Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Ehe-Buch

Das richtig gestellte Eheproblem

Selbstentwicklung

Die großen Lebensprobleme sind programmatisch deshalb nicht zu lösen, weil sie nicht nur tatsächlich, sondern wesentlich Probleme des einzelnen sind; jedes einzelne Mal, wo sie sich stellen, bezeichnet die Einzigkeit des jeweiligen einzelnen den einzig möglichen Ansatzpunkt zu ihrer Lösung, die demzufolge jedes einzelne Mal eine einzigartige sein muss. Diesen Tatbestand dahin zu verstehen, dass es Sache der subjektiven Willkür sei, wie man die fraglichen Probleme stellt und löst, bedeutete jedoch ein arges Missverständnis: die Einzigartigkeit der konkreten Situation ist ihrerseits Ausdrucksmittel eines allgemeinen Sinnes, der dem Problem als solchem innewohnt und seinerseits unabhängig von aller Sonderart des Ausdrucks besteht. Dieser allgemeine Sinn ist, formell betrachtet, durch die bloße Fragestellung ebenso genau bestimmt wie eine Gleichung durch ihren Ansatz; er schließt für sich bestimmte Möglichkeiten und Grenzen ein, an welchen keine Meinung noch Willkür etwas ändern kann. Die formellen Möglichkeiten und Grenzen erweisen sich aber weiter als substantielle überall, wo das Problem eine Lebensnotwendigkeit ausdrückt; hier bedingt falsche Stellung und Lösung nicht allein Unsinn, sondern Unheil. Dass die Dinge so liegen müssen, leuchtet von Hause aus ein, wo das Problem zugleich mit dem Leben aufgegeben ist, das allem Meinen und Wollen gegenüber ein a priori darstellt. Der Sinn von Geburt und Tod z. B. besteht unabhängig von aller persönlichen Sinngebung; er will verstanden und hingenommen sein; jede falsche Ansicht führt sich hier, so oder anders, ad absurdum.1

Undeutlicher erscheint die Sachlage dort, wo sich die Lebensprobleme in der gegebenen Form nicht naturnotwendig und schicksalsmäßig, sondern vom schaffenden Menschen her stellen; letzteres gilt von allen, die ihre Lösung in Kulturformen finden. Sie ist dem Sinne nach gleichwohl auch hier die gleiche, weil die Probleme des geistigen und seelischen Menschen, im Unterschied von den vorher betrachteten, den geistig schöpferischen Menschen im selben Verstand zur Voraussetzung haben, wie diese das organische Leben. Auch hier schließt jede Problemstellung an sich ganz bestimmte Möglichkeiten und Grenzen ein; auch hier entspricht dem Formellen Substantielles überall, wo ein Problem allgemein als lebensnotwendig empfunden wird. Nur betrifft hier das Substantielle nicht die Tatsache, sondern die Forderung. Während die Naturformen in bezug auf den Menschen Gegebenheiten bedeuten, sind die Kulturformen Aufgaben. Aber als solche haben diese einen ebenso von aller Meinung und Willkür unabhängigen Sinn wie jene; nur der vermag sie zu erfüllen und zu lösen, der diesen ihren Sinn erfasst. Deshalb sind auch die allerpersönlichsten Lebensfragen nur auf Grund der Einsicht in ihre überpersönliche Bedeutung, dann aber in jedem Falle so zu beantworten, dass die grundsätzliche Antwort an sich den Weg zur jeweils einzig richtigen praktischen Lösung weist. — Dies gilt zumal von der Ehe. Ehe gibt es auf Grund keines Naturgesetzes und keines Schicksals; erst von einem bestimmten Bewusstheitsgrade an als stilreine Lebensform möglich, ist sie ein durchaus Geisterschaffenes. Trotzdem ist sie kein Willkürprodukt, denn alle gesitteten Naturvölker — und solche sind grundsätzlich gesitteter, weil durch Sitte gebundener, als späte Kulturvölker — bekennen sich in irgendeiner Form zu ihrer Idee; je entwickelter das sittliche Bewusstsein, desto mehr bedeutet sie; keinerlei Ansicht noch praktisches Versagen hat ihr Ansehen je untergraben können; und wo sie ihren Sinn ganz realisiert, dort verhilft sie dem Menschen, der den Beruf zu ihr hat, nachweislich zur reichsten Selbstentwicklung. Und ebensowenig ist die Ehe eine leere Form, die mit beliebigem Inhalt zu füllen wäre: ihr Begriff schließt ganz bestimmte Möglichkeiten und Grenzen ein; sie hat von Hause aus einen ganz bestimmten Sinn. Diesen bewusst zu machen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.2

1 Vgl. über den Sinn des Todes den Zyklus Werden und Vergehen meines Buches Wiedergeburt (Darmstadt 1926, Otto Reichl Verlag).
2 Kenner meiner Werke werden schon aus dieser Einleitung ersehen, dass das Ehe-Buch eine Sondermanifestation des Impulses der Schule der Weisheit ist, wie ich es denn nicht anders konzipiert und instrumentiert habe, als eine Darmstädter Tagung. Die Schule der Weisheit hat kein anderes Ziel, als das Leben vom tiefer verstandenen Sinne her neu aufzubauen; dieses allgemeine Ziel kann sie jedoch nur so erreichen, dass sie auf alle Sonderfragen die erforderliche bestimmte Antwort gibt. Ihre bisherigen Hauptwerke sind meine Bücher Schöpferische Erkenntnis und Wiedergeburt (Otto Reichl Verlag). Die großen Weltprobleme erfahren durch sie in der alljährlich zu Darmstadt stattfindenden Tagung, genau wie die Ehe im vorliegenden Band, Neueinstellung und instrumentierte Behandlung, die nachher im Jahrbuch Der Leuchter im Druck erscheint. (Bis 1926 sieben Bände erschienen). Zu Sonderproblemen des Lebens nimmt die Schule der Weisheit fortlaufend in ihren Mitteilungen Der Weg zur Vollendung Stellung. (Bis 1926 elf Hefte erschienen). Nähere Aufklärung gibt der ausführliche Prospekt, der von der Geschäftsstelle der Schule der Weisheit, Darmstadt, Paradeplatz 2, versandt wird.
Hermann Keyserling
Das Ehe-Buch · 1925
Eine neue Sinngebung im Zusammenklang der Stimmen führender Zeitgenossen
© 1998- Schule des Rades
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