Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Spiritualität

Sinn und Bedeutung

Wenden wir uns von hier aus ohne jeden Übergang den Tatsachen des amerikanischen Lebens zu. Es gehört unmittelbar zum Wesen dieser Zivilisation, dass sie das Leben auf entgegengesetzte Weise deutet und versteht, als wir sie als einzig richtig hinstellten. Die meisten heutigen Amerikaner glauben, dass Tatsachen und nicht ihr Sinn an erster Stelle stehen; dass Institutionen und nicht die lebendigen Menschen alles bedeuten. Und wir sahen bereits, dass die ganze Öde und Dürre und Insektenhaftigkeit und mangelnde Originalität und als Resultante alles dessen die fortschreitende Entvitalisierung Folgen dieser falschen Auffassung des Lebens sind. Auf Grund der im letzten Abschnitt enthaltenen Einsichten wird klar, warum dem gar nicht anders sein kann. Das ganze konkrete, vitale Wesen des Lebens wurzelt in jener nicht greifbaren Wesenheit, die ich Bedeutung oder Sinn heiße. Die hat beim Menschen seinen Brennpunkt im verstehenden Bewusstsein. Unter diesen Umständen muss Missverstehen zu einer Verzerrung der Tatsachen führen. Denn wenn auch auf der Ebene der Erfindung, als einem Überbau des Lebens, die Phantasie mehr oder weniger willkürlich schalten darf, ohne dass dies viel Unheil anrichtete, so gefährdet falsche Auffassung des Grundlegenden unmittelbar die Grundlagen des Lebens. Dies erklärt die Korrespondenz zwischen dessen objektivem und subjektivem Aspekt. Ein sinngerechtes Leben ist nicht nur schöpferisch und vital, es ist auch freudvoll. Umgekehrt ist es unmöglich, in falscher Einstellung innerhalb des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge glücklich zu sein. Aber das gleiche erklärt auch im Besonderen, warum das amerikanische Leben immer mehr deterioriert. Jedes Missverständnis erzeugt neue fixierte Automatismen, welche Missverstehen verkörpern; und die sich ergebenden Verzerrungen erfahren im Laufe der Zeit immer stärkere Betonung, genau wie die Vererbung die einem physischen Typus zugehörigen Fehler und nicht dessen Tugenden potenziert, nachdem er einmal den Zenit seiner Lebenskraft überschritt.

Von hier aus können wir eine vorläufige Bestimmung dessen wagen, was das Wort Geist repräsentiert; selbstverständlich handelt es sich — da Geist die äußerste Wirklichkeit, verkörpert — um keine Definition im üblichen Wortverstand, sondern nur um eine Beschreibung dessen, was ist, welche Beschreibung Verstehen spontan hervorrufen mag — oder auch nicht. Die primären Erlebnisse des Menschen sind nicht materieller, sondern psychologischer Natur. Sie gehören insofern samt und sonders der Seite des Lebens an, die sich nicht als Tatsache im üblichen Sinn beschreiben lässt. Nur ein reifer Geist sieht die Materie auf die uns selbstverständlich dünkende Art, denn dies setzt einen Abstraktionsprozess voraus, der über die Kraft des unreifen geht. Kinder und primitive Völker kennen keine natürlichen Ereignisse in unserem Sinn; ihr wirkliches Leben entspricht mehr oder weniger unserem Traumleben. Erst in späteren Perioden — in der Geschichte des einzelnen wie in der von Völkern und Kulturen — werden äußere Tatsachen primär als solche erlebt; junge Völker erleben zunächst innere Bilderfolgen mythischen Charakters, welche ihr Unbewusstes auf die Außenwelt projiziert und auf welche sie genau nur insoweit Bezug nehmen, als die Erhaltung des Lebens unbedingt erheischt. Auch braucht die betreffende Beziehung keineswegs eine rationale oder tatsachengemäße zu sein. Lévy-Bruhl hat gezeigt, dass bei primitiven Stämmen das, was er die participation mystique heißt, nahezu vollständig die Stelle unserer Kausalordnung vertritt. Es ist jedoch nicht einmal nötig, primitive Völker oder Kinder zu studieren, um zu erkennen, wie wenig sichtbare Tatsachen als solche bedeuten mögen: infolge der Verjüngung, welche augenblicklich die ganze Westliche Welt erfährt, können wir in unserer eigenen Mitte die eigensten Phänomene primär-mythischen Lebens beobachten. Die Mythologie des Weltkriegs mit ihren Vorstellungen von absolutem Recht und absoluter Schuld, schlechthinigem Fortschritt und Rückschritt, die je nach der Stellung des einzelnen von dieser Nation auf jene übertragen wurden, hatte mit Tatsachen überhaupt nichts zu tun; sonst wären wenigstens einige der idealen Ziele erreicht worden, und mindestens einige der Ergebnisse hätten den Erwartungen der Kampfteilnehmer entsprochen. In Wahrheit lebten die kämpfenden Nationen ebensosehr in einer Phantasiewelt wie die Griechen, als sie glaubten, die Götter nähmen aktiv teil am trojanischen Krieg. Dass die Götter von damals heute Ideale genannt werden, bedingt keinen psychologischen Unterschied. Genau gleichsinnig ist die gewaltige Macht des Geldes in Amerika nicht aus den Tatsachen an sich zu erklären, sondern aus dem Glauben an seine magische Kraft. Ein Mann, der Erfolg gehabt hat oder Millionen besitzt, kann in den Vereinigten Staaten so vieles kontrollieren, weil ihm die gleiche mystische Autorität eignet, welche Priester oder Könige oder große Männer innerhalb anderen Kulturen besaßen oder besitzen. Dass es sich tatsächlich um primitiven Aberglauben handelt, der nur nach Lévy-Bruhls Kategorie der participation mystique zu verstehen ist, wird abschließend dadurch bewiesen, dass in Amerika die Vorstellung herrscht, Reichtum erzeuge den großen Mann. Wenn dem so ist, dann ist dieser Vorgang um keinen Deut weniger geheimnisvoll als die Transsubstantiation.

Soviel über primitive Zustände. Das gleiche gilt aber grundsätzlich von jedermann. Wir sagten, das primäre Erleben beziehe sich allemal auf psychologische, nicht auf materielle Erscheinungen. Allein nicht die subjektive Tatsache, wie man sie heißen könnte, bildet die letzte Instanz dieses Erlebens, sondern ein noch Subjektiveres. Ein Etwas, zu dessen Wesen gehört, dass es sich überhaupt nicht objektivieren lässt. Eben dies ist es, was ich Bedeutung oder Sinn heiße. Seine Wirklichkeit ist noch subjektiver als jedes subjektive Erleben aus folgendem Grund: die Inhalte des letzteren lassen sich schließlich als Objekte auffassen; das innere Erleben vieler Menschen mag gleiche Inhalte aufweisen, und diese lassen sich in dauerhaften Formen herausstellen. Doch der ihnen gegebene oder aus ihnen herausgedeutete Sinn ist einzig in jedem Einzelfall. Ein Verstehen, das nicht streng persönlich wäre, ist ebenso undenkbar wie unpersönliche Liebe oder der Versuch, einen anderen für sich selber atmen zu lassen. Ferner ist jegliche Sinngebung ein Actus freier Initiative; er verkörpert den grundsätzlich gleichen Prozess der Vitalisierung von innen her, der auf anderer Ebene an und für sich tote Materie und Kräfte von Augenblick zu Augenblick in ihnen ursprünglich fremde Bahnen zwingt, oder der auf wiederum anderer so zum Ausdruck kommt, dass ein Künstler mittels Formen und Farben, die jedermann vorliegen, ein streng und ausschließlich Persönliches schafft. Eben dies illustriert gerade das amerikanische Leben mit vollendeter Deutlichkeit. Der Durchschnittsamerikaner ist geistig der passivste aller Menschen. Woher dann der entgegengesetzte Eindruck, den so viele Beobachter gewinnen? Es geht eben auf die allgemeine Passivität zurück. Dank dieser besitzt die verhältnismäßig äußerst geringe Anzahl Männer echter Initiative unerhörte Macht; eben dank dem springen sie wie nirgend sonst in die Augen. Dieser Zustand ist nur durchaus Folge schöpferischen Miss-Verstehens. Amerika gibt den Dingen einen falschen Sinn — und siehe da, der Sinn schafft den entsprechenden Tatbestand. Das behavioristische Amerika glaubt, der Mensch könne nur reagieren: so schafft es sich selbst nach dem Bild seines Glaubens um. Die Söhne und Enkel der initiativebegabtesten Rassen Europas gehören ganz selbstverständlich dem Typus an, der als Teil sogenannter Karawanen Europa durchhastet, der gehorsamer als je ein Kamel den Winken des Führers folgt und nie auch nur daran denkt, anderes zu tun, als was ihm vorgeschrieben wurde.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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