Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Abgeschiedenheit

Das Selbst

Die erreichte Abgeschiedenheit bedingt und bedeutet eine solche Umzentrierung des geistig-seelischen Gesamtzusammenhangs, dass weder das Ich letzte Instanz ist, noch auch das Du. Ich und Du sind Korrelate. Es ist sinnwidrig, den Egoismus zu verurteilen, solange der Altruismus nicht mitverurteilt wird. Auf der Naturebene herrscht das Gesetz des Kampfes ums Dasein und in Korrelation dazu dasjenige der Solidarität. Beide gehören damit einer gleichen Daseinsebene an, und wenn auch Freundschaft ein Schöneres ist als Gegnerschaft, so ist diese doch jener in entsprechender Lage gleichberechtigt; ja, Kämpfen- und Vernichten-Wollen kann das einzig Sinngemäße sein. Man gedenke der Stelle der Bhagavad Gita, da Shri Krishna dem Arjuna, welcher gegen seine Brüder und Oheime nicht kämpfen wollte, ermahnte, seiner Schwäche ja nicht nachzugeben, denn eben jetzt erfordere sein Dharma, d. h. seine Einstellung und Stellung im Leben Kampf und Siegeswillen. Ob einer sich selbst der nächste ist oder ob ihm ein anderer nähersteht, bleibt sich metaphysisch gleich, solange es sich um Gebunden- und Verfallenheit handelt. Anders werden (nicht nur scheinen!) die Verhältnisse erst dann, wenn aus einem Jenseits der Natur hervorbrechender Opferwille der Seele dem ganzen Zusammenhang einen neuen Sinn erteilt und ihn damit transfiguriert. Dann erscheint Freundschaft freilich gegenüber der Feindschaft als das absolut Höhere. Nur gilt dann auch gleiche göttliche Liebe dem Feinde wie dem Freund. Gleichsinnig mag Selbstinteresse Ausdruck eines jenseits-natürlichen Bösen sein und sich damit in ein absolut Negatives verwandeln. Aber auf der Naturebene schließen die Gesetze des Kampfes ums Dasein und der Solidarität einander nicht aus, sie bedingen und fordern einander. Indem Christus verlangte, dass der Mensch seinen Nächsten ebenso (nicht mehr!) lieben solle als sich selbst, nahm er nicht etwa Partei für den Altruismus, sondern er erledigte die ganze Egoismus-Altruismus-Problematik. Der geistige Mensch nun beginnt sein Dasein erst mit der Geburt eines seiner Letztinstanzlichkeit bewussten Selbstes als eines Jenseits des Ich sowohl als des Du. Diese Geburt bedingt allerdings ein In-den-Hintergrund-Treten des Ich samt allen dessen Sonderinteressen. Dieser gegenüber lebt das Selbst in vollkommener Abgeschiedenheit, und die Abgeschiedenheit gegenüber dem Ich springt natürlich mehr in die Augen, als diejenige gegenüber dem Du. Nun aber kommt das, was einzusehen den Erben christlicher Moralität besonders schwer fällt: vom Ich fort zu Höherem findet der allein, welcher zuerst sich, wie er sich gegeben ist, also als Person und Persönlichkeit, über alles ernst nimmt. Es ist ganz ausgeschlossen, jemals weit zu kommen, je im Geiste hoch hinanzuwachsen, wenn man zunächst nicht in sich die letzte Instanz sieht, denn man ist sich nach innen zu letzte Instanz, und nur Wahrhaftigkeit frommt. Nur nach außen zu, auf der Ebene der Ausbreitung, nicht in der Dimension der Intensität, nur an der Oberfläche, nicht in seiner Tiefe, kann der Aufrichtige ein Nicht-Ich als Mehr-als-Ich anerkennen. Darum hat kein Religionsstifter, und donnerte er noch so grimmig gegen die Ichsucht, je ein Wort gegen die Selbstsuche gesprochen. Der Christ soll in erster und letzter Instanz nach seinem Seelenheile streben, der Moslem nach Würdigkeit der Auferstehung im Paradies. Der Buddhist, welcher dem Kreislauf des Geschehens entrinnen will und leugnet, dass es überhaupt ein selbständiges Ich gebe — ihm ist es nur ein Vorgang, ein Essen und Gegessenwerden —, treibt auf seinem Wege zum Ziel fortlaufend Selbstanalyse. Der Brahmanist gar, von allen bisherigen Menschen der metaphysisch tiefste, denkt ausschließlich und unentwegt an das Selbst, welches im Inneren des seiner Person bewussten Menschen west, und sucht und findet die Gottheit in eben diesem Selbst. Gemäß dem Gesetz der Entsprechung liegen die Dinge genau so auf allen niederen Stufen. Nur durch das bejahte Ich hindurch gelangt der Mensch über das Ich hinaus.

So verdanke ich in einer Richtung alles, was ich erreicht habe, dem, dass ich mit einem sehr robusten Ich behaftet geboren bin und mich nicht gescheut habe, dieses überall dort zu bejahen, wo es mir ein Mittel bot zur Selbstverwirklichung. In meiner frühen Jugend beeindruckte mich in Tolstois Krieg und Frieden besonders tief die Szene, in welcher Natascha sich mit jemand darüber unterhält, woher es wohl komme, dass es mit einer besonders selbstlosen, nur für andere Menschen lebenden Freundin nie wirklich stimme, so dass sie auch nie den Dank ernte, den sie zu verdienen scheint. Schließlich leuchtet einer der Gesprächspartner auf und sagt (ich zitiere nach schon dunkel gewordener Erinnerung, aber den Sinn gebe ich richtig wieder):

Ich hab’s! Die Freundin X ist eine Nicht-Habende. Ihr erinnert euch doch des Christusworts: Wer da hat, dem wird gegeben usf.?

Wirklich steht der buchstäblich Ichlose als empirischer Mensch, dessen normaler Mittelpunkt ein starkes individualisiertes Ich ist, unter dem Ichverhafteten. Erst aus der Überwindung eines starken Ich heraus entsteht die Selbstlosigkeit, welche geistlichen Wert hat. Sie entsteht nur als Ergebnis eines Kampfes, gleichwie das Kräftekapital, über welches gewisse Insekt-Imagines verfügen, die Frucht der persönlichen Anstrengungen ist, welche sie machten, um aus der Puppe auszukriechen und gleich wie — hier liegt wirklich genaue Entsprechung vor — Jesus wie Buddha dann erst ihre Vollendung erreichten, nachdem sie den Teufel selber überwunden hatten.

Darum zögere ich nicht, nach sechzig Jahren eines intensiv gelebten Lebens allen Strebenden zu raten, in erster Linie sich selber ernst zu nehmen. Erst auf der Grundlage dieses Ernstnehmens kann es ihnen später gelingen, ihr Bewusstsein in Eckharts Abgeschiedenheit zu zentrieren und zu verankern. Hiermit beschreibe ich den meiner Erfahrung und Überzeugung nach normalen Weg des heutigen Abendländers, der nun einmal der Ichverhaftete par excellence ist, zur Selbstverwirklichung sowohl als zur inneren Freiheit. In concreto genau zu bestimmen ist dieser Weg nicht, denn er sieht anders aus von Anlage zu Anlage und von Lage zu Lage. Aber vielleicht fördert es einige, wenn ich von meinem persönlichen Weg zur Vollendung das Folgende mitteile. Die längste Zeit meines wachen Lebens habe ich damit verbracht — was im Schlafe mit mir vorging, weiß ich nicht, jedoch mir scheint, dass in diesem Zustande besonders Wichtiges in mir zu geschehen pflegt, sonst empfände ich meine so schwer und nie auf lange erreichte Zeit der Bewusstlosigkeit nicht als bestverbrachte —, auf den Punkt oder Ort in mir zu konzentrieren, welcher oberhalb der wechselnden Zuständlichkeiten liegt. Solche Abblendung des nicht-Gewünschten im Bewusstsein und Heraushebung einer bestimmten Schicht seiner ist bei einiger Übung jedermann möglich: jeder erlebt gleichzeitig mit verschiedenen Schichten seiner Natur, jeder kann zwischen diesen unterscheiden lernen und an ihm liegt es, auf welche er den Akzent legt und welche er damit vitalisiert. In meiner Reisetagebuchperiode war ich schon so weit, dass ich normalerweise von einem Oberhalb der empirischen Gestaltung her erlebte. Darum konnte ich damals schon solche Gestaltungen nicht mehr letztlich ernst nehmen, in anderen ebensowenig wie in mir selbst: denn was einer in bezug auf sich vermag, das vermag er — sintemalen die Welt des Psychischen ein Kontinuum ist, in welches alle durch ihr Bewusstsein Geschiedenen mit ihrem Unbewussten eingebettet sind — selbstverständlich auch in bezug auf andere, handele es sich um Beherrschen, Verstehen, Durchschauen oder was sonst. Sogar die Liebe bietet das gleiche Phänomen: gewisse Frauen werden nur darum, obgleich sie nach außen zu ganz kalt sind, von Unzähligen leidenschaftlich geliebt, weil sie ausschließlich sich selber lieben, dies aber leidenschaftlich, und ihr Gefühl sich unwillkürlich auf andere überträgt. Seither nun habe ich von Jahr zu Jahr immer mehr aus meinem Punkt der Abgeschiedenheit heraus nicht nur erlebt, sondern auch aktiv ausgestrahlt. Und je mehr ich im Lauf der wachsenden Konzentrierung auf das Selbst und der Erstarkung dieses mein Ich abbaute, desto größere unwillkürliche Wirkungen gingen von dem aus, was hinter und über dem Ich steht. Verhältnismäßig früh schon brauchte ich mir überhaupt keine Gedanken darüber zu machen, wie ich in der Welt der personas und Persönlichkeiten fuhr, obgleich mir immer mehr Widerwärtigkeiten widerfuhren: unaufhaltsam drangen Kräfte des Selbstes durch alles Ichbedingte in mir und anderen hindurch, wie Röntgenstrahlen durch opake Materie, und erzeugten auf die Dauer, nach noch so vielen und seltsamen Umwegen die Wirkung, die ich eigentlich meinte. Vor allem aber konnte ich im Laufe der Erstarkung des abgeschiedenen Selbstes immer mehr Gemeinschaftsforderungen gerecht werden. Das einsame Selbst erfordert zwecks seiner Entwicklung und Ausstrahlung grundsätzlich überhaupt keines Alleinseins — wirklich allein ist keiner je, was immer er sich vortäusche — und ist das Selbst wirklich realisiert, dann kann es überhaupt nicht gestört werden. Schon lange beurteile ich den Grad der Spiritualisierung eines Menschen danach, wieviel äußere Störung er verträgt, ohne durch sie beirrt zu werden. Andererseits aber erwachsen von Stufe zu Stufe immer mächtigere und höhere Kräfte aus dem Bewusstsein der einsamen Einzigkeit heraus, und insofern darf man sagen, dass Kultur der Abgeschiedenheit das Wichtigste, das Allerwichtigste gerade vom Standpunkt der Gemeinschaft ist. Nur der Abgeschiedene kann anders als durch kurzfristig wirkende Suggestionskraft führen, helfen, heilen und dem zum Aufstieg verhelfen, welcher unter ihm steht.

Letzteres werde nun verstanden oder nicht — wo der Nützlichkeitsstandpunkt, in welcher Form und Verkleidung auch immer, vorherrscht, kann das Wesentliche am geistbestimmten Leben nie verstanden werden: unter allen Umständen führt Kultur der Abgeschiedenheit zur größtmöglichen Erfüllung des persönlichen Lebens. Und Jedermann kann es aus Erfahrung wissen, dass, was immer vom materiellen Reichtum gelte, die bloße Anwesenheit inneren Reichtums als Beschenkung und Gnade für und auf alle wirkt. Die innere Welt, die sich dem Abgeschiedenen auftut, ist unermeßlich viel reicher, als alle uns mittels unserer spärlichen Sinne zugänglichen Außenwelt, überdies aber kann der Abgeschiedene auch diese in sich hineinbeziehen und bemerkt und erlebt dann wegen seiner inneren Distanz viel mehr an ihr, als der in sie verstrickte. Die Seligkeit derer, welche Gott geschaut haben, kenne ich nicht. Doch ist schon das, was ich innerlich erlebe, ein Vieltausendfaches gegenüber dem, was mir mein äußeres Dasein bietet. Der Mensch, wer er auch sei, erlebt ja doch nur mittels seiner persönlichen Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen und Gedanken. Wendet er sich ganz der Außenwelt zu, geht er gar in ihr auf, so blendet er damit das, was ihn wesentlich angeht, ab. Das Glück des Abgeschiedenen kennt unter heutigen Abendländern normalerweise nur noch der Liebende, welcher ganz in seinen Gefühlen und inneren Bildern lebt, und sein Zustand ist trotz allen Leidens, welches er einschließt, von allen der glücklichste. Er ist der glücklichste, weil er der intensivste ist, denn an seiner Intensität misst sich der Wert alles Lebensgefühls. Um wieviel reicher ist nun das Leben dessen, welcher außer dem, was allen zugänglich ist, noch etwa im Reich der platonischen Ideen zu Hause ist! Ich denke hier zumal an die Jahre, während welcher ich die Südamerikanischen Meditationen schuf: Neues über Neues offenbarte sich mir dazumal von innen her, während mein Leben äußerlich gleichgültig und eher unbefriedigend verlief, da ich die meiste Zeit über körperlich krank war und auf das meiste den Normalmenschen Erfreuende verzichten musste. Und diese Zwischenzeit war für mich eine viel reichere als die, in welcher Eindrücke der Südamerikanischen Außenwelt die spätere Geistesgestalt zum Keimen brachten: damals fühlte ich mich eigentlich nur überwältigt, wie ein empfangendes Weib, denn dieses spürt gerade das Wichtigste, sein Befruchtetwerden, nicht. Seither nun ist mein äußeres Leben immer abwechslungsärmer und ereignisloser geworden. Aber ich bedarf der Abwechslung kaum mehr. Ich verstehe die Besorgnis derer eigentlich überhaupt nicht mehr, welche andauernd irgend etwas zu versäumen fürchten. Kann ich nur abgeschieden sein — und wer sollte mich noch daran hindern? —, dann ist das Weltall, welches ich als Geist auffassen und benötigen kann, mein.

Ich habe zum ersten Thema dieses Buches der Betrachtungen dasjenige der Abgeschiedenheit gewählt, weil in dieser oder vielmehr der Fähigkeit zu ihr und der Kultur ihrer meiner Überzeugung nach das Tor zum Heil des Menschen­geschlechts in dieser Wende liegt. Die Beinahe-Unmöglichkeit für die meisten meiner Zeitgenossen, allein zu leben oder zu wenigen und ihre Existenz persönlichen Wünschen entsprechend zu gestalten, wie dies ehedem Voraussetzung war jedes vorgestellten Glücks, ist Schicksal. Aber keine äußere Bewegtheit und Berührtheit kann den wahrhaft Abgeschiedenen in seinem Innenleben stören. Sie kann freilich sichtbare Betätigung in solcher Richtung hemmen, die einem am meisten läge: wie Kultur des Stillhaltens diese Schwierigkeit zum Segen wenden kann, wird eine spätere Studie zeigen. Überdies aber scheint mir das dem Insichgekehrten anscheinend so ungnädige Schicksal in seiner letzten Auswirkung von sich aus ein gnädiges zu sein. Immer mehr sieht es mir so aus, als stelle das einander Immer-näher-auf-den-Leib-Rücken mit allem, was damit zusammenhängt, in dieser Weltphase den notwendigen Umweg dar, welchen die meisten machen müssen, um zur Abgeschiedenheit zurückzufinden. Was nottut, ist ja nicht äußere, sondern innere Abscheidung. Mir ist nun bei jungen Leuten, welche zur Zeit, da ich dieses schreibe, noch unter dreißig sind, immer wieder aufgefallen, wie diskret sie sind. Ihr Privatleben halten sie heiliger, als es irgendeine frühere Generation in Deutschland tat. Ihre innerste Überzeugung behalten sie für sich. Sie fragen nicht und wollen nicht gefragt werden. Sie ehren gegenseitig ihre Verschwiegenheit. Nun, auf diesem Wege dürften viele schneller und sicherer den Weg zu ihrer eigenen Tiefe finden, als dank aller äußeren Absonderung und aller Arbeit an sich, wie sie das Bildungszeitalter vorsah und leicht machte. Gottes Wege sind wahrhaft wunderbar. Genau so, wie es zum Wesen des Unbewussten gehört, dass es direkt überhaupt nicht bewusst werden kann, genau so gehört es zum Wesen des Schicksalsmäßigen, dass das Entscheidende anders kommt, als man’s erwartete. Wohl alle unter denen, in welchen noch irgendwie der Geist des XVIII. Jahrhunderts fortlebte — und das tat er in allen durch die Überlieferung unserer Klassiker gebildeten —, erwarteten den Fortschritt in der Vergeistigung vom weiteren Abbau aller Schwierigkeiten. Tatsächlich hatte der schon erfolgte Abbau den Geist dermaßen schwach gemacht, dass er gar keiner Vertiefung, als welche Anstrengung und Selbstüberwindung erfordert, mehr fähig war. Dank dem, dass jeder seine Meinung verantwortungslos auslebte, alles aussprach, zerdachte, zerredete, war gerade der Geist, welcher nach Tiefe zu streben wähnte, äußerlich, war gerade er zu innerer Einkehr unfähig geworden. Aber wann war es jemals anders? Und wann kam das Heil oder die Erneuerung nicht entweder von unerwarteter Seite oder unter solchen Umständen, die wenige herbeigewünscht hätten? Konfuzius erstand in der Zeit der Bolschewismusähnlichsten Phase des alten China, Plato nach dem Peloponnesischen Kriege, und Jesus, als alle Schriftgelehrten erstarrt und alle Philosophen zu feigen Sophisten geworden waren.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Abgeschiedenheit
© 1998- Schule des Rades
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