Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Privatismus

Kultursehnsucht

Wir haben nunmehr so viel als erforderlich war, von dem, was an den Tatsachen und Möglichkeiten des amerikanischen Privatismus positive Bedeutung hat, behandelt. Wenden wir uns jetzt seinen negativen Seiten zu. Diese liegen auf der Hand. Sie vor allem bieten das Material für alle berechtigte Kritik. Auf dem Hintergrund des Gesagten werden sie jedoch eine neue und hoffnungsvollere Bedeutung gewinnen.

Der italienische Philosoph Luigi Valli hat mit Recht bemerkt, dass der innere Reichtum und die Größe Europas ihr Dasein an erster Stelle der durch das Zusammenwirken dreier grundverschiedener und unvereinbarer Prinzipien erzeugten Spannung danken: nämlich der christlichen Religion, des Kriegerethos und des technischen Unternehmungsgeistes. Für diese drei Prinzipien ist in der Tat kein Generalnenner denkbar, aber jedes einzelne bringt eine der grundlegenden positiven Tendenzen der Menschen zum Ausdruck. Europas Beitrag zum Werteschatz der Menschheit ist einzig, weil die Interferenz dieser im Grunde inkompatiblen Tendenzen einseitige Entwicklung und ein Sich-zur-Ruhe-Setzen in einem statischen Endzustand unmöglich machte. Nun ist, gewiss, dass das Amerika von heute mit insektenhafter Ausschließlichkeit auf das Ökonomische allein bedacht ist, was unvermeidlich das Niveau des amerikanischen Lebens senkt im Vergleich zu jedem von mehr als einem Ideal beherrschten Leben, und zumal im Vergleich zu von spirituellen Idealen beherrschtem Nationalleben. Selbst hier sei zunächst einiges zugunsten Amerikas gesagt. Unter keinen anderen Bedingungen konnte der allgemeine Wohlstand so schnell zunehmen; unter keinen anderen konnte das Social-Service-Ideal so leicht seinen Ausdruck in allgemeinem Wohlergehen finden; unter keinen anderen Bedingungen konnte das, was nun einmal das Ideal des geologischen Zeitalters des Menschen sein muss — dass alle Werte entsprechende materielle Vergütung erfahren —, gleich vollständig realisiert werden. Nur dort, wo alles, wie in Amerika, nach Dollar- und Centbegriffen beurteilt wird, kann alles Geld, das überhaupt zu verdienen ist, tatsächlich verdient werden oder leisten, was es zu leisten vermag. Trotzdem herrschen die üblen Aspekte der amerikanischen Einseitigkeit leider vor. Kriege werden nach dem Maßstab materiellen Gewinnes und Verlustes beurteilt, Kirchen nach ihrem Erfolg, geistige und spirituelle Werte danach, ob mit ihnen Geld zu machen sei oder nicht — unter diesen verengenden Umständen erscheint der Privatismus einem Zustand prädominierenden Krieger- oder Staatsmannsethos nicht überlegen, sondern als ein unbedingter niederer Zustand. Und greift nicht bald eine andere, von anderen inneren Tendenzen ausgehende Kausalreihe ein, dann wird es immer schlimmer werden, denn jede Entwicklung hat ihre eigene Logik und ihr eigenes Gefälle. Nicht besser steht es, wenn nicht zwar Reichtum den Maßstab abgibt, sondern Glück oder Behagen oder Beliebtheit oder Frieden, als Fehlen aller unangenehmen Spannungen verstanden. Aller wahrhaft menschliche, das heißt innerliche, Fortschritt steht und fällt ja mit der Fähigkeit, Spannungen niederer Art zu ertragen und sie in solche höherer Ordnung umzusetzen. Ferner bedeutet Geschäft noch lange einer großen Mehrheit so gut wie alles, dann wird gerade das Privatleben alle Bedeutung und alle Macht zugunsten von Dingen verlieren. Darin wird das Gesetz der Enantiodromia, der Umkehrung ins Gegenteil, einsetzen. In einer höchst bemerkenswerten Hinsicht ist dies bereits der Fall; einer Hinsicht, die leicht für das amerikanische Gesamtleben symbolisch und symptomatisch werden kann. Das Volk, welches das Privatleben am höchsten einschätzt, führt ein Dasein hemmungslosester und schamlosester Publizität. Es gibt nichts, was in Amerika nicht veröffentlicht werden dürfte. Die Bedeutung dieser Erscheinung wird am schnellsten am Vergleich mit englischen Verhältnissen klar. Die Engländer sind das politische Volk par excellence. Daher spielt die Idee des Forums und seiner Materialisationen die ausschlaggebende Rolle. Da dies jedoch im richtigen Verhältnis zur Ganzheit des Lebens geschieht, so sichert gerade der auf das öffentliche Leben gelegte Nachdruck dem wesentlich Privaten größere Unantastbarkeit, als es solche irgendwo sonst genießt. In den Vereinigten Staaten gibt es kein als solches anerkanntes öffentliches Leben. Aber ebendarum ist dort nichts wirklich privat.

Der amerikanische Privatismus von heute ist allerdings alles eher als vorbildlich. Und dennoch geht er mit einer positiveren Zukunft schwanger, als irgendein anderer nationaler Zustand. Alle modernen Menschheitsideale ohne Ausnahme sind auf seiner Grundlage allein der Verwirklichung fähig; selbst das im Völkerbund verkörperte Ideal, selbst jene Rechtsreform, an der alle fortschrittlichen Länder arbeiten — eine Reform, deren ideologische Voraussetzung ist, dass der innere Sinn einer Handlung wichtiger ist, als was sie innerhalb beliebiger abstrakter oder formaler Ordnung bedeuten mag. Die Politik muss an Bedeutung einbüßen; der Krieg muss allgemein als Schmach und Schande gelten, wenn unter den Menschen das Prinzip der Solidarität im Gegensatz zu dem des Daseinskampfes vorherrschen soll, wenn alle ein anständiges und menschenwürdiges Leben führen, wenn kulturelle Werte in letzter Instanz entscheiden und zugleich Geisteserbe aller Menschen werden sollen.

Die Vereinigten Staaten werden unter allen Umständen geraume Zeit brauchen, um das schlimme Erbe ihrer jüngsten Vergangenheit von innen heraus zu überwinden. Zweifelsohne klingt alles im letzten Abschnitt Gesagte mehr als ernst: es klingt besorgniserregend. Aber ich bin überzeugt: die Vorsehung wird die Vereinigten Staaten mit den Schwierigkeiten begnaden, deren sie bedürfen, um auf ihrem besonderen Weg ihre Vollendung zu erreichen. Kein Volk — so wenig wie der Einzelmensch — ward jemals groß, ohne Zeiten schwerster Prüfungen zu überstehen. Und da drüben gegenwärtig (1928) ein nie dagewesener allgemeiner Wohlstand herrscht, bedürfen sie entsprechend großer Widerwärtigkeiten, um aus jener Schale der Engigkeit, die unvermeidliches Schicksal aller Satten ist, herauszuwachsen oder sie zu sprengen. Denn den Satten, nicht den Reichen als solchen, galt Jesu Fluch. Doch die schweren Zeiten, die Amerika braucht, werden gewisslich kommen. Bisher bezeichnete der Privatismus eine ausschließlich amerikanische Weltanschauung; und solange die Vereinigten Staaten für sich blieben, ging alles gut. Doch als Ergebnis des Weltkriegs sind sie zur größten und reichsten Macht der Welt geworden. Jetzt bringen sie ihre besondere Auffassung in ihren Beziehungen zu anderen Völkern machtvoll zur Geltung. Sie betrachten ihre Darlehen an Völker im Geist von Geschäftskredit; sie behandeln Kriegssubsidien wie gewöhnliche Darlehen. Aber kein anderes Volk sieht die Dinge so. Die meisten sind noch in erster Linie politisch oder kriegerisch eingestellt — die Nichtanerkennung einer Staatsschuld bedeutet ihnen nichts, verglichen mit dem Verlust von Unabhängigkeit und Ehre. Da aber andererseits die meisten anderen Völker arm sind, und die Vereinigten Staaten ihr Geld anlegen müssen, so werden jene unvermeidlich immer mehr in die Schuld der letzteren geraten. Dieser Zustand kann nicht umhin, zu Konflikten zu führen, um so mehr als bisher noch kein Verteidigungsmittel gegen finanzielle Bedrückung und Invasion ersonnen worden ist. Aus diesen Konflikten könnten die Vereinigten Staaten in unserem technischen Zeitalter leicht ohne inneren Gewinn siegreich hervorgehen, spielte nicht ein Umstand mit, der einerseits den wunden Punkt des amerikanischen Privatismus von heute darstellt, andererseits aber die größte Gewähr für eine bessere Zukunft bietet. Heute herrscht in Amerika die Vorstellung, nicht nur dass ein hoher Lebensstandard das Vorrecht aller sein sollte, sondern dass auch keine niedrige Arbeit zu verrichten sein darf. Dies aber widerspricht der Weltordnung. Wie hoch auch der Allgemeinstandard gehoben werde, wieviel Arbeit die Maschine dem Menschen abnehme — immer wird alle Art Arbeit zu verrichten sein. Schon heute hat das landläufige Vorurteil tatsächlich dahin geführt, dass alle nicht geradezu reichen, gebildeten Amerikaner viel Zeit auf eine Hausarbeit verwenden müssen, die in allen anderen Teilen der Welt nur von gewissen Klassen besorgt wird, deren Mitglieder nur ganz selten zu anderem befähigt sind. So ist das wahre, wenn auch paradoxale Ergebnis des herrschenden Ideals des hohen Lebensstandards eine — Senkung des Allgemeinstandards. Nur die Allerreichsten erfreuen sich so vieler Muße, wie sie alle Nichthandarbeiter noch in der alten Welt genießen. Dass die Amerikaner nicht merken, dass Muße und die Möglichkeit, individuellen Neigungen nachzugehen, viel mehr bedeuten als noch so viel Geld, das aber diese Vorteile nicht erkaufen kann, ist einer der interessantesten mir bekannten Fälle vorurteilgeborener Blindheit.

Doch genug der Sondererwägungen. Der springende Punkt scheint mir der folgende zu sein: Amerika wird seinen gegenwärtigen Standard innerhalb einer engverknüpften Menschheit dann allein aufrecht erhalten können, wenn die Gesamtnation eine privilegiertere Stellung erreicht, als je eine Einzelkaste oder -klasse sie besaß. Dazu aber kann es nicht kommen. Denn zu dem Ende müssten viele Kriege ausgefochten werden, die in jedem Fall alle vorhandenen Sicherheitsmaßstäbe vernichten würden. Ferner bedeutete die Besiegung und Versklavung anderer Völker einen Widerspruch gegen alle im Amerikanerherzen lebendigen Ideale. Aber selbst abgesehen von alledem: sobald ein Sehnen nach Kultur in weiteren Kreisen erwacht, wird der gegenwärtige Zustand dem Volk als solchen unerträglich dünken. Eine Prosperität, die jede individuelle Variation unmöglich macht, löste schließlich nicht nur Widerwillen aus, — sie würde als schlimmste Sklaverei empfunden werden. Und nicht nur Kultursehnsucht würde den gegenwärtigen Wohlstand unterminieren — gleiches erzielte bald jede beliebige Form von Idealismus. Ein sehr prominenter Amerikaner soll gesagt haben:

Sparsamkeit ist Idealismus in seiner praktischsten Form.

Ich bestreite nicht, dass solcher Idealismus auf ökonomischem Gebiet überaus erfolgreich sei — sicher aber lässt er alle wahren idealen Strebungen unbefriedigt, und Idealismus ist eine amerikanische Grundeigenschaft. So berechtigt denn alles zu der Hoffnung — das sei dieses Kapitels letztes Wort — dass die amerikanische Nation nach noch so vielen Kämpfen und Enttäuschungen aus seiner gegenwärtigen Engigkeit den Weg zu jener allgemeinen Weite und Breite finden wird, die allein mit dem Geist des amerikanischen Kontinents in Einklang steht.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
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