Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Spiritualität

Geistesfreiheit

Wir sehen jetzt, dass der Geist nicht nur ein ebenso konkreter und wirklicher Teil des Menschen ist wie sein Körper — er ist tatsächlich wirklicher. Der wahre Zusammenhang ward vom mittelalterlichen Christentum weit besser verstanden als von der modernen Wissenschaft. Dem mittelalterlichen Menschen bedeutete die unsterbliche Seele die supreme Wirklichkeit; die Natur galt als Provinz der übernatürlichen Ordnung, welche selbstverständlich als existent angenommen wurde. Aber aus eben diesem Grund ward auch die Natur als unbedingt wirklich beurteilt, als adäquates Ausdrucksmittel spiritueller Realität; es war gar keine Rede davon, dass das Fleisch nicht wirklich sei, wie frühere — und dann wieder spätere — Zeiten wähnten. Noch weniger aber galt der Geist als ein Abstraktes oder als bloßes Produkt der menschlichen Einbildung: der mittelalterliche Mensch glaubte an eine allumfassende, nichts ausschließende Wirklichkeit, die ihrem Wesen nach übernatürlich oder, wie wir heute eher sagen würden, metaphysisch und deren Kern der Geist war. Seine Vorstellung war letztlich gegenständlich. Doch wird moderner Geist die gleiche Wahrheit besser verstehen, wenn die Gesamtordnung des Lebens nicht als übernatürliche, sondern als natürliche Ordnung definiert wird. Dann könnte man sagen, dass der Geist nicht minder zur Biologie gehört wie der Körper. Je tiefer ein Mensch, desto mehr bedeutet ihm geistiges im Gegensatz zu materiellem Wohlergehen; beim geistigen Menschen hängt physische Gesundheit oder Krankheit nicht nur — wie bei vielen — von psychologischen sondern von spirituellen Bedingungen ab. Ein solcher Mensch kann tatsächlich sterben, wenn sein Leben seinen geistigen Sinn verliert oder wenn sein geistiger Teil Schaden nimmt. Selbstverständlich können Menschen, in deren psychologischer Struktur das geistige Prinzip keine bedeutende Rolle spielt, dies nicht erkennen. Allein das bedingt keine Widerlegung unserer These. Die verschiedenen Teile des Menschen können in verschiedenem Verhältnis zueinander in Beziehung stehen. Da überdies der Umkreis des Bewusstseins auf jeden Fall begrenzt ist, so spielt das — gleichviel ob aus inneren oder äußeren Gründen — bewusst Betonte unvermeidlich die Hauptrolle. Hieraus erklärt sich, warum es so sehr eine Frage der persönlichen Kultur ist, ob physische oder geistige Nahrung oder ob materielle oder intellektuelle oder spirituelle Probleme von ausschlaggebender Wichtigkeit erscheinen. Die Geschichte des Asketentums beweist, dass der spirituelle Teil durch Aushungerung des Leibes die Vorherrschaft gewinnen kann; desgleichen kann der Geist durch Mangel an Nahrung verkümmern. Dennoch kann hier von Gleichberechtigung keine Rede sein: die verschiedenen Arten der Akzentlegung sind nicht gleichwertig. Nie ist es nötig, das Rechte zu tun, weil Geistesfreiheit des Menschen Wesen ist. Verzichtet er aber willentlich auf seinen Geist oder verleugnet er ihn, dann deterioriert er, genau wie unter entsprechenden Umständen der Körper verwest oder stirbt. Hier aber setzt wiederum, sintemalen der Mensch wesentlich frei ist, das natürliche Gesetz dank seiner eigenen Schuld ein. Hier liegt die Wurzel der Idee der Sünde. So vermag kein logisches Argument die wirklichen Qualitätsunterschiede aus der Welt zu schaffen; sie sind genau so real wie die Unterschiede zwischen den chemischen Elementen. Und nur die richtige Einstellung bewährt sich für die Dauer. Richtige Einstellung aber bedingt, wie im Kapitel Kultur auseinandergesetzt wurde, die Vorherrschaft des spirituellen Prinzips. Spiritualität führt allerdings nie zu Erfolg, weil sie keinen Exponenten in der materiellen Welt hat. Aber das Umgekehrte gilt auch: es gibt auf der Ebene der Erscheinungen keinen Erfolg, der notwendig einen Widerhall im Reich des Sinns fände. Deswegen ist kein Mensch für die Dauer glücklich, der nicht in erster Linie den ewigen spirituellen Werten nachlebte. Er kann solange glücklich sein, als partielle Triebe oder Funktionen ihn beherrschen — sei es geschlechtliche Leidenschaft oder Machtwille oder die Sucht zu töten. Allein in allen den Fällen ist Übersättigung unvermeidliches Geschick, weil alle Kräfte der niederen Seele endlich sind; und Übersättigung zeitigt unabwendbar Ekel.

Andererseits aber liegt auch keine Wahrheit in fleischverleugnender Spiritualität. Der Mensch erreicht seine Vollendung nur dann, wenn er alle Materie mit Geist durchdringt und verklärt, ohne irgendeinen Teil zu verleugnen. Dies ist das Geheimnis der Inkarnation. Genau wie die größte geistige Liebe zwischen Mann und Frau, die nicht auch die Sinne entzündet, eine unvollkommene und verkrüppelte Liebe ist und zu Unglück und Lebenshemmung führen muss, genau so steht es um alle Lebenstendenzen. Hier bietet das Verhältnis von Sinn und Ausdruck wieder einmal das Urbild zu sämtlichen Situationen: nur ein Sinn, der so vollkommen ausgedrückt ist, dass jeder Buchstabe das Zeichen seiner Einzigkeit trägt, nur solcher Sinn ist vollkommen verwirklicht. Das heißt, Geist, der die Materie nicht durchdringt, ist als Geist nicht realisiert. Um des Geistes willen muss das Wort Fleisch werden.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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