Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Privatismus

Geschäftsleben

Ich kann in den Gedankengängen des letzten Abschnitts keinen logischen Fehler entdecken, glaube auch nicht, dass ich die Tatsachen falsch beleuchtet habe. Wenn heute die Politik mehr zu bedeuten scheint als je vorher, so ist das auf das Naturgesetz zurückzuführen, dass die Flamme vor dem Erlöschen noch einmal hoch aufflackert. Freilich glaube ich nicht, dass das neue Kräftegleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft ohne lange Kämpfe und möglicherweise neue Kriege erzielt werden wird. Insbesondere werden wahrscheinlich viele Völker um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit kämpfen müssen. Doch hier bedenke man, dass Kämpfen an sich nicht die Vorherrschaft von Politik oder Militarismus voraussetzt: es ist das natürliche Mittel, mit dessen Hilfe sich einer vom anderen verschafft, was dieser freiwillig zu geben nicht gewillt ist. Dennoch kann schon zur Zeit, da ich schreibe, im Jahre des Heils 1928, das wirkliche Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland nicht nach den Parlamentsreden beurteilt werden, sondern nur nach Abkommen betreffend Erz und Kohlen auf beiden Seiten des Rheins. Andererseits hätte das Abkommen über die Ächtung des Krieges nicht rund zehn Jahre nach dem Weltkrieg, aus dem die Siegervölker streitbarer als es Preußen je war, hervorgingen, unterschrieben werden können, hätte sich das Selbstbewusstsein der Völker nicht bis zu einem gewissen Grad vom Stolz auf Macht und Staat dissoziiert. Nun aber kehren wir zu amerikanischen Zuständen zurück. Bedeutet der gegenwärtige Zustand Amerikas nicht eine Vorwegnahme — wenn auch noch so vorläufiger oder rudimentärer Art — eben des Ziels der europäischen Entwicklung? So ist es in der Tat. Und in dieser Tatsache wurzelt das eigentliche Prestige der Vereinigten Staaten.

Es wurzelt nicht in ihrer ungeheuren Wirtschaftsmacht als solcher, sondern darauf, dass auf deren Grundlage ein neuartiges Gemeinschaftsleben im Entstehen begriffen ist. Vom Standpunkt greifbarer Tatsachen sind die Vereinigten Staaten zweifellos in erster Linie eine ökonomische Einheit; und ein so repräsentativer Mann wie Henry Ford ist sogar so weit gegangen, zu behaupten, dass eine Nation ihrem Wesen nach nichts anderes sei. Doch ganz abgesehen von der Unwahrheit der Behauptung, soweit sie andere Völker betrifft — die Vereinigten Staaten wären nicht das, was sie der Menschheit bedeuten, träfe Fords Behauptung auf sie zu. Eine einzige Erwägung genügt, um dies zu beweisen. Im Bereich rein ökonomischer Interessen ist der reine Egoismus geradezu die Seele des Lebens; ein Geschäft, das sich nicht bezahlt macht, ist auf seiner Sonderebene genau so verkehrt und schlecht wie ein Verbrechen auf der der Moral, oder eine Unwahrheit auf wissenschaftlichem Gebiet oder eine häßliche Erscheinung in der Sphäre der Schönheit. Demzufolge kann Geschäft in den Vereinigten Staaten nicht alles bedeuten. Dies ist denn der Augenblick, sich dessen zu erinnern, dass in wesentlich politischen Gemeinwesen Politik auch nicht alles bedeutet. Die Seele der Politik ist der Wille zur Macht; auch sie verkörpert eine rein egoistische Seite des Lebens. Aber hieraus folgt doch nicht, dass in jedem Staat der Wille zur Macht, alles beherrscht; wäre dem also, dann hätte Machiavellis Fürst als Bibel alles Gemeinschaftslebens zu gelten. Tatsächlich bedeutet die politische Form im Fall einer wohlorganisierten politischen Nation nur die Basis oder den Rahmen, nicht mehr. — Genau das gleiche gilt in den Vereinigten Staaten von der Wirtschaft. Analysiert man eine amerikanische Situation, so erweist sich ein ökonomischer Zusammenhang beinahe ausnahmslos als letztes unreduzierbares Element. Aber der lebendige Gesamtzusammenhang enthält eine große Anzahl anderer Elemente. Hier wird denn wieder einmal klar, wie wesentlich für Amerika sein organischer Sozialismus ist. Wäre das Ökonomische das einzig entscheidende Prinzip, dann müsste das amerikanische Leben das individualistischste und egozentrischste der Welt sein. Soweit es sich um Geschäft handelt, ist dies gewiss der Fall. Die Amerikaner spielen hier ein härteres Spiel — um die treffende amerikanische Redewendung möglichst wörtlich wiederzugeben — als alle anderen Völker; kein Gefühl stört je den logischen Gang des Geschäfts; und wollte jemand drüben das Pendant zu Machiavellis idealem Fürsten darstellen, so würde kein Paragraph des Comments oder Kodex der amerikanischen Geschäftspraxis ihn daran hindern. Solche Geschäfts-Machiavellisten hat es in den Vereinigten Staaten tatsächlich besonders oft gegeben, und dies aus dem gleichen Grund, aus dem politische Machiavellisten in Italien am häufigsten vorkommen: nirgends anders hat je das Prinzip einseitigen Profitwillens — wie in Italien das einseitigen Machtwillens — gleiche Gelegenheit zur Alleinherrschaft gefunden. Allein das Entscheidende ist, dass diese mit jedem Jahr ungünstiger wird. Mit jedem Jahr macht sich der angeborene Sozialismus stärker geltend, so dass die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit z. B. wohl kaum je akut werden können — nicht weil das Problem gelöst ist, sondern weil es sich von vornherein erledigt.1 Erscheint nun nicht auch klar, warum die Vorherrschaft des ökonomischen Prinzips mit der des sozialistischen nicht nur historisch zusammenfallen konnte, sondern musste? Ein Gemeinwesen, in welchem die Wirtschaft die Grundlage des Lebens bildet, kann dann allein zusammenhalten, wenn die sozialen Tendenzen vorherrschen. Andererseits lässt sich ein sozialistisches System irgendwelcher Art nur auf ökonomischer Grundlage aufbauen, denn nur die Wirtschaft sichert Massenexistenz.

Und nun wenden wir uns ohne weitere Umschweife dem absoluten Vorzug zu, den die Vereinigten Staaten vor der übrigen Welt voraus haben. Ist es nicht sonderbar, dass nach dem Krieg, der das Ende allen Kriegs bedeuten sollte, alle die, die noch in der Politik die letzte Instanz sehen, ganz offen noch grausamere Kriege ins Auge fassen? Es erscheint ohne weiteres verständlich, hat man sich einmal klargemacht, dass der Bedeutungsakzent von der Politik auf andere Kräfte übergegangen ist. Denn fortan kann eine Nation nur noch dann auf einen Dauersieg über eine andere hoffen, wenn sie diese völlig vernichtet. Wird dieses Ziel nicht erreicht, dann macht kein Krieg sich mehr bezahlt; denn da die letztentscheidende Macht im Ökonomischen liegt, so kann politische Niederlage Kräfte des Besiegten intakt oder rascher Wiederherstellung fähig bleiben, oder wenn die wirtschaftlichen Kräfte anderer Völker die seinen stützen — was grundsätzlich nur so zu verhindern ist, dass ersterer buchstäblich vernichtet wird. Die traditionelle Auffassung des Staatsmanns kann sich wirklich dann, allein noch behaupten, wenn Gaskrieg, Versenkung von Handelsschiffen, Massenmord an Frauen und Kindern und Versklavung der Besiegten als selbstverständlich berechtigt gelten.

Nun bedeutet der Krieg im Aufbau der Vereinigten Staaten tatsächlich keine innere Notwendigkeit. Krieg ist nur dann unvermeidlich, wenn der Staat als eine seinen Bürgern übergeordnete Größe ein unabhängiges Eigenleben führt; wo und solange das der Fall ist, ist eine Abschaffung des Krieges logisch unmöglich. Ebenso logisch unmöglich ist es, Politik auf Gerechtigkeit zu gründen, weil jene der biologischen Sphäre angehört und diese nicht. Gilt indes das Privatleben als die letzte Instanz, so steht grundsätzlich nichts dem im Wege, widerstreitende Interessen auf dem neuen geologischen Zeitalter entsprechende Weise auszugleichen; um so weniger, als die vornehmlich kriegslustigen Menschentypen, der Staatsmann und der Soldat, dann nicht mehr das letzte Wort haben können. Erscheinen diese heute so kläglich anpassungsunfähig und verständnislos, so ist das zum Teil Ergebnis der Einstellung auf Routine, die unvermeidlich den größten Teil alles Regierungsapparates reguliert, hauptsächlich aber der Einstellung auf Gewalt als letzte Instanz. Die Möglichkeit, Gewalt anzuwenden und vor allem die selbstverständliche Pflicht, in dieser die letzte Instanz zu sehen, wirkt immer abstumpfend auf den Geist. Nun liegt es in der Natur der Dinge, dass Gewalt in der Wirtschaft nie entscheiden kann. Unter richtiger Führung passt diese sich jeder Konjunktur an, wie jeder plastische Organismus sich seiner Umgebung anpasst. Freilich sind die Vereinigten Staaten als Folge des Weltkriegs bis zu einem gewissen Grad militarisiert worden. Es besteht aber ein gewaltiger Unterschied zwischen gesundem, zur Selbstverteidigung bereitem Kriegergeist und imperialistischem Militarismus. So besteht ein unmittelbarer Wesensunterschied zwischen dem Geist, in dem Frankreich Sicherheit und Frieden versteht, und dem Geist des Kellogg-Pakts. Amerika ist es mit der Ächtung des Krieges wirklich ernst, weil Krieg ein Absurdum ist, wo die Grundlagen des Lebens eines Volks privatistisch im Gegensatz zu politisch sind. Für die Vereinigten Staaten könnte der Krieg trotz des Oben gesagten eine innere Notwendigkeit bedeuten, wenn die ewig lebendigen kämpferischen Instinkte keine anderen Ausdrucksmöglichkeiten fänden. Das amerikanische Leben bietet aber solche. Jene Instinkte erfahren drüben keine Verdrängung, weil sie eben die Grundlage des amerikanischen Geschäftslebens bilden. Die Amerikaner spielen und kämpfen grundsätzlich hart. Das Sprichwort All is fair in love and war gilt drüben vor allem im Geschäftsleben. Dies erklärt viele Praktiken, die Europäern unehrlich erscheinen. Aber in noch höherem Maß erklärt es die fairness des amerikanischen Geschäftslebens. Drüben sind geschäftliche Gegner ebenso oft und im gleichen Sinne ritterlich wie Feinde im Vorkriegseuropa. Nachdem sie tagsüber auf Tod und Leben gestritten haben, finden sie sich gern nach sechs Uhr abends als Freunde zusammen. Eben dies wurde vormals von feindlichen Lagern angehörenden Kriegern und Duellanten erwartet. Die gleichen Impulse, die sich in den Kampftraditionen des ritterlichen Europa auswirkten, äußern sich in Amerika darin, dass die Amerikaner im Geschäftsleben hart und zugleich fair spielen.

Dass eine solche Verlegung des Bestätigungsgebiets eines gleichen Impulses möglich war, ist höchst bemerkenswert; an der Tatsache ist aber nicht zu zweifeln. Freilich ist der Mann, der sein Leben aufs Spiel setzt, edler als wer um Geld streitet. Doch hier vergegenwärtige man sich, dass der moderne Krieg nicht mehr ein Edles, sondern ein Scheußliches ist ; er läuft auf eine Massenvernichtung von Menschen hinaus, als handle es sich um Mäuse oder Läuse; nie wieder wird Krieg edler Sport sein. Bedenken wir ferner, dass dieses Zeitalter nun einmal ein ökonomisches ist, woran nichts geändert werden kann; deshalb steht Anerkennung oder Nichtanerkennung dieser Tatsache oder der Versuch, die Vorherrschaft kriegerischer Gesinnung wiederherzustellen, überhaupt nicht mehr in Frage. Problem ist einzig und allein, ob auch das Ökonomische den Kampftrieben einen Ausweg bietet oder nicht, und ob ein Ehrenkodex auch dort ihre Auswirkung adeln kann.

Hier wären wir denn an dem Punkte angelangt, wo wir dem größten Vorzug des inneren Zustandes der Vereinigten Staaten gerecht werden können. Auch im Nachkriegseuropa ist die wahre Grundlage des Lebens ökonomisch. Allein die herrschenden Ideale und Vorurteile wollen es nicht wahrhaben. Demzufolge herrscht in Europa eine zwar verhaltene, doch desto ungeheuerliche Gier nach materiellen Gütern, gepaart mit ständigen Klagen über Materialismus und einer Verurteilung aller, die nach einem hohen Lebensstandard streiten, im Namen von Idealismus irgendwelcher Signatur. Das Ergebnis ist Unaufrichtigkeit und Cant und vor allem ein wahrhaft erschreckendes Maß von Missgunst, Ressentiment, Neid, Scheelsucht und gegenseitiger Verurteilung. Diese Erscheinungen treten am häufigsten bei denen auf, die sich ex officio Idealisten heißen. In den Vereinigten Staaten, wo Interesse an wirtschaftlichem Fortkommen bewusst als berechtigt anerkannt wird, fehlen diese so häßlichen, auf Verdrängung und Unaufrichtigkeit zurückgehenden Erscheinungen in der allgemeinen Atmosphäre vollkommen. Für dieses Fehlen führte ich in früheren Zusammenhängen schon verschiedene Gründe an. Aber der vornehmste und tiefste ist der zuletzt erwähnte. Jeder Normalmensch, ob Mann oder Frau, möchte sein bequemes Auskommen haben, womöglich reich sein; selbstverständlich, denn ein hoher materieller Lebensstandard ist das Normalideal des Menschentiers. Nur jene äußerst Seltenen, in denen der Geist vorherrscht und die überdies dem asketischen Typus angehören, stellen echte Ausnahmen dar. In Amerika nun gesteht dies jedermann sich selbst und anderen ehrlich ein; daher fehlen entsprechende Verdrängungen. Und der Erfolg ist — nicht Wachstum der Gier, nicht Dollarwahnsinn, wie ihn das Unbewusste des Europäers auf Amerika hinüberprojiziert, sondern die Vorherrschaft generöser Gesinnung, ein allgemeiner Wunsch, zu geben und auszugeben, eine unwillkürliche allgemeine Anwendung des Grundsatzes leben und leben lassen. In den Vereinigten Staaten gibt es so gut wie keine Geizhälse; fast jeder gibt großzügig, auf russische Art, sein Verdienst aus. Wer reich wird, tut ohne allen Druck von außen her sein möglichstes für die Gemeinschaft. Die Ursache dessen ist die, dass es das einzig Normale ist, sein Geld auszugeben, denn Geben ist alles unbeeinträchtigten Lebens Wesen; überdies ist Geld ein wesentlich Fließendes, es will geradezu aus einer Hand in die andere übergehen, so dass das Eigengesetz der Menschennatur und das des Geldes sich gegenseitig stärken. Endlich ist der Wille zum Mammon niemals unbegrenzt, weder im Sinn der Menge noch in dem der Zeit; sobald er in dem für das innere Gleichgewicht des Betreffenden erforderlichen Maße erfüllt ist, macht sich der Trieb, zu geben, ohne wieder nehmen zu wollen, desto stärker geltend. Die Dinge liegen hier genau so wie in Frankreich auf dem Gebiet des Eros. Im Vorkriegseuropa gestanden sich die Menschen dessen Forderungen offen nur in Frankreich ein, mit dem Erfolg, dass die sinnliche Atmosphäre allein in Frankreich rein und ihr jeweiliger Niederschlag nicht häßlich, sondern schön war. Als ich die Vereinigten Staaten verließ, erklärte ich meinen Freunden, mir sei, als hätte ich eine moralische Erholungskur hinter mir. Freilich ist drüben vieles durchaus nicht, wie es sein sollte. Dennoch ist die moralische Atmosphäre im großen und ganzen reiner als im heutigen Europa.

1 Vgl. das Kapitel Spannung und Rhythmus von Wiedergeburt, welches ausführlich darstellt, dass lebendige Konflikte niemals gelöst, sondern nur erledigt werden können, indem das Leben sich auf eine höhere Ebene erhebt, auf der die Probleme niederer sich nicht mehr stellen.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
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