Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Inspiration und Erziehung

Streben nach Unmöglichem

Der Leser wird schon gemerkt haben, dass und inwiefern diese Betrachtung die vorhergehende im Geist der Gesamtheit aller früheren fortführt und ergänzt. Auch im Zusammenhange dieser besonderen Problematik gilt es an erster Stelle, sich selber rückhaltlos als den zu akzeptieren, der man wirklich ist, und von dort her nach dem Höchstmöglichen zu streben. Das Streben nach Unmöglichem, welches im übrigen meist nur eine Redensart bedeutet, führt dann allein zu Gutem, wenn das sogenannte Unmögliche genau auf der Linie möglicher Entwicklung liegt; sonst führt es vom rechten Wege ab. Aber nunmehr können wir weitergehen. In jedem Menschen lebt Männliches und Weibliches zugleich, nur in sehr verschiedenartiger Gewichtsverteilung, und meist ist es so, dass die Überbetonung des einen Pols im gleichen Menschen den Gegenpol, freilich meist in das Gleichgewicht sprengender Übertreibung, in karikaturhafter Gestalt konstelliert. So sind die Kontinent-beherrschenden amerikanischen Frauen andererseits unweiblicher, als ihre Geschlechtsgenossinnen zumal im südlichen Europa, sie sind Amazonen, worüber man Näheres im Kapitel Die Vorherrschaft der Frau von Amerika finden wird. So sind die meisten spermatischen Geister als Seelen hypersensitiv, gerade sie wirken leicht weiblich zart; man denke nur an Nietzsche; auch Jesus muss zart gewesen sein, und die kanonische Gestalt des Weltüberwinders Buddha zeigt unverkennbar weibliche Körpermerkmale. Wo nun das bestdenkbare Gleichgewicht zwischen dem Männlichen und Weiblichen in einem Menschen besteht, sind dennoch immer beide Prinzipien gesondert in ihm am Werk, und alles kommt darauf an, den Nachdruck in sich so zu legen, dass die Hauptwirkung und die Gesamtgestaltung des Lebens vom bedeutenderen Teile ausgeht. In diesem Zusammenhange wesentlich ist nun, dass genau den Vorstellungen aller hohen Religionen gemäß, der Geist in jedem Menschen männliche Signatur trägt. Daher die wahrhaft geistigen Frauen nicht die Intellektuellen, sondern die Anregenden, die Musen sind. Wenn nämlich auf der körperlichen Ebene der Mann zeugt und die Frau gebiert, ist auf der seelischen, auf welcher alles Kunstschaffen im weitesten Verstand verläuft, die Frau die Zeugerin und der Mann der Gebärer — hier inspiriert sie, und zwar je weiblicher sie sonst ist, desto mehr. Der Geist jedoch, von dem das Inspirierende ausstrahlt, ist gleichwohl auch in ihrem Falle nur als Ausdruck des männlichen Prinzipes richtig zu verstehen. Man gedenke des ausgesprochen Initiatorischen, Richtung-gebenden, Vorausplanenden, das alle großen Musen der Geschichte ausgezeichnet hat. Die Natur mag freilich von einer Göttin geformt worden sein; ich persönlich würde, könnte ich göttergläubig sein, den Gestalter und Erhalter der Welt wahrscheinlich weiblich vorstellen, nur zu Göttinnen beten und, wenn ich freilich anerkennen würde, dass über allen Göttinnen ein Gott thront, Zweifel hegen, ob dieser Gott am Entstehen und Vergehen der Erscheinungen unmittelbar beteiligt ist. Gott äußert sich als Ursprung und Urheber freilich als Logos spermatikós, doch auf dem Logos, welcher an sich nichts Materielles ist noch schaffen kann, ruht hier der Nachdruck. Darum finde ich die indische Vorstellung, gemäß welcher Gott in seiner jeweiligen Verkörperung durch seine Shakti, d. h. das ihm zugeordnete Weibliche, das Erdgeschehen lenkt, tiefer und wahrheitsgemäßer als jede andere.

Diesen Gott als ersten Urheber und diese Shakti als Gestalterin trägt nun jeder in sich. Aber je mehr einer sich vergeistigt, ob Mann, ob Weib, desto mehr bedeutet ihm der Geist und damit der Gott. Als reiner Mann fühlt er ihn in sich walten, als reines Weib außer sich. Daher das Weib der ursprünglich betende Mensch ist, der Mann hingegen der Opfernde — und innerhalb vieler Religionen dürfen Frauen überhaupt keine wichtigen Opfer darbringen. Diese Vorzugsstellung des Mannes entspricht dem Sinn. Wogegen es ein Missverständnis bedeutet, dass und wenn sich Ahnenkult ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf die männliche Aszendenz bezieht. Auf der physischen Ebene herrscht vielmehr das Weibliche vor, körperlich haben Söhne von ihren Müttern meist mehr als von ihren Vätern, die vorherrschende Ähnlichkeit mit welchen ihre Hauptursache in der bewusst angenommenen und fortgesetzten Überlieferung, also einem Geistbedingten, hat. Hier vermittelt zwischen Geist und Fleisch die Urfähigkeit des Lebens zur Schauspielerei. Hinge das Aussehen eines Menschen nicht mehr von seinen Gesichtsmuskelbewegungen als Teil seines Ausdrucks als von seinen angeborenen Zügen ab, es gäbe nicht allein keine Verstellungskünstler und keine Charakterdarsteller, sondern auch keine festbestimmbaren Rassen und Familientypen. Eben darum verlieren sich oder verlöschen die Typen, wenn Auswanderung in eine neue Umwelt verknüpft mit Vergessen der alten einen neuen Grundausdruck festlegt. Eben darum findet sich lange anhaltende Familienähnlichkeit bei Trägern gleichen Namens in der Regel nur bei abstammungsbewussten Geschlechtern. Hier haben die Matriarchalen und nach ihnen die Vertreter des Avunkulats den natürlichen Zusammenhang richtiger gesehen als die Patriarchalen, und ist die vernünftigste unter modernen Auffassungen die spanische, gemäß welcher der Mensch anerkanntermaßen im gleichen Grade vom Vater und von der Mutter abstammt und darum auch beider Namen tragen soll.

Doch dies nur nebenbei. Das geistige Prinzip an sich ist männlichen Charakters. Und auf dieses in oder außer sich, je nach der gegebenen Natur, hat sich der Mensch einzustellen, auf dieses allen Nachdruck zu legen, so er im Geiste wachsen will. Solange er überhaupt noch im stillen Kämmerlein seines Herzens von Erziehung und Bildung Wesentliches erwartet, kann er nicht weit vorankommen. Denn solange kann er nicht umhin, den Nachdruck unwillkürlich auf Ausgestaltung und Ausführung zu legen. Damit akzeptiert er ebenso unwillkürlich die Voraussetzungen, von denen er ausgeht, als letzte Instanzen. Ist dieses nun geschehen, dann ist es mit dem Neu- und Mehrwerden-Können vorbei. Es ist desto mehr vorbei damit, je mehr einer es auf Klärung absieht. Was vollkommen geklärt ist, hat damit seine Endgestalt erreicht, es gleicht einer bis zur Grenze des Möglichen differenzierten und spezialisierten organischen Form, als welche erfahrungsgemäß allemal bald, nachdem sie diesen Zustand erreicht hat, ausgestorben ist. Das so wunderbar differenzierte Denken der Scholastik hat zu keiner Erneuerung des Geistes geführt. Das Zeitalter der Aufklärung leitete nicht, wie es wähnte, eine Ära unabsehbaren Fortschritts ein, sondern eine solche der endgültigen Ausgestaltung dessen, was an neuen Impulsen vom Untergang der Antike an ins Leben getreten war, welche Ausgestaltung nach weniger als zweihundert Jahren so vollständig vollzogen war, dass von da ab ganz neue undifferenzierte Kräfte die Oberhand gewinnen konnten und mussten. Denken wir nun von hier aus an den Schlussteil der vorhergehenden Betrachtung zurück. Was an Geistigem lebendig wirkt, ist allemal ein Irrationales, weder begrifflich noch sonst Festzulegendes, vom Verstande nicht Vorauszusehendes — denn dieser vermag ja das allein vorauszusehen, was als Erscheinung aus Dagewesenem und Festgelegtem folgt. Jetzt können wir erläuternd sagen: es ist das Spermatische. Es ist dem Verstande gänzlich unfassbar, dass aus der Befruchtung eines winzigen Eis durch ein noch winzigeres Spermatozoon ein Mensch entstehen soll. Es ist dem Verstande ebenso unfasslich, dass aus den schlichten Evangelien der differenzierte Riesenbau der christlichen Kirche und Kultur erwuchs. Darum ist es selbstverständlich, dass die für spermatischen Geist unempfänglichen Menschen, in erster Linie die Schriftgelehrten, die Bedeutung eines geistigen Neuerers leugnen, bis dass sie durch Tatsachen erwiesen ist. Was bei Lebzeiten Jesu Schicksal war, ist auch dasjenige Nietzsches gewesen.

Aus dem allen erklärt sich denn endgültig das so gänzlich Irrationale, mit allen Verstandesvoraussichten und -voraussetzungen Inkommensurable spermatischer Wirkung. Wer außer denen, welche ihn persönlich kannten und sein Wesen verstanden, konnte das Phantastische vorauswissen (nicht nur glaubend erwarten), was Adolf Hitler durch sein Wort und sein Anregen bewirken würde? Bei den meisten Spermatikern, die auf der Ebene des Geistes wirkten, äußert sich das Irrationale in der Paradoxie ihrer Ausdrucksweise. An anderer Stelle erklärte ich die Vorliebe für Paradoxie damit, dass das Paradoxon auf der Ebene des Geistes dem Sprengstoff auf der materiellen entspricht. Ein solcher liegt still und harmlos da, bis dass er sich entzündet; so bleibt das Paradoxon wirkungslos, solange es nicht verstanden ist; sobald es aber verstanden wird, dann explodiert es in der Seele und die Wirkung zerstört alles Vorherbestehende. Aber der Vergleich der Wirkung des Paradoxons mit der, welche das männliche Sperma im weiblichen Organismus erzielt, ist ein noch besserer, ja der einzige ganz gegenständliche. Nun ist die Frage, ob einer wirklich Sinn für Spermatisches und damit für Inspiratives im Gegensatz zum Ausgeführten, Aufklärenden und Bildenden hat, ebenso abwegig wie die, ob das Weib wirklich befruchtet werden will. Wie jede Jungfrau trotz aller Abwehrbewegungen des Bewusstseins sich darnach sehnt, so sehnt sich jeder Mensch, welcher nicht selbst als Geist im höchsten Sinne Mann ist, in seiner Tiefe auch nach dem Ein-Fluss des Logos spermatikós Dies beweist allein schon die allgemeine Verbreitetheit religiöser und kultischer Praxis: wer seine Seele Gott öffnet, will von Ihm inspiriert werden. Doch das Bewusstsein mit seinen Hauptfunktionen Verstand und Wille ist auch hier in der Lage, der natürlichen positiven Wirkung von Natur und Geist künstliche Schranken vorzubauen. Um meinen Lesern dabei zu helfen, diesem Verhängnis vorzubeugen, habe ich vorliegende Betrachtung niedergeschrieben.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Inspiration und Erziehung
© 1998- Schule des Rades
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