Spiel betrachtet wird, so wie das von Räubern und Wanderern seitens der Kinder.

Mit fortschreitender Entwicklung nun drückt sich das, was als Sinn von jeher wahr war, immer stärker in den Tatsachen aus. Noch immer darf ein Prinzipal einen unbrauchbaren Arbeiter auf der Stelle entlassen. Aber andererseits gilt es heute als unmoralisch, einen tüchtigen Arbeiter nicht möglichst hoch zu bezahlen, und ihn nicht möglichst rasch auf der Stufenleiter des Gehalts und der Teilhaberschaft aufsteigen zu lassen; und es gilt geradezu als skandalös, die Interessen der Verbraucher nicht innerhalb vernünftiger Grenzen selbstverständlich zu berücksichtigen. Freilich ist es sehr klug, so zu handeln; es hat sich als viel einträglicher erwiesen als jede andere Methode. Jene Männer von Vision, die unmerklich ein Apfelsinen-Bewusstsein oder ein Radio-Bewusstsein — vom Automobil-Bewusstsein zu schweigen — schufen, waren selten Leute, denen das Social-Service-Ideal an erster Stelle stand. Wäre aber das amerikanische Geschäftsgebaren allein oder primär eine Sache der Vernunft, dann würden die Geschäftsleute Europas, die den amerikanischen an Allgemeinniveau heute noch hoch überlegen sind, längst die gleichen Mittel angewandt haben. Sie hätten dem Anschwellen der sozialistischen Welle längst schon vorgebeugt, so wie es in Amerika geschehen ist. Das Leben wird eben zuerst, und zuletzt durch primäre Impulse gelenkt; der Mensch hat Erfolg nur in dem, was er unwillkürlich tut; nur der ist erfolgreicher Geschäftsmann, der unwillkürlich das Leben im Rahmen eines Systems geschäftlicher Koordinaten erlebt, so wie der allein berufener Philosoph ist, der unwillkürlich das Leben im Rahmen seiner geistigen Problematik schaut. Rein willkürliche Konzentration führt nie weit. Die amerikanischen Kapitalisten sind einfach in ihrem innersten Herzen Sozialisten, selbst wo sie wie Räuber handeln. Eine ergötzliche Geschichte, die mir ein Prominenter aus dem Süden erzählte, wird uns am schnellsten zum vollen Verständnis des Sachverhaltes führen:

Es gibt, sagte er, keine befriedigendere Zusammenarbeit auf Erden als die zwischen unserer Polizeitruppe und den Schmugglern in meinem Staat. Wird einer der letzteren gefasst, so findet er sofort ein warmes Plätzchen in der Truppe; lässt sich einer aus dieser etwas zuschulden kommen, so kann er ohne weiteres zu den Schmugglern übergehen, so dass Frau und Kinderchen nie zu hungern brauchen.

Doch weiter: warum kam kein Europäer auf den Gedanken, dass nicht Private für das Radio im Heim bezahlen, sondern die, welche es zu Reklamezwecken benutzen? Warum hat noch keine europäische Firma es sich besonders angelegen sein lassen, ihre Kunden zu ihren Aktionären zu machen? Warum arbeiten alle möglichen Gruppen, die sich in Europa nicht einmal über den Begriff ihrer unüberbrückbaren Differenzen einigen würden, in Amerika ganz selbstverständlich Hand in Hand, so dass selbst offene Gegner in bestimmten Richtungen zusammenwirken? Warum ist das Prinzip der Kooperation überhaupt in Amerika so viel erfolgreicher als in Europa? Warum ist es selbst dem größten amerikanischen Geschäftsmann selbstverständlich — es gibt Ausnahmen, aber deren sind nicht viele —, sein Geschäft nicht als Autokrat, sondern im Einverständnis mit Kodirektoren zu führen? Warum liegt so viel weniger Unaufrichtigkeit im amerikanischen Reklamewesen als im europäischen? Warum ist jenes wirklich wesentlich auf dem Prinzip der Social Service aufgebaut? Nicht deshalb, weil es in erster Linie einträglich ist — sonst hätten kluge Europäer schon längst das gleiche getan. Sondern weil die sozialen Tendenzen in der amerikanischen Seele wirklich vorherrschen. Nichts ist in dieser Hinsicht lehrreicher, als Claude C. Hopkins Buch My Life in Advertising (Harper & Bros) zu lesen. Dies Buch — in derer der Verfasser einerseits so überzeugt von der persönlichen Bedeutung seiner Leistung schreibt, wie Caesar in De bello gallico, und andererseits ihrer Heilswirkung so gewiss, als schreibe ein General Booth — klingt durchaus aufrichtig.

Doch fahren wir fort. Warum beneiden, allgemein gesprochen, die Armen in Amerika die Reichen nicht? Zum Teil ist dies natürliche Folge des irrationalen Glaubens des Mannes auf der Straße, dass auch er reich werden kann, wenn er nur ernstlich will. Der wesentliche Grund aber ist der, dass er merkt, der Reiche fühlt sich im Grunde eins mit ihm, was auf die prädominierenden sozialen Tendenzen zurückgeht. Die Menschen nehmen unangenehmste Einzeltatsachen selten übel, wenn sie nur mit dem herrschenden Prinzip einverstanden sind. — Warum erscheint der Gedanke, dass die Arbeiter nicht möglichst wenig, sondern möglichst viel materiellen Vorteil aus einem Werke ziehen und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu Aktionären werden sollen, dem Amerikaner als wesentlich vernünftig und dem Europäer als utopisch? Wiederum nicht aus Vernunftgründen, sondern auf Grund der ursprünglichen psychologischen Struktur. Wäre dem anders, so würde Deutschland und nicht Amerika das Land größter sozialer Zufriedenheit sein, denn nirgends sonst denken und schreiben so viele Leute von dem, was sein sollte. Aber leider bedeuten reine Vernunfterwägungen gar nichts. Im demokratischen Deutschland wird der Bürger noch viel mehr herumkommandiert als je in den Tagen des Kaiserreichs, und infolgedessen ist noch weniger von jener allgemeinen Atmosphäre gegenseitigen Wohlwollens zu spüren, die für Amerika so bezeichnend ist, selbst dort, wo graft und putting over in höchster Blüte stehen. Henry Ford, der bekannteste der hohen-Löhne-Männer, ist in Wahrheit der wenigst sozial Gesinnte unter den Geschäftskönigen seines Typs. Gewiss zahlt er hohe Löhne, gewiss ist er bestrebt, den Lebensstandard seiner Angestellten zu heben, gewiss hat er sein Geschäft auf dem Gedanken aufgebaut, dass den Bedürfnissen des Publikums zu möglichst niedrigen Preisen entgegenzukommen sei. Doch gerade bei ihm habe ich den bestimmten Eindruck, dass es sich mehr um wohlverstandenes Interesse handelt als bei irgendeinem anderen Amerikaner, der nach gleichen Prinzipien arbeitet — und es gibt deren Tausende. Die wahre Beschaffenheit einer lebendigen Wirklichkeit erweist sich allemal an ihren lebendigen Wirkungen. Zweifelsohne ist es, aller Theorie zum Trotz, nicht wahr, dass ein Mensch, der wie die Arbeiter in den Ford-Werken, verhältnismäßig wenig Stunden arbeitet, und dabei hoch bezahlt wird, selbstverständlich in der Lage sei, sich in seinen Mußestunden zu einem Kulturmenschen zu entfalten. Wer in dem Maß, wie es dort verlangt wird, acht Stunden am Tag die Rolle eines Zähnchens im Rad einer Maschine spielt, wird zu einem solchen Rädchen. Fords Ideal liegt in der Richtung der Umwandlung des Menschen in eine Termite. Und dieses wiederum beweist dem, der von der menschlichen Seele auch nur das mindeste weiß, dass Ford die Menschen gar nicht frei wissen will. Er ist im Herzen ein Autokrat dessen Ideal wäre, Millionen völlig mechanisierter Ameisen-Menschen — zu ihrem Besten natürlich — zu regieren.

Aber es gibt noch mehr Ähnlichkeiten zwischen der ursprünglich-amerikanischen Einstellung und dem sozialistischen Ideal. Der Sozialismus fordert einheitliche Lebenshaltung für alle. Diese besteht in den Vereinigten Staaten de facto. Wie groß auch die Unterschiede des Einkommens und Reichtums seien — alle Amerikaner leben auf sehr ähnliche Weise. Es ist so schwierig, einen von dem der Mehrzahl qualitativ abweichenden Lebensstil aufrechtzuerhalten, dass die Reichen, denen noch individuelle Idiosynkrasien eignen, einige Monate im Jahr in Europa zubringen, um diese auszuleben. In diesem Zusammenhang bedeutet der Unterschied in den Tatsachen des bolschewistischen Russlands und Amerikas nur einen Unterschied des Wohlstandes; der Standard ist verschieden, aber die Standardisation ist die gleiche. Gleiches gilt von der Lösung der Wohnungsfrage in Amerika und Russland: wenn die Reichsten in New York in engen Etagen leben müssen, während sie vor fünfzehn Jahren noch Paläste bewohnten, so bedeutet dies — wenn man die beiden Ländern zur Verfügung stehenden Mittel bedenkt — eine größere Umwälzung als das russische Gesetz, dass keine Familie mehr als ein Zimmer bewohnen darf. Es gehört zum Lehrreichsten, was mir je vorgekommen ist, diese erstaunliche Ähnlichkeit zwischen dem bolschewistischen Russland und Amerika. Der Unterschied läuft tatsächlich auf einen bloßen Unterschied der Sprache hinaus: der Geist ist der gleiche, welches immer die Ursachen seien, die ihn jeweils zur Betätigung beriefen. Beide Länder sind in ihren Grundlagen sozialistisch. Aber Amerika drückt seinen Sozialismus in der Form allgemeinen Wohlstandes aus und Russland in der allgemeiner Armut. Amerika ist sozialistisch mittels der freien Zusammenarbeit aller, Russland mittels der Klassenherrschaft. Ist überhaupt noch ein Zweifel möglich, dass wir in ein sozialistisches Zeitalter eingetreten sind? Nein, denn die sozialistischen Tendenzen werden in der ganzen Welt verstärkt durch die Begleiterscheinungen der Verjüngung, des herrschenden Tier-Ideals und des allgemeinen Aufstiegs der Massen.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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