Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Demokratie

Grundgebrechen

Wenden wir uns jetzt den Hauptgebrechen der heutigen amerikanischen Demokratie zu, aus dem Gesichtswinkel dessen, ob und wie sie zu beheben sind. Dass wir dabei auf schon Gesagtes zurückkommen, liegt in der Natur der Sache: jedes wahrhaft vitale Problem einer Nation liegt notwendig all ihren Äußerungen zugrunde.

Das erste Grundgebrechen ist die Übertreibung der modern-westlichen Zivilisation überhaupt: der Herrschaft der Dinge über den lebendigen Menschen. Dieses tritt in den Vereinigten Staaten deswegen übertrieben in Erscheinung, weil dort die Herrschaft des Tier-Ideals eine allgemeine behavioristische Gesinnung gezeitigt hat, die sich unaufhaltsam dahin auskristallisiert, dass Institutionen für wichtiger gelten als der Mensch. Ist es ihr Geist, und nicht seiner, der letztlich bestimmt, dann muss er sich dem Bilde nicht Gottes, sondern der Fabrik gemäß entwickeln. So allein erklärt es sich, dass Demokratie in den Vereinigten Staaten den Sinn erlangen konnte, dass ein Mensch dem anderen zu gleichen hätte, wie eine standardisierte Ware der anderen. Dass diese Auffassung nur Unheil zeitigen kann, ist klar. Normierte Automobile sind recht und gut: normierte Menschen untermenschliche Erscheinungen. Von hier aus können wir auch besser als bisher die ganze Furchtbarkeit der Gefahr würdigen, die das Ideal der Produktion als Ziel an sich einschließt: werden die Menschen immerzu als Produktions- und Konsumtionsmaschinen gedacht, dann muss Unmenschliches auf die Dauer zwangsläufig zur Vorherrschaft gelangen. Dies aber muss seinerseits in zwei Beziehungen zugleich den Tod wahrer Demokratie vorbereiten. Deren erste ist die, dass die Maschine und nicht der Mensch regiert; da kann vom anderer als Sklaven- oder bestenfalls Sklavenaufseher-Freiheit nicht die Rede sein; hier konvergieren Amerikanismus und Bolschewismus wieder einmal.

Die zweite Beziehung, die ich hier meine, ist die, dass nur die Vertreter des Produktionsprozesses zählen. Dies bedeutet an sich schon Klassenherrschaft, und zwar die Herrschaft der geistig wenigst wertvollen Klasse. Dem Sinn nach bedeutet sie insofern Schlimmeres als die von Russland, weil der ökonomisch, nicht der geistig Produktive den Typus schafft. Jener ist nun, seitdem der Mensch die Herrschaft über die Naturkräfte erlangt hat, von Hause aus der mächtigste im materiellen Sinn; er ist ebenso grundsätzlich überlegen, wie es der Krieger in Kriegerzeitaltern war, und relativ mächtiger als irgendein früherer Führertyp. Deswegen würde die ausschließliche Herrschaft der ökonomischen Klasse unweigerlich den Extremstausdruck der Herrschaft einer einzigen Klasse darstellen. Wohl liefe sie einerseits auf eine Art von Aristokratie hinaus, weil nur Ausnahmegeister Massenproduktion organisieren können; so wird die Demokratie in Amerika sicher früher foolproof (narrensicher) gemacht werden als irgendwo sonst. Im Staate New York ist dieses Ziel insofern fern schon erreicht, als das Wahlrecht an das Bestehen eines scheinbar kindisch leichten Examens geknüpft ist, bei dem aber ein ungeheurer Prozentsatz regelmäßig durchfällt — wo immer der Geschäftsgeist prädominiert, wird es leichter sein, als wo Politik an erster Stelle steht, den schreiendsten Missständen des allgemeinen Wahlrechts abzuhelfen. Allein dieser Aristokratie würden gerade die Tugenden fehlen, welche für wahre Aristokratie bezeichnend sind. Viele fürchten, wirtschaftlicher Cäsarismus möchte die Endform der amerikanischen Demokratie werden. Diese Befürchtung teile ich nicht. Erstens dürfte gerade ein amerikanischer Cäsarismus besonders bald zur Bildung einer wahren Aristokratie führen, denn wenn alle Gier nach Reichtum und Macht befriedigt ist, richtet der Mensch natürlicherweise den Blick auf die Dinge und Werte, die ihm fehlen. Doch der wahre Grund, weshalb ich die Entwicklung eines ökonomischen Cäsarismus nicht fürchte, ist der, dass etwas sehr viel Schlimmeres im Bereich der Wahrscheinlichkeit liegt: eine Zweiklassenherrschaft, in der Arbeitgeber und -nehmer zusammen die höhere Einheit der ökonomisch produktiven Klasse bilden würden.

Dank dem organischen Sozialismus Amerikas besteht in der Tat weit mehr Aussicht einer Entwicklung auf Cäsarismus hin, wie in der Richtung zur Diktatur des Proletariats. Um so mehr besteht dafür Gefahr, dass Kapitalisten und Arbeiter sich gegen alle Nichtproduzenten zusammenschlössen. Dies nun würde den Endsieg des Tier-Ideals gegenüber jedem Kultur-Ideal bedeuten. Diese Beobachtung mussten wir gerade in diesem Kapitel anstellen, weil es gerade die demokratische Verfassung in ihrer jetzigen Form ist, die ihm zum Sieg verhelfen würde. Diese Verfassung ist das Werk eines Zeitalters, dessen Geist dem wirklichen Geist unserer Zeit fast schon so fern ist, wie der des klassischen Griechentums. Daher enthält die offizielle Verfassung nichts, was die Auswirkung der vorhandenen realen Kräfte hindern könnte. Um so weniger, als beinahe alle Amerikaner noch in Begriffen der Aufklärung denken und es daher keine Lüge bedeutet, wenn das Vorhandensein antidemokratischer Tendenzen geleugnet wird.

Richten wir unsere Aufmerksamkeit nunmehr auf das zweite Grundgebrechen der amerikanischen Demokratie: ihrem eigenen Gefälle überlassen, wird sie unvermeidlich ein Kasten-System aus sich hervorbringen, und zwar meine ich hier weder die obenbeschriebene Klassenherrschaft, noch auch die Frauen als höhere Kaste, sondern ein Drittes, das zunächst neben den bisherigen Schichtungen bestehen und dann auf die Dauer prädominieren muss. Ich meine Kaste im allerbanalsten Sinn gesellschaftlicher Exklusivität. Heutzutage ist es bekanntlich am leichtesten, Macht zu gewinnen und zu erhalten, wenn sie offiziell nicht anerkannt und auch nicht sichtbar ist. Unter diesen Umständen schafft allgemeiner Glaube an Gleichheit und ihr Zur-Schau-Tragen heutzutage — so paradox dies klingt — den idealen Nährboden für das Wachstum abgeschlossener Kasten. Haben diese offiziell nichts zu sagen, beruhen sie ganz und gar auf gesellschaftlicher Exklusivität — wer soll sie stürzen, wo sie einmal bestehen? Sie würden keinerlei Können verkörpern, da alles Können in der Neuen Welt von vornherein in anderen sozialen Gebilden reichliche Betätigung findet. Nichtsdestoweniger aber könnten sie auf die Dauer zu solcher Macht gelangen, dass sie die ganze amerikanische Politik, gleichviel auf welcher Ebene, diktieren würden. Ich wüßte nicht, wie das anders kommen sollte, wenn Vermögen fernerhin wie heute vererbbar bleiben, und wenn die Religion des Wohlstandes und der Gleichheit auch nur noch wenige Jahrzehnte weiterherrscht. Dann aber muss sich auch bald das aktiv-Negative dessen auswirken, dass die Idee der Kaste von denen des Könnens, des Verdienstes und der moralischer Verpflichtungen völlig dissoziiert erschiene. Es ist eine durch alle Geschichte bewiesene und erhärtete Tatsache, dass die Nachkommen von Self-made-men, die durch harte Arbeit aus sehr untergeordneten zu sehr hohen Stellungen aufstiegen, sehr selten im biologischen Sinn gut ausfallen; meistens entarten sie in spätestens drei Generationen. Die Erklärung haben die richtig gedeuteten statistischen Untersuchungen Ludwig Flügges gebracht: Der Mensch muss gegen die Wirkungen des Luxus fast im gleichen Verstande immunisiert werden, wie gegen Blattern, wenn er als Rasse weiterleben soll; daher denn, je älter eine Kultur, die Chancen für Mitglieder alter im Gegensatz zu neu hochkommenden Familien nicht desto schlechter, sondern desto besser werden. Diese eine Erwägung allein erklärt den Eindruck der Entvitalisierung, den ein erstaunlicher Prozentsatz reicher Amerikaner im Vergleich mit Europäern macht. Kommen dergestalt Vitalitätsmangel, fehlende Aufgabe und ungeheure Macht zusammen, so kann einem schon angst und bange werden vor dem möglichen Endstadium der amerikanischen Demokratie …

Die dritte und größte Gefahr, die in deren normalen Entwicklungsgefälle liegt, ist in entgegengesetzter Richtung zu suchen. Alles spricht dafür, dass sich in den Vereinigten Staaten trotz aller Kastenexklusivität eine so große Gleichförmigkeit des sozialen Typs entwickeln wird, dass dadurch jede kulturelle Differenzierung unmöglich werden könnte. Und damit meine ich hier Tieferes als die schon betrachtete Wirkung der Standardisation. Gleichmachung im äußerlichen Verstand braucht die Individualität noch nicht zu vernichten; dies beweist jeder Orden und jede Armee. Doch sie wird unweigerlich vernichtet, wenn die Unterschiede inneren Seins jede Bedeutung einbüßen. Und das ist in Amerika schon heute in erschreckendem Maß und Grad der Fall: gerade als Seinstypen konvergieren die Vertreter der exklusivsten Koterien und die mächtigsten Finanzmagnaten mit dem Mann auf der Straße. Ursprünglich ward die Demokratie gerade in der Hoffnung errichtet, dass sie zu einer Schichtung nach wahren und nicht nach imaginären Qualitätsunterschieden führen würde; das heißt die Gleichberechtigung sollte die Grundlage desto reicher ausgeschlagener Mannigfaltigkeit sein. Gleichsinnig fordert, der legitime Erbe der Ideale des Liberalismus, der echte Sozialismus, so wie ihn Bernard Shaw versteht, Gleichheit des Einkommens nicht, auf dass jeder sei wie jeder andere, sondern um Unterschiede anderer Ordnung als des ökonomischen Könnens und finanzieller Macht Äußerungs­möglichkeit zu schaffen. Auch in Europa hat der demokratische Glauben die Menschheit nicht reicher gemacht, aber er hat sie wenigstens nicht innerlich ruiniert. In Amerika hat er dies insofern tatsächlich getan, als er nicht allein die absolute Vorherrschaft eines einzigen Typs, sondern sogar die Ersetzung aller früheren und anderen durch diesen gezeitigt hat. Was der Bolschewismus für den von ihm allein bejahten Typus erhofft, hat Amerika für den Mann auf der Straße tatsächlich erreicht.

Ich wüßte wenige lehrreiche Schauspiele auf Erden: alle Eingeborenen eines gewaltigen Kontinents, dessen offizielles Gesetz Freie Bahn dem Tüchtigen heißt, gehören dem gleichen Typus an, oder entwickeln sich auf ihn hin, oder, was mehr ist: gehören sie dem gleichen Typus nicht wirklich an, und entwickeln sie sich nicht auf ihn hin, so möchten sie es doch. Es ist das logisch notwendige Ergebnis eines demokratischen Systems, welches allen Nachdruck auf Können legt und von Seinsunterschieden gänzlich absieht.1 Da der Mensch wesentlich frei ist, bilden sich alle Teile und Funktionen seines psychischen Organismus, die er nicht bewusst betont, zurück, was bis zur Verkümmerung und Entartung gehen kann. Und da das Sein eines Menschen von seinem Können wesensverschieden ist, so vermag keine Differenzierung und keine Höherentwicklung auf der Ebene des letzteren des ersteren Niveau zu heben. Im Gegenteil, wird Können überbetont, dann muss dies unmittelbare Senkung des Seinsniveaus zur Folge haben. Hiermit hielten wir denn die tiefste Wurzel der amerikanischen Äußerlichkeit. Ist keine differenzierte Einzelseele Wurzel sowohl als Hintergrund des differenzierten Könnens, dann kann dieses sich nie über die Ebene des bloß Instrumentalen erheben. Bestenfalls drückt es das aus, was der Virtuose im Gegensatz zum Musikschöpfer darstellt; gewöhnlich aber ist es bloß Ausdruck der — Nichtexistenz der Seele …

Aus allen betrachteten Nachteilen resultiert denn die Vorherrschaft des unglaublichsten Ideals, an das die Menschheit je geglaubt hat — des Ideals des Mannes auf der Straße. Es bedeutet keine Vorwegnahme höherer Wirklichkeit seitens der Phantasie, sondern, ganz im Gegenteil, um die Idealisierung eines faktischen Zustandes, über welchen hinauszuwachsen oder dem zu entgehen einem Menschen oder einem Volke die Kraft fehlt — ein Kunstgriff, dessen sich das Unbewusste gern bedient, um sonst unerträgliches Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Wer ist nun der Mann auf der Straße? Er ist durchaus nicht der von Jesus selig gepriesene geistig Arme — er ist der Mensch ohne Einzigkeit. Wer sich mit dem, was er mit schlechthin allen gemein hat, identifiziert, der verleugnet damit recht eigentlich sein Menschentum als geistige Qualität und Wertbestimmtheit. Hier liegt der tiefste Sinn jener Unmenschlichkeit, die den anderen Völkern immer wieder als Grundeigenschaft dieses doch so freundlichen und im banalen Sinn besonders menschlichen Volkes auffällt. Rückblickend kann ich aus eigener Erfahrung feststellen, dass die mit allem zuletzt Betrachteten zusammenhängende Niveausenkung im Lauf der letzten zwanzig Jahre in erschreckendem Maße fortgeschritten ist. Als ich die Vereinigten Staaten zum erstenmal besuchte, dachten die Universitäten noch nicht daran, sich selbst als demokratisch in dem Verstand zu preisen, dass innerhalb ihrer für überlegene Typen kein Raum sei. Heute ist dies beinahe die Regel. Heute stehen wir vor der Ungeheuerlichkeit, dass die amerikanische Gesellschaft tatsächlich eine Einklassengesellschaft ist, und dass die meisten glauben, es könne nur eine soziale Wahrheit geben — jede Ausnahme von der Regel sei recht eigentlich Häresie. Dieser Zustand völliger Undifferenziertheit vom Standpunkt des Seins ist das hervorstechende Merkmal der amerikanischen Demokratie von heute.

Da überall im Leben das Äußere seinen Seinsgrund in Innerlichem hat, so erklärt jene Undifferenziertheit auch die äußerlich angesichts der obwaltenden Vermögensunterschiede überhaupt nicht erklärbare Tatsache, dass es im reichen Amerika kaum mehr Unterschiede der Lebenshaltung gibt wie im hungernden Russland. In beiden Ländern herrscht eben die Idee, dass es keine Unterschiede geben soll. Hier wäre denn ein Wörtlein über die Einfachheit von Amerikas großen Männern, auf die ihre Heimat so stolz ist, am Platz. Jeder große Mann ist selbstverständlich einfach in dem Sinn, dass er natürlich und unbefangen ist, wo andere ihm dies durch Unverständnis nicht unmöglich machen. Sind aber die amerikanischen Großen wirklich Männer auf der Straße, so kann dies nur das eine bedeuten, dass sie nicht groß sind. Tatsächlich sind die meisten von denen, welche die öffentliche Meinung als höhere Wesen verherrlicht, überaus gewöhnliche Leute, weil eben der amerikanische Mann auf der Straße Überlegenheit als Geschäftstüchtigkeit und Reichtum versteht, wo kein Geschäftiger je innerlich groß ward und innere Größe nur in exzeptionellen Fällen zu Reichtum führt. Andererseits nun drückt die Standardisierung des amerikanischen Lebens und die Macht der öffentlichen Meinung ihrerseits den überlegenen Typus, wo vorhanden, herab.

Dies führt uns denn von einer neuen Seite her zu einer Bestimmung des amerikanischen Typus. Es ist viel leichter, den Amerikaner zu definieren als den Repräsentanten irgendeiner anderen Nation, einfach weil es nirgends so viele typische Individuen gibt. Nichtsdestoweniger sind die meisten mir bekannten Definitionen unzutreffend. Der amerikanische Mann auf der Straße ist nicht der Bruder des europäischen Mittelstandsmenschen. Sie zu identifizieren bedeutet beiden gegenüber Ungerechtigkeit. Gegenüber dem Amerikaner, weil dieser großzügiger, selbstsicherer, von größerer Selbstachtung und generöser ist; gegenüber dem Europäer, weil der europäische Mittelstand trotz seiner Engigkeit der unerschöpfliche Nährboden individueller Differenziertheit war und heute noch ist, weshalb die in ihm verkörperte Typisierung keinen wirklichen Individualitätsverlust bedeuten kann. Hier bietet wiederum Russland die einzige Analogie zu Amerika. Das proletarische Selbstbewusstsein und Ehrgefühl des Bolschewisten sind dem amerikanischen sehr ähnlich. Doch zutiefst gleichen Amerikaner und Bolschewisten sich darin, dass beide uniformierte Typen sind und dass die Gleichheit der Oberfläche nicht Ausdruck eines inneren Prinzips ist, sondern der Erdrückung des Einzelnen durch die Gemeinschaft.

1 Ich weise hier auf den Sein und Können betreffenden Abschnitt des vorhergehenden Kapitels zurück.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
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