Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Abgeschiedenheit

Meister Eckhart

Wohl die herrlichste von Meister Eckharts Predigten führt den Titel Von der Abgeschiedenheit. Diese bedeutet ihm die höchste aller Tugenden. Sie steht ihm noch über der Liebe.

Das beste an der Liebe ist, sagt er, dass sie mich Gott zu lieben nötigt. Nun ist das aber etwas weit Bedeutsameres, dass ich Gott zu mir her-, als dass ich mich zu Gott hinnötige. Denn Gott vermag einfüglicher in mich einzugehen und sich besser mit mir zu vereinigen, als ich mich mit Ihm. Dass nun Abgeschiedenheit Gott zu mir nötige, beweise ich damit: jedes Wesen ist gerne an seiner natürlichen, ihm eigenen Stätte. Gottes natürliche, eigenste Stätte ist Einheit und Lauterkeit; die aber beruhen auf Abgeschiedenheit. Darum kann Gott nicht umhin, einem abgeschiedenen Herzen sich selber zu geben.

Des weiteren preist Eckhart die Abgeschiedenheit als höchste Tugend, weil diese den Menschen wie keine andere dahinbringe, nur noch für Gott empfänglich zu sein.

Im Leiden hat der Mensch immer noch ein Absehen auf die Kreatur, durch die er leidet; hingegen steht Abgeschiedenheit aller Kreatur ledig.

Endlich stellt der Meister die Abgeschiedenheit auch über die Demut, denn

Demut kann bestehen auch ohne Abgeschiedenheit, aber vollkommene Abgeschiedenheit nicht ohne Demut. Ferner beugt sich vollkommene Demut unter alle Kreaturen — womit der Mensch aus sich heraus geht auf die Kreatur; Abgeschiedenheit aber bleibt in sich selber. Mag nun ein solches Herausgehen etwas noch so Vortreffliches sein, das Innebleiben ist doch immer noch etwas Höheres. Vollkommene Abgeschiedenheit kennt kein Absehen auf die Kreatur, kein Sichbeugen und kein Sicherheben, sie will weder darunter noch darüber sein, sie will nur auf sich selber ruhen, niemandem zu Liebe und niemandem zu Leide. Sie trachtet weder nach Gleichheit noch nach Ungleichheit mit irgendeinem anderen Wesen, sie will nicht dies oder das, sie will nur mit sich selber eins sein.

Weiter zitiert Eckhart Meister Vincentius, der da behauptete, des Abgeschiedenen Geistes Macht sei so groß, dass, was er schaut, wahr ist, was er begehrt, ihm gewährt werde, und fügt hymnisch hinzu:

Ja wahrlich, der freigewordene Geist in seiner Abgeschiedenheit, der zwingt Gott zu sich; und wäre er imstande, ungestaltet und ohne wesensfremde Zutat dazustehen, er risse Gottes eigenstes Wesen an sich.

Meister Eckharts Predigt klingt aber aus in der Mahnung:

Halte dich abgeschieden von allen Menschen, bleibe ungetrübt von allen aufgenommenen Eindrücken, mache dich frei von allem, was deinem Wesen eine fremde Zutat geben könnte!

Von allen großen christlichen Mystikern erscheint Eckhart als der am wenigsten durch Dogmenglauben beschränkte; darum wurde er auch bei Lebzeiten von der kirchlichen Obrigkeit verurteilt. Trotzdem war er gläubiger Christ durch und durch, und es gibt wenige Dogmen, die er nicht irgendeinmal zum Thema einer Predigt erwählt hätte. Wohl deutete er diese dann als Durchschauender, aber andererseits ist klar, dass er nie an deren Sinngemäßheit zweifelte. So ist mir Eckhart die vielleicht leuchtendste Illustration der Wahrheit, dass sich das Höchste jedem im Rahmen oder in der Form seiner intimen Vorurteile offenbart. Mit dem kollektiven Teile seiner Seele hat eben jeder an bestimmter Überlieferung teil, genau so wie er als Körper Ausdruck der Rasse, Art und Gattung ist. Und wenigen ist es von Hause aus gegeben, sich selber so weit und so tief zu durchschauen, dass ihr Bewusstsein ein Jenseits der eigenen Vorurteile spiegelt. Heute nun ist die Vorhut der denkenden Menschheit grundsätzlich wenigstens so weit, dass sie in den meisten Fällen immerhin die Möglichkeit solchen Durchschauens einsehen kann. Das beweist das immer gleichmäßiger werdende Interesse für alle bisherigen Ausdrucksformen des Geistes der Tiefe, völlig unabhängig von der Konfession, welches Interesse dieses Mal nicht, wie während der Vergreisung des antiken Heidentums, auf eklektischer oder synkretistischer Gesinnung beruht, sondern auf dem Erwachen einer neuen generellen Fähigkeit im Menschen überhaupt. Darum durfte ich es wagen, meine Gedanken über Abgeschiedenheit mit Worten eines mittelalterlichen Meisters einzuleiten, der in concreto anderes meinte als ich. Eckhart war der Wahrheit der christlichen Lehre gewiss, so selbstherrlich er mit dieser umsprang, ich bin es nicht. Ich glaube überhaupt nicht an die Möglichkeit der Wirklichkeitsgemäßheit irgendeiner bestimmten Konfession. Und dennoch weiß ich mich in der Tiefe mit Eckhart eins: nämlich an dem Ort, den er als Ort der Abgeschiedenheit bestimmt.

Seinen christlichen Voraussetzungen entsprechend lehrte Eckhart, dass Gott alsobald in die Seele einziehe, wenn diese sich des Ich entäußere. Ob das generell so ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Erlebnisse eines an Bestimmtes Glaubenden kann der allein haben, welcher an das gleiche Bestimmte glaubt. Auch die Erlebnisse eines Glaubenden überhaupt, wie dies der mittelalterliche Mensch in Europa war und heute noch der Hindu ist, werden nur dem Gleichveranlagten zuteil. Darum ist nur sicher, dass Eckhart für seinesgleichen wahr sprach. Deren hat es aber viele gegeben. Offenbar war der Apostel Paulus aufrichtig, wenn er behauptete, seit seiner Bekehrung lebe eigentlich nicht er, sondern Gott lebe in ihm. Und der letzte große Heilige, von dem wir wissen, Ramakrishna, lebte ganz sicher aus der Gottheit in sich heraus, wenn er auch nach indischer Gepflogenheit seine Haupterfahrungen in einem von außen her unkontrollierbaren Samadhi-Zustand machte, welcher Zustand, äußerlich beurteilt, ein kataleptischer ist, und, wenn er sich als Mensch unter anderen Menschen bewegte, seine Inspiriertheit nur dadurch bewies, dass er in Anderen allemal den werdenden Gott sah; so neigte er sich ehrerbietig vor jeder Bajadere, weil er durch sie hindurch die göttliche Mutter schaute. Immerhin war Ramakrishna allen bekannten christlichen Heiligen in einem voraus: wie er durch alle Gestaltung hindurchsah und unmittelbar deren schöpferischen Geistesgrund schaute, so durchschaute er selbstverständlich auch alle religiöse Dogmatik. Er kam gar nicht auf den Gedanken, nur er könne mit seinen bestimmten Vorstellungen recht haben: manchmal schien es, als entschuldige er sich, ein wenig verlegen, vor seinen zum Teil hochgebildeten Jüngern, wenn er zu der meist furchtbar vorgestellten Göttin Kali betete und ihr allein opferte; es wirkte in der Tat beinahe naiv, als er kurz vor seiner letzten Weihe diese Göttin formell um die Erlaubnis bat, fortan Gott ohne Namen und Form realisieren zu dürfen. Als einziger bekannter Heiliger ist Ramakrishna im Durchschauen der Gestaltung so weit gekommen, dass er dieses in praktische Verwandlung umsetzen konnte. Nicht nur erlebte er nach und nach alles, was der bestimmte Glaube der wichtigsten indischen Sekten zu erleben ermöglichte — eine Weile war er sogar aufrichtig Christ und später Mohammedaner, wobei ihm die tiefsten Erlebnisse der Mystiker beider Konfessionen zuteil wurden. Alles dies war Ramakrishna nur möglich, weil er im allerhöchsten Grade im Stande der Eckhartschen Abgeschiedenheit stand und alles von ihr her oder auf sie hin erlebte. Ich nun habe den bewussten Kontakt mit der metaphysischen Wirklichkeit, welcher die aufgezählten großen Mystiker auszeichnete, als Erlebender noch lange nicht erreicht. Aber schon kann ich schauen, was ich noch nicht bin. Ich kann verstehen, was das von mir noch nicht Erreichte bedeutet. Und da in der Welt des Sinnes ein Sinn alle anderen spiegelt, so kann ich die Wahrheit höherer Stufen auf der meinen in ihrer Entsprechung einsehen. Die Entsprechung, die ich hiermit in concreto meine, bedeutet zutiefst genau das gleiche wie Eckharts Abgeschiedenheit. Aber sie gehört als Tatsache einer anderen Daseinsebene an. Und diese, scheint mir, ist heute schon vielen erreichbar, wo sie von ihnen noch nicht erreicht worden ist.

Meister Eckhart ermahnt seine Hörer in anderen Predigten wieder und wieder, und oft mit Heftigkeit, sie sollen sich’s ja nicht annehmen. Das heißt, sie sollen sich selbst, ihrem Ich, ihrer eigenen Leistung nicht zurechnen, was gar nicht durch sie geschieht. Das sich Annehmen sei das schwerstzuüberwindende Hindernis auf dem Weg zum Heil. Das ist richtig und folgendermaßen zu verstehen: Das eigentliche Selbst des Menschen, das tiefste Subjekt seines Seins und Schaffens ist nicht in die Erscheinungswelt hineinverwoben. Von ihr her geurteilt, ist es unbedingt, selbstgezeugt, selbstgeboren, selbstgestaltet. Was immer einer tief erlebt, erlebt er von diesem souveränen Selbste her. Und was immer tief und mächtig in ihm wirkt, ist Ausstrahlung eben dieses Selbstes. Dieses Selbst ist ein ganz anderes als die Person; letztere stellt nur das besondere Organ dar, welches mögliche soziale Beziehung herstellt von Mensch zu Mensch; sie ist gleichsam der Verhandelnde und Unterhändler in uns, und überdies der Schauspieler. Das Selbst ist auch ein anderes als die Persönlichkeit, welche die persona mit größerer oder geringerer spezifischer Energie lädt, dank welcher die eine oder andere ganzen Epochen ihre Sonderform als Zeitstil aufgeprägt hat. Es ist die überempirische einsame Einzigkeit im Grunde unseres Wesens, und diese ist dem Bewusstsein letzte Instanz, bis dass die Scheidewand nach oben zu durchbrochen und die einsame Einzigkeit zum Ausfallstore eines weiteren Transsubjektiven wird, welches dann hinter allen Äußerungen des persönlichen Menschen steht, durch diesen hindurchleuchtet und ihn inspiriert. Das erste nun, wessen ein nach Selbstverwirklichung Strebender inne werden kann, lange bevor er zu irgendeiner Art von Gottbewusstsein reif ist, ist eben diese Einzigkeit in sich. Dieser aber wird er sich von der Stufe an, jedoch keinen Augenblick früher, bewusst, wo er so weit ist, sich des Empirischen, in Eckharts Sprache, nicht mehr anzunehmen. Wo er sich damit innerlich abscheidet von dem, was nicht zum Wesen gehört.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Abgeschiedenheit
© 1998- Schule des Rades
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