Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Moralismus

Vorherrschaft der Gewohnheit

Zum Schluss möchte ich das über die Möglichkeit, eine große Zivilisation auf moralistischer Grundlage aufzubauen, Gesagte etwas näher ausführen. Ich sage moralistisch im Unterschied zu moralisch; denn die Grundlagen jedes guten Gemeinschaftslebens sind selbstverständlich moralisch, da Moral nichts anderes als Form und Ordnung überhaupt bedeutet. Zu diesem Zweck will ich in wenigen Worten zu zeigen versuchen, was im amerikanischen Leben schon heute vorbildlich erscheint. Dies erreiche ich am leichtesten, indem ich einen Abschnitt aus Lucien Romiers Buch Qui sera le maitre, L’Europe ou l’Amérique? kommentiere. Romiers sagt (p. 158):

Die amerikanische Demokratie erzieht die Massen durch Moralismus, während die europäischen sie mit Intellektualismus füttern. Der Kultus des (guten) Gewissens und der Regeln des praktischen Lebens haben sich als sozial wirksamer erwiesen als abstraktes Wissen und intellektuelles Vorurteil. Die Definition der sozialen Lage in den Vereinigten Staaten ist mit wenigen Worten zu geben: Freiheit des Denkens, aber Gleichheit und Dogmatismus in bezug auf das Verhalten. Auch die Moral ist standardisiert.

Und auf p. 160 fährt er fort:

Auf den Puritanismus sind sowohl Individualismus des Denkens und Glaubens wie moralischer Kollektivismus zurückzuführen.

Es ist in der Tat unmöglich, intelligente Menschen zu gleichem Denken zu bringen, es sei denn, man raube ihnen ihre individuelle Intelligenz. Wohl aber ist es möglich, ein im Verhalten und Gewohnheiten gleichartiges Gemeinwesen zu schaffen. In diesem Sinn haben alle einheitlichen Kulturen eine nicht-intellektuelle Grundlage gehabt. Wird nun das im Verhalten und den Gewohnheiten enthaltene moralische Element betont, und ist die betreffende Moral im Ganzen dem Besten im Menschen gemäß; gelten andererseits Ideen, Glaubensvorstellungen und Meinungen als solche als praktisch belanglos — so können die verschiedenartigsten, ja die widerstreitendsten Individuen sich als Einheit empfinden. In früheren Zeiten gab meist die Religion den nötigen Kitt ab; so erhob Konstantin der Große, der skrupelloseste Machiavellist aller Zeiten, das Christentum zur Staatsreligion, weil er kein anderes Mittel fand, die zentrifugalen Kräfte des römischen Reichs neu zu sammeln. Auch in den Vereinigten Staaten spielt die Religion eine große Rolle. Eigentümlicherweise aber vertreten die Kirchen dort an erster Stelle nicht das Dogma, sondern die Moral; ebendeshalb kann die römisch-katholische Kirche dort und dort allein mit den protestantischen friedlich zusammenarbeiten. Dies zeigt uns denn, dass Moralismus letztlich die Vorherrschaft der Gewohnheit vor dem Denken bedeutet, was allein die Grundbegriffe der amerikanischen Philosophie erklärt; und Gewohnheit ist das Konservativste und Verbindendste am ganzen Leben. Hier nun hängt die Entscheidung über den Wert von der Beschaffenheit der angenommenen Gewohnheit ab, und in dieser Hinsicht ist gegen die amerikanische Moral freilich reichlich viel einzuwenden; vom Standpunkt jedes geistigen Werts sind Gewohnheiten, die der Differenzierung und der Steigerung des Einzigkeitsbewusstseins entgegenwirken, ganz einfach schlecht. Aber hier müssen wir uns dessen erinnern, dass die amerikanische Zivilisation nicht allein augenblicklich, sondern wesentlich eine Massenzivilisation ist; dass sie mit ihrem Erfolg in der Verschmelzung der verschiedenartigsten Elemente steht und fällt. Nehmen wir dies zum Ausgangspunkt und bedenken wir gleichzeitig, dass auf dem ganzen Erdkreis ein Massenzeitalter heraufzieht, und vergleichen wir dann die amerikanische Konfliktlosigkeit mit dem Streit und der Bitterkeit in den meisten anderen Ländern — so müssen wir zugeben, dass Amerika die erste befriedigende Lösung des Gemeinschaftsproblems in moderner Zeit von modernen Voraussetzungen her darstellt. Es hat die festesten aller bisher vorhandenen sozialen Grundlagen gelegt. Es liegt keinerlei Grund vor, warum sich nicht später auf diesen Grundlagen große und schöne Gebäude erheben sollten. Eins der verheißungsvollsten Zeichen dieser Möglichkeit ist, scheint mir, die Tatsache, dass in Amerika allein bisher die Frauen an der Gesellschaft ihrer Geschlechtsgenossinnen Freude finden, und dass das Solidaritätsgefühl oder der Sinn für das Gemeinwohl dort stärker zu sein scheint als das der Rivalität. Die menschliche Natur ändert sich nie, am wenigsten die der Frau, des konservativen Teils der Menschheit; die Frau war von Natur nie gesellig und wird es niemals sein. Wenn daher die amerikanischen Frauen so viel besser zusammenarbeiten als die aller anderen Länder, so muss dafür ein besonderer Grund vorliegen. Der Grund ist kein anderer als Amerikas organischer Moralismus. Kommen nur Verhalten und Gewohnheit in Betracht, wird alles andere dem Gutdünken des Einzelnen überlassen, empfindet ferner jede Frau die moralische Pflicht als Quelle ihres Lebens — dann liegt tatsächlich kein Grund vor, warum sie im öffentlichen Leben nicht eine Rolle spielen sollte, die sie noch nirgends gespielt hat. Die zu geringe Bewertung intellektueller und künstlerischer Werte, welche typische Begleiterscheinung jedes einseitig herrschenden Moralismus ist, hat gewiss sehr ernste Nachteile. Sie sind aber nicht die einzigen Lebenswerte. Und hier wollte ich nur zeigen, dass sogar die gegenwärtige, sehr einseitige Zivilisation Amerikas Gutes und Großes verspricht — wenn sie sich nur im rechten Geist fortentwickelt.

Und es liegt im Moralismus ein Element, mit dessen Erwähnung ich absichtlich bis zum Schluss zurückhielt — ein Element, das die rechte Entwicklung höchstwahrscheinlich macht. Dies ist der amerikanische Optimismus. Bisher haben wir ihn nur als Kompensationserscheinung betrachtet. Er lässt sich aber auch anders sehen. Der Optimismus ist eine der natürlichen Folgen des Moralismus. Das europäische 18. Jahrhundert war optimistisch; ebenso Alt-China. Der Grund ist der, dass eine pessimistische und zugleich moralistische Weltanschauung eine contradictio in adjecto darstellt; deswegen war solche Einstellung als historischer Faktor nie von Dauer, wie groß auch die Zahl der sie vertretenden Einzelgeister war; selbst die Lebensanschauung des südlichen Buddhisten ist optimistisch trotz des Buchstabens von Buddhas Lehre. Die jeder Art Moralismus zugrunde liegende Idee ist die, dass das Leben besser gemacht werden soll als es ist; und dies setzt offenbar voraus, dass es besser gemacht werden kann, und dass das Leben an sich kein Übel ist. Liegt das Lebenszentrum in Wissen, Glauben oder Liebe, so ist Pessimismus als Grundeinstellung möglich; nicht aber, wenn der Mittelpunkt im Moralischen liegt. Dies hilft uns verstehen, wieso das Erbe der düsteren Pilgerväter sich zum freundlichen, gutmütigen, überschwenglichen Amerikaner von heute entwickeln konnte. Wirkt nun der Einfluss tieferen Verstehens auf diese moralistische Erbmasse ein, so wird der angeborene Optimismus so gut wie sicher zu einer Besserung des Lebens führen, welche eben der Kritik wird standhalten können, die der heutige Moralismus noch nicht zu vertragen vermag.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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