Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Eltern und Kinder

Ehe

Ich schrieb so, als nähme ich den Individualitätsverlust der neuen Generationen, der doch vor Augen läge und über den so viele klagen, gar nicht ernst. Das tue ich auch nicht. Jeder Kollektivismus unter weißen Menschen, die auf der Höhe ihrer Zeit stehen, bedeutet un recul pour mieux sauter. Ich habe unter den Jungen, welche um 1940 zwanzig oder wenig mehr Jahre alt waren, schon mehr mögliche Persönlichkeiten entdeckt als seinerzeit unter meinen Zeitgenossen. Schwierigkeiten stählen ja den Starken nur. Aber freilich waren es bis auf seltene Ausnahmen nur mögliche Persönlichkeiten. Die Verwirklichung hatten die aufgezählten Übelstände mehr oder weniger verhindert. Darum erwarte ich den ersten wesentlichen Fortschritt über den gegenwärtigen Zustand hinaus vom Heim und dessen verbesserter Atmosphäre her. In Korrelation zur Veröffentlichung des äußeren Lebens und als Kompensation dieses erwacht ohnehin eine so stark lange nicht mehr gekannte Sehnsucht nach Heimlichkeit und Vertrautheit und Intimität und Abgeschiedenheit von der lauten Welt. Damit zusammen hängt die so gleichfalls lange nicht mehr gekannte Neigung junger Männer zur Monogamie, und zwar zur Monogamie von vornherein. Es ist nur natürlich, da es sich um junge Menschen handelt, denen diese Problematik zuerst bewusst wurde, dass sie deren Lösung in der Zweisamkeit der Ehe suchen. Aber der Zeitgeist von morgen hängt davon ab, wie sich die Kinder aus solchen Ehen entwickeln, und darum sind die hier angestellten Erwägungen gerade für junge und jüngste Väter und Mütter besonders aktuell. Alle, schlechthin alle mögliche Verbesserung des Gesamtzustandes westlicher Menschen beruht darauf, wie die Atmosphären der Heime dieser jungen Ehepaare werden. Je weiter die Veröffentlichung des äußeren Lebens fort schreitet, desto mehr wird kompensatorisch dazu die Intimität des Heims bedeuten, und leicht kann es geschehen, dass diese fortan mehr als je früher in der Menschheitsgeschichte bedeuten wird.

Wir betrachteten bisher ausdrücklich nur den unwillkürlichen Einfluss richtig oder falsch eingestellter Eltern auf die Kinder. In Wahrheit ist aber der umgekehrte Einfluss, auf den Geist hin geurteilt, noch wichtiger, denn die Entwicklung der eigentlichen Persönlichkeit beginnt erst lange nach der Mündigkeit und die des Selbstes gar meist erst nach erreichtem Schwabenalter. Hierbei nun kann die Selbstzucht, welche rechte Einstellung und rechtes Verhalten den Kindern gegenüber fordert und bedingt — angesichts dessen, dass Kinder alles bemerken und die Atmosphäre des Heims einen Verkehr auf einer einzigen leicht stilisier- und objektivierbaren Ebene, wie sie das Dienst- und Lehrverhältnis ermöglicht und verlangt, ausschließt — wie nichts anderes entwicklungsfördernd und -beschleunigend wirken. So kann die im rechten Geist verstandene und akzeptierte Vaterschaft als solche den Jungen zum Mann verwandeln, den eben noch Unverantwortlichen oder nur im Rahmen einer bestimmten Dienststellung Verantwortung Kennenden in allen Hinsichten und Richtungen selbstverantwortlich machen und ihn damit der Integration seines Selbstes zuführen. Das ist an sich natürlich ein Umweg. Aber die meisten scheinen ihn machen zu müssen. Sogar mir ist es nicht anders ergangen. Wie ich auf meiner Weltreise im Jahre 1912 mit letzten Vertretern altchinesischer Kultur zusammenkam, entsetzten sich diese darüber, dass ich jede Heiratsabsicht leugnete:

Sie sind doch kein Wolf, kein reißendes Tier,
dass Sie dauernd frei-schweifend leben dürfen
,

und Ku Hung-ming schrieb unter die Widmung eines Buchs, das gleiche meinend, ein Konfuzius-Wort, welches ungefähr so lautete:

Der Edle findet seine Vollendung nicht außerhalb
der allgemeinen Ordnung noch unabhängig von ihr.

Tatsächlich begann die Integration meiner differenzierten Vielfalt, welche ich ehedem dank stiller Meditation in der Einsamkeit zu erreichen erwartete, erst nach meiner Heirat und fing sie dann erst an ihrem Abschluss entgegenzureifen, nachdem ich meine Kinder innerlich akzeptiert hatte (was in meinem Falle spät geschah, da ich für kleine Kinder wenig Sinn habe). Insofern kann man sagen, dass nicht nur das kleine Kind, sondern auch der Erwachsene als Vater gewisse Zentren oder Brennpunkte seines Wesens zunächst außer sich hat und sie erst langsam in sich hinein beziehen kann. Das bedeutet wohl die kanonisch-indische Vorstellung, dass der Mensch sich erst, nachdem er Großvater geworden, zu stiller Meditation abseits von aller Weltverflechtung und -verpflichtung als heimatloser Wanderer in die Wälder zurückziehen darf. Selbstverständlich sieht auch Indien Ausnahmen vor, aber dass gerade das in sich gekehrte und wie kein zweites Land Gottsuchende Indien das gleiche als Norm setzt und fordert, was für Abendländer zweifelsohne das Richtige ist, beweist, wie wesentlich die Beschreitung dieses Weges zur Vollendung zum Menschen überhaupt passt.

Hiermit gelangen wir denn zur Feststellung einer neuen Beziehung zwischen Abgeschiedenheit und Gemeinsamkeit. Es gibt keine innigere Gemeinsamkeitsbeziehung als die der engsten Familie, die ihren eigenen tiefsten Sinn verwirklicht. Andererseits bietet das Vaterverhältnis, sowohl vom Vater wie vom Kinde her gesehen, seinem tiefsten Sinn entsprechend als Distanz-Verhältnis aufgefasst, das eine von der Natur und in ihr vorgebildete Schema der Entwicklung vom Kollektiv- zum Selbstbewusstsein (solche Natur-Vorbildungen gibt es überall für die Etappen geistigen Strebens: sonst wären die Möglichkeiten höherer Selbstentwicklung dem Menschen schwerlich je bewusst geworden). Darum wird Gott als Vater vorgestellt, darum wird der geistliche Führer geistlicher Vater geheißen. Darum muss der Mensch von einer gewissen Altersstufe ab lehren, um selber weiter lernen zu können. Andererseits: eben darum führt, keine mir bekannte Religion irgendein Fortschrittliches im Menschen auf die Einwirkung des Mutterprinzips zurück, auch dort nicht, wo hauptsächlich zu Göttinnen gebetet wird. Zu Göttinnen wird um Gnade, Erbarmen und Verzeihung gebeten, sonach um Erhaltung und Rechtfertigung der gegebenen Identität. Es wird, wo immer die gegebene Religion dies zulässt, besonders gern zu ihnen gebetet, weil eben von der Mutter Nach- und Rücksicht erwartet wird, keine Härte und Strenge, wie sie zum Mehrwerden unerlässlich ist. Indem nun der Mann seinen Kindern gegenüber Distanz einzuhalten und bei aller Liebe Strenge und Härte zu zeigen lernt, lernt er gleichzeitig auf dem einfachsten Wege Selbstbeherrschung und -überwindung. Es ist der einfachste Weg, weil jeder von Natur aus sich selbst liebt, ungern gegen sich selber streng ist und so, indem er den geliebten Kindern gegenüber Strenge beweist, auf natürlichste Weise Strenge gegenüber dem eigenen geliebten Ich lernt.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Eltern und Kinder
© 1998- Schule des Rades
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