Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Leidenschaft und Tat

Täter

Mir wies seinerzeit den Weg zum Verständnis dieses Zusammenhangs Homers Bericht über Odysseus’ Beschwörung des Schattens des Sehers Teiresias aus dem Hades. Teiresias konnte erst reden, nachdem er Blut getrunken hatte. Gleichsinnig fällt es mir schwer, mit nicht sehr geistigen und feinfühligen Menschen zu verkehren ohne Wein. Für mich allein bedarf ich seiner nicht, da lebe ich erfüllt in der stillen Gemeinschaft meiner inneren Bilder. Doch soll ich diese gegen die Einflüsse, die aus den Seelen anderer ausströmen, behaupten, dann bedarf ich materieller Unterstützung. Und unter Menschen praktisch betätigen kann ich mich überhaupt nicht, wenn ich als Asket lebe. Dagegen entfalte ich mich ganz von selbst, wenn ich genügend Materie zur Verfügung habe — zu der ich hier natürlich auch deren Eingeordnetheit in den Rahmen gesunden Gleichgewichtes rechne —, und zwar merkwürdig genau proportional deren Menge und Qualität. Nach meiner schweren Duellverwundung im Jahre 1899 war ich, der ich bis dahin der vitalste aller Urburschen gewesen war, zehn Jahre lang nur eines kontemplativen Lebens fähig; später aber nahm meine disponible Lebenskraft regelmäßig ab, wenn mein Körper zu sehr an Umfang verlor. Offenbar bedeutet Fett in bezug auf den Äther- und Astralleib (oder was immer diesen Begriffen als Wirklichkeit entspricht) etwas ganz anderes als im Zusammenhang des physischen Körpers, wofür schon das altbekannte besondere Charakterbild des Dicken gegenüber dem Hageren spricht und besonders die Tatsache, dass jeder sehr Vitale von der Lebensmitte ab zur Körperfülle neigt. Von hier aus ließen sich recht wahrscheinliche Schlüsse auf den Zustand nach dem Tode ziehen, die jedoch aus dem Rahmen dieser Betrachtung fallen würden. Soviel ist jedenfalls gewiss: alle Tatkraft bedarf erdgeborener, also nicht eigentlich geistiger Energien, um sich sinngemäß zu äußern. Der Säulenheilige tut wohl daran, soviel als irgend möglich zu fasten; der geistig Arbeitende muss essen. Und weniges erfüllt mich mit größerer Sorge für die Zukunft der weißen Menschheit, als die sogar von Männern jahrelang befolgte Mode beispiellosen Hungerns in einer Zeit, welche größere Ansprüche an die Tatkraft stellt als irgendeine frühere. Hier erweist sich die indische Psychologie, welche in Sinnbildern denkt und mit diesen operiert, der bisherigen europäischen weit überlegen. Gemäß jener besteht das Menschenwesen aus einer Zusammensetzung der drei Gunas Tamas, Radschas und Sattwa, welche Sinnbilder je nach den Umständen durch viele verschiedene Begriffe wiederzugeben sind, im vorliegenden Zusammenhang aber wohl am besten durch diejenigen der Trägheit, der Leidenschaft und der Erleuchtetheit. Die drei Gunas wirken in jedem Menschen in verschiedener Gewichtsverteilung. Herrscht Tamas vor, dann sind Seele und Geist der trägen Natur unterworfen. Tut es Sattwa, dann ist der Mensch Weiser oder Heiliger geworden. Im Krieger und Helden und Täter überhaupt aber herrscht Radschas vor und soll es tun. Wer darum ohne Leidenschaft ein Täterleben führen will, verkennt seine Bestimmung. Hier können wir den Einwand gegen unsere Auffassung, der aus der Anschauung zurückgezogener, enger, finsterer, asketischer und lebensfeindlicher Tatmenschen abgezogen werden kann, mit wenigen Worten erledigen. Ein Torquemada, ein Calvin, ein Ignatius von Loyola, ein Alberich war womöglich noch leidenschaftlicher als irgendein exuberanter Renaissance Mensch. Aber ihre Leidenschaft war auf eines konzentriert, und wo die zur Verfügung stehenden Erdkräfte wirklich karg waren, da erschienen sie desto weiser im Dienste der einen Leidenschaft ausgenutzt. Man gedenke des Alberich-Mythos, nach welchem das Gold nur besitzt, wer der Liebe Lust entsagt, und der Neigung so vieler Fanatiker der Macht, um ihretwillen auf alles andere zu verzichten. Deren Fall gleicht einerseits dem des Monogamen, andererseits demjenigen des Geizhalses.

Der praktisch entscheidende Unterschied zwischen kontemplativem und aktivem Leben besteht demnach darin, dass das letztere zur Erfüllung seiner Bestimmung der Beherrschung und Mitwirkung starker Erdkräfte bedarf, jenes aber nicht. Daher die verschiedene Bestimmung verschieden veranlagter Einzelner und Völker. Die meisten Geistigen verfügen über geringe Vitalkräfte: also sollen sie nach Möglichkeit in der Bilderwelt des Geistes und der Seele verbleiben und von der rauhen Wirklichkeit die Hände lassen. Umgekehrt soll der geborene Täter nicht allzusehr nach Vollendung in der Welt des reinen Geistes und der zarten Seele streben: er muss im Gegenteil seine Leidenschaft und Leidenschaftlichkeit pflegen, um mittels ihrer über die Trägheit der Materie, in deren Reich er nun einmal zu wirken hat, Herr zu werden. Denken wir nun von hier aus an den Mann größter Leidenschaftlichkeit, welchen die italienische Renaissance gebar, an Michelangelo zurück, dann erkennen wir ihn endgültig als Bruder der allergrößten Tatmenschen der Geschichte. Ihm bedeutete der Marmor wirklich Gleiches, wie Alexander das zu erobernde Perserreich. In höherem oder geringerem Grade hat nun Gleiches von jedem schöpferischen Menschen gegolten. So schrieb Richard Wagner einmal von sich ungefähr: jede meiner Fähigkeiten, für sich genommen, ist gering, doch fasse ich sie alle im Affekt zusammen, dann vermag ich Großes. Auch der junge Goethe war ein Mann größter Leidenschaft, die ihn im Alter auch nie wirklich verließ: ihm war das Seltene gelungen, seine Dynamik in Haltung umzuwandeln. Einen Sekundärausdruck dergleichen Urleidenschaftlichkeit bedeutet die Leidenschaft für Frauen, von welcher so viele — aber längst nicht alle — Schöpfer und Tatmenschen besessen gewesen sind; sie waren selten, was die englische Sprache oversexed heißt, aber ihre allgemeine Leidenschaftlichkeit fand unter anderem auch erotischen Ausdruck.

Wenden wir uns nun den Elementartrieben zu, welche die Erdwurzeln aller Leidenschaftlichkeit darstellen, dann finden wir, dass in allen großen Tätern eben das Triebfeder und Motiv gewesen ist, was unsere stoisch-christliche Überlieferung am meisten verurteilt. Kein großer Tatmensch war nicht, in vergröbernder aber nicht sinnentstellender Übertreibung ausgedrückt, in äußerstem Grade, wenn auch oft auf einseitige Weise lebenshungrig; nicht einer war nicht von irgendeinem sehr Erdhaften, von Macht- oder Geltungsbedürfnis, von Ruhm- oder Eifersucht besessen, und bei vielen der Größten spielten Genuss- und Prachtliebe, Geldgier und Freude am Ausbeuten, Töten und Sterben anderer eine vorherrschende Rolle. Daraus aber folgt, allen Vorurteilen zum Trotz, noch einmal: wer Tätertum ursprünglich bejaht, der muss auch die Leidenschaft bejahen. Diesem Umstande nun wird nicht nur die konventionell christliche Moral nicht gerecht, sondern sogar die trotz alles proklamierten Nietzscheanertums letztlich doch christlich inspirierte moderne Charakterologie nicht. Sogar Nietzsche selbst bekannte sich nicht mit wirklich gutem Gewissen zur Leidenschaft: sonst hätte er nicht mit solcher Übertreibung deren Böses als Gutes verherrlicht. Nietzsches Wirkung aber beweist eindeutig, wie fern die Westwelt noch von wahrer Unbefangenheit ist. Jene hätte, theoretisch geurteilt, unmittelbar zu einer neuen Kultur der Kraft und Schönheit führen können. Statt dessen hat auch sie zunächst mehr Häßliches als Schönes gezeitigt. Wie es in allen ähnlichen Fällen geht, müssen die Äußerungen des Radschas-Prinzips desto häßlichere Gestalt annehmen, je ablehnender das Unbewusste zu den Leidenschaften steht. Im so Christus-gläubigen Mittelalter tat es das nicht: ihm war Christus selber der leidenschaftliche Held. Aber im heutigen Amerika, welches Leidenschaft perhorresziert und wärmere Regungen als die der Freundlichkeit als unerwünscht ansieht, äußert sich das, was Heldentum sein könnte, als Gangstertum. Der Engländer hat seinen beispiellosen Macht- und Erwerbstrieb von Jahrhundert zu Jahrhundert, ja von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr verleugnet, er hat sich selber immer mehr durch die Brille des Moralisten gesehen, und so ist aus dem großartig-leidenschaftlichen Abenteurer des Elisabethanischen Zeitalters und dem unbefangenen Bejaher aller Lebensfreuden des merry old England des XVIII. Jahrhunderts im XIX. und XX. schließlich ein wesentlich kühler oder gar kalter und sich selbst belügender Mensch hervorgegangen mit allen Nachteilen pervertierter ursprünglicher Leidenschaftlichkeit. Analoge Verbildung und Entartung ist überall dort eingetreten, wo die Wirklichkeit nicht so anerkannt wurde, wie sie ist. Manchmal kommt es mir so vor, als gelte gerade auf dem Gebiete der Seele das Gesetz, gemäß welchem die Entropie einem Maximum zustrebt. Entropie bedeutet unwiederbringlichen Wärmeverlust; die entropisch verausgabten Energien setzen sich nicht mehr um, und als Ende droht der Kältetod.

Es gilt also, sofern man überhaupt Täter sein will, seine Leidenschaft ebenso unbefangen zu bejahen, wie dies der Grieche tat und unter heutigen weißen Menschen typischerweise nur noch der Spanier tut. Hier nun aber tritt dem, welcher das seelische Geschehen aufmerksam betrachtet, ein seltsamer Tatbestand entgegen. Die Leidenschaften bedeuten nämlich nicht nur dem Selbst, sondern schon dem tiefer gefassten Ich gegenüber ein Außer-Sich. Der den Menschen angreifende Tiger ist gar nicht im menschlichen Sinne mutig, er gibt nur ihn überwältigendem innerem Drange nach. So wird ein jeder von seinen Leidenschaften recht eigentlich überfallen. Sie gehören an sich nicht dem individuellen Menschen zu, sondern dem allgemeinen Kräftereservoir der lebendigen Natur, so oder ähnlich, wie dies auf dem Gebiet des für unsere Begriffe Leblosen von der Elektrizität gilt. Darum ist es möglich, bevor man ganz von ihnen ergriffen und besessen ist, seine Leidenschaften entweder anzunehmen oder abzulehnen und sie nachher durch entsprechende Behandlung zu steigern oder zu schwächen. Auch Liebe muss gepflegt werden, um zu wachsen und zu gedeihen. Und zerstörerische Leidenschaften können durch geistgeborene Schranken so dauerhaft eingedämmt werden, dass sich aus dem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein solcher Schranken der Hauptunterschied zwischen dem Zivilisierten und dem Barbaren ergibt. Die Wege der Abtötung, Umsetzung und Beherrschung der Leidenschaften sind nun der Asketik und Erziehung seit Jahrtausenden bekannt. Was aber von Mehrheiten noch nie deutlich erfasst wurde, ist dies: der allergrößte Teil dessen, was den sichtbaren Menschen macht, gehört in ähnlicher Weise, wie die Leidenschaften, dem Nicht-Ich an. Dies gilt zunächst von den Organen des Körpers, ja vom ganzen Körper, und von sämtlichen Elementartrieben der Seele. Aber dieses Nicht-Ich gehört gleichwohl zu einem selbst; man freut sich und man leidet an ihm; man kann es dem Selbst und dessen höherem Streben nutzbar machen. So soll man auch seine Leidenschaften in erster Linie nicht moralisch beurteilen, sondern sich ihrer bedienen, wo immer dadurch positives Wirken möglich ist. Und dieses gilt nicht allein von Machttrieb und Ruhmsucht und Wille zur Fortpflanzung im Leben oder im Werk: es kann von der Wut gelten, welche den Kämpfer überkommt; oder auch von der Verzweiflung. Die meisten ganz großen positiven Entscheidungen sind jenseits der Verzweiflung gefallen.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Leidenschaft und Tat
© 1998- Schule des Rades
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