Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Religion und Psychologie

Wissenschaft

Es ist nicht nur so, dass jeder Mensch sich nur im Spiegel sehen kann und dass jeder Spiegel verschiebt, wenn nicht verzerrt oder fälscht: alles Innerliche schaut er projiziert. Jede, auch die exakteste Vorstellung ist ein Herausgestelltes; als Herausgestelltes ist sie ein wesentlich anderes als das innerlich Lebendige; und von jeder gilt, wie vom Spiegelbilde des Narziss, dass dem, der sich mit ihr identifiziert, seine eigene Wirklichkeit abhanden kommt. Jede Identifizierung des Innerlichen mit Herausgestelltem ent-äußert und ent-fremdet. Darum wirken alle Bilder oder Vorstellungen von, alle Gedanken über ab- und irreführend, sobald sie beim Wort genommen und mit der Intention, der sie entsprangen, verwechselt werden. So sehr sich darum das konkrete Erleben der meisten Menschentage auf Götzen anstatt auf Gottheit, auf Vorurteil anstatt auf Realisiertes bezogen hat: auf die Dauer hat kein konkreter Gott den kritischen Punkt überlebt, da der Mensch in der Tatsächlichkeit des Bildes das Wesen zu erleben wähnte. Und so hat sich auf die Dauer auch jeder Buchstabenglaube amortisiert. Kein Buchstabenzusammenhang kann für sich den Sinn enthalten. Wird dieser nicht durch den Buchstaben hindurch erlebt, so ist er gar nicht da. So ist im Laufe der Geschichte Sphinx auf Sphinx durch Erraten ihres Rätsels zum Absturz gebracht worden.

Nun erlebt der Mensch ursprünglich nie auf einer Ebene und in einer Richtung allein. Reiches geistig-seelisches Erleben findet sein bestes Sinnbild am Facettenauge; alle Tiefenschau setzt die Fähigkeit zum mindesten stereoskopischen Sehens voraus, und ein Wesen und Erscheinung zusammen erfassender Geist erlebt allemal mit so viel Schichten auf einmal, dass sich ein Abbild des Vorgangs allenfalls im Rahmen N-dimensionaler oder pseudo-sphärischer Räume formal konstruieren ließe. Daher die schier unendliche Vieldeutigkeit aller Höchstausdrücke des Menschengeistes auf welchem Gebiete immer, und die von keiner klaren Wahrheitsfassung je erreichte historische Wirkung von dem Oberbewusstsein auf immer unverständlich bleibenden Symbolen, wie Kreuz und Mandala. Doch auch die vieldimensionalsten Bilder stellen Projektionen dar, die ihren Sinn nie auf deren Ebene, sondern im Projizierenden haben, der sie entweder herausstellt oder aus der Herausstellung in sich zurückbezieht.

Letztlich nun kommt es bei all diesem scheinbar schwer Verständlichen auf nichts anderes als das recht Einfache heraus, dass der Mensch, der sich im Spiegel schaut, andererseits sich selbst nie im Spiegel findet und sich trotzdem nur im Spiegel sehen kann. Sehen kann man innerlich Lebendiges überhaupt nur in der Projektion. Nun aber kommt das, was im Zusammenhang dieser Betrachtung die Hauptsache bedeutet: das wesentlich Projektivische geistigen Lebens äußert sich auch darin, dass grundsätzlich jede mehrdimensionale Ganzheit auf jede Fläche projiziert und auf dieser bestimmt werden kann. Ich meine dies ganz wörtlich in genau dem Sinn, wie flache Karten Projektionen darstellen von Erdkugel und Firmament, die trotz der Verschiebung der Verhältnisse rechte Orientierung ermöglichen. Projektionen solcher Art stellen nicht nur geo- und kosmographische Karten dar, sondern auch die Religion, die Wissenschaft, die moralische Weltordnung, die materialistische Weltanschauung usf. Es ist wirklich möglich, den Zusammenhang alles dessen, was es gibt, nur religiös, oder nur moralisch, oder nur wissenschaftlich, alles sinnbildlich oder alles wortwörtlich, als Ausdruck von Jenseitigem oder als Zusammenhang letztinstanzlicher Tatsachen zu begreifen: auf der jeweiligen Karte steht wirklich alles projiziert beieinander, und man kann sich wirklich nach ihr im Leben orientieren. Darum ist es ganz unmöglich, solang ein Projektionssystem beibehalten und eine Karte anerkannt wird, über diese hinaus- und ihr Irrtümliches einzusehen.

Von hier aus wird ohne weiteres verständlich, warum die Wissenschaft ein Jahrhundert lang wähnen konnte, allem Daseienden gerecht zu werden, und warum sie nicht zugeben wollte, dass es wissenschaftlich nicht Nachweisbares dennoch gibt. Sie findet ja alles und jedes, was sie benennen kann, in ihrer Karte eingezeichnet! Es wird gleichfalls verständlich, warum es der nur objektive Tatsachen berücksichtigenden Wissenschaft unmöglich war, religiös bestimmte Zeiten überhaupt zu verstehen. Wenn der Grieche im Quell den Gott erlebte und der Gott das Wichtigste seines Erlebens war, so meinte er überhaupt nicht die Naturtatsache Quell. Eben darum konnte es in religiös bestimmten Zeiten keine herrschende Wissenschaft im Sinn des XIX. Jahrhunderts geben. Erwacht heute nun neues Verständnis für Zeiten der Mythenbildung, so muss dies — die Folgerung ist unabweislich — bedeuten, dass der weiße Mensch wieder einmal dabei ist, sein Projektionssystem zu wechseln. Die meisten Fragestellungen von historischer Bedeutung sind heute tatsächlich nicht mehr wissenschaftlicher Art, und ebensowenig sind es die wichtigsten Interessengebiete. Doch die Behandlungen des wesentlich nicht Wissenschaftlichen gehen in den meisten Fällen trotzdem von den Voraussetzungen des Wissenschaftlers aus, und dies führt im Ergebnis zu zwitterhaften Gebilden. Zumal diejenigen, die sich in neuem Geist mit Religion befassen, sind in analoger Lage wie Sokrates, der zwar in der Nachwirkung die exakte Wissenschaft begründet hat, persönlich aber den Stadtgöttern opferte und nie zu klarer innerer Entscheidung gelangte; darum konnte er nur als von Anderen evozierte mythische Gestalt fortleben. Und in einer anderen Blickrichtung erscheint ihre Lage ähnlich derjenigen der mittelalterlich-katholischen Scholastik, welche das Präzisionsinstrument ihres echt wissenschaftlichen Denkens in den Dienst von Dogmen stellte, deren ganzer Sinn einer anderen Daseinsebene zugehört. In dieser Betrachtung möchte ich mich mit dem Missverständnis befassen, welches die Annahme heute sehr weiter Kreise darstellt, die Tiefenpsychologie sei die berufene und weisere Nachfolgerin der Religion. Tatsächlich wird sich auf die Dauer jeder, auch der Kirchengläubige, mit dieser Annahme nicht nur außer, sondern auch in sich auseinandersetzen müssen, denn vom objektiven Geiste unseres Zeitalters her geurteilt, hat diese Auseinandersetzung in dieser oder jener Abwandlung auf dem ganzen Erdenrund begonnen, und zu umgehen ist sie nicht mehr. Sie muss von Fall zu Fall zu Ende geführt werden.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Religion und Psychologie
© 1998- Schule des Rades
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