Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Ehe-Buch

Das richtig gestellte Eheproblem

Eheglück

Hiermit hätten wir denn zunächst ein überaus Wichtiges festgestellt: dass die Ehe, als Lösung des Glücksproblems begriffen, von Hause aus missverstanden wird. Eine glückliche Ehe im selbstsüchtigen Sinne dessen, was Verliebte erhoffen, ist ebenso selten, wie Kinder der Liebe, allen Vorurteilen zum Trotz, notwendig gut geraten. Mit der Ehe enden nicht, mit ihr beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten des Lebens, und da bewusstes auf-sich-Nehmen des Lebens ipso facto ein auf-sich-Nehmen von Leid bedeutet,1 so ist rein grundsätzlich klar, wie sehr die egoistische Glückserwartung der Verlobten auf einer List der Natur im Schopenhauerschen Verstand beruhen muss. Hierzu tritt der besondere Umstand, dass Erfüllung die sie fordernde Sehnsucht aufhebt — in der Ehe amortisiert mich ja recht eigentlich der Zustand des Verlobtenglücks, das auf der belebenden Spannung des noch nicht beruht, — und der Begriff von Eheglück allgemein unter der Voraussetzung derer bestimmt wird, welche sich nicht haben; welche Voraussetzung sich auch die Außenstehenden, die sich jeder Hochzeit freuen, von Fall zu Fall durch Identifizierung aneignen. Hierüber sollte sich jeder ein für alle Male klar werden. Dann aber ist er auch reif zur versöhnenden Erkenntnis, dass Glück als solches überhaupt nicht Problem sein kann. Glücksgefühl entsteht durch Erfüllung; deren Sinn ist aber unabhängig von bestimmten Voraussetzungen nie zu bestimmen. Es gibt Liebesglück, Mutterglück, Schaffensglück und viele Glücksarten mehr. Um diese zu erleben, muss man unmittelbar die Sache selbst im Auge haben; das Glück ergibt sich dann als Folge erfüllten Sinns. Von hier aus wird denn deutlich, inwiefern es, unbeschadet der Wahrheit des Vorhergesagten, spezifisches Eheglück gibt. Auf unterster Stufe bedeutet es gesicherte Routine. Die Natur als solche ist routiniert, und der Mensch überdies, wie Dostojewsky lehrt, das eine Tier, das sich an schlechthin alles gewöhnt; deshalb gibt es auf dieser Ebene überhaupt keine Unmöglichkeit vollbefriedigten Daseins. Wo ein Problem nicht gestellt wird, existiert es nicht. Sogar kein Sklave murrte je dauernd gegen ein Schicksal, das er als rechtmäßig ansah. So sind Ehen primitiver Menschen, wenn sich nur die Naturtriebe in ihnen erfüllen, selten unglücklich, wie immer die besonderen Umstände beschaffen seien. Und jene erfüllen sich nur ausnahmsweise nicht in ihr, weshalb Eheähnliches schon unter Tieren vorkommt. Eben deshalb werden unter normalen Verhältnissen, wo der Typus gegenüber dem Einzigen vorherrscht, von weisen Verwandten, die allen nicht- und überindividuellen Gesichtspunkten Rechnung trugen, vermittelte Ehen häufiger glücklich als Liebesheiraten, sofern die Liebe nicht Ausdruck eben dieses Typischen war2 und erwacht persönliche Neigung in jenem Falle häufiger nachträglich, als dass sie sich in diesem erhält. Auf höherer Individualisiertheitsstufe hingegen ist Eheglück nur bei Erfassung des Sinns der Ehe und bei dem guten Willen, eben diesen Sinn zu erfüllen, überhaupt noch möglich — denn bei jeder nicht sinngemäßen Fragestellung muss die Glücksantwort negativ ausfallen. Um der unbewussten und triebbeherrschten Jugend die entsprechende Selbstüberwindung zu erleichtern und die bewusstempfundene Enttäuschung der Selbstsucht auf ein Minimum einzuschränken dazu vor allem verquickten die Weisen früher Zeiten sogar die Ehe als Naturform mit soviel schwerverständlicher Metaphysik. Den gleichen Zweck verfolgt alle Ethik der Ehe- und Elternpflicht, die da behauptet, dass Pflichterfüllung und Glück notwendig zusammenfallen. Aller Ehe Anfang ist schwer. Sogar das instinktiv von allen Verehelichten gestützte Glücksprestige des Honigmondes ist in erster Linie Kind des weisen Wunsches, durch die Suggestion, dass er die schönste Zeit des Lebens darstellen müsse, jedem neuen jungen Paar die Erkenntnis der Wirklichkeit so lange vorzuenthalten, bis dass die Seelen für sie reif geworden sind. Denn Ehe ist vor allem auf sich genommene Verantwortung. Diese aber ist das eine, wovon der Trieb an sich nichts wissen will.

Nun aber wird auch klar, weshalb die Schwierigkeiten des Anfangs keinem für die Dauer glücklichen Ehepaar überhaupt im Gedächtnis haften bleiben, und dem Positiven gegenüber jedenfalls nicht mehr ins Gewicht fallen, wie einer echten Mutter die Schmerzen des Wochenbetts. Nun wird auch klar, warum die Sorgen und Schwierigkeiten, die sich aus der Verantwortung ergeben und mit dem Lebensglück, welches das Märchen schildert, in so schreiendem Widerspruch stehen, kein echtes Eheglück je untergraben konnten: ist der wahre Sinn der Ehe erfasst, worunter richtige Einstellung des Unbewussten weit mehr noch als klar formulierte Einsicht zu verstehen ist, dann ermöglicht sie die höchste überhaupt denkbare Erfüllung irdischen Daseins. Denn die Erfüllung der Ehe und damit ihr Glück schließt die Aufsichnahme des Lebensleides ein. Sie gibt diesem einen neuen tieferen Sinn. Sie feit insofern recht eigentlich gegen das Leid. Denn sie hebt den bewussten Menschen auf die eine Ebene empor, auf welcher die Gleichung des Lebens aufgehen kann. Leben und Leiden sind insofern eins, als ein Werden ohne gleichzeitiges Vergehen unmöglich ist und Harmonie nur als Erlösung von Dissonanzen überhaupt harmonisch wirkt — ich resümiere hier kurz die Ergebnisse des Zyklus Werden und Vergehen in Wiedergeburt. Will der Mensch also leben, so muss er auch leiden wollen; erstrebt er Freude und Glück im üblichen Verstand allein, so will er nur partielle Erfüllung, und dass solche dem Sinn des Lebens nicht entspricht, beweist allein das Schalheitsgefühl, das jeder rein egoistischen Befriedigung unausweichlich folgt. Wer nun das Lebensleid von vornherein auf sich nimmt, der zentriert sich im wahren Sinn des Lebens. Für den gibt es dann ein Positives oberhalb von Freud und Leid im selben Verstand, wie die Melodie ein Jenseits des Geborenwerdens und Sterbens der Einzeltöne ist. Dem verliert das Leben durch kein Unglück seinen Sinn. In der sogenannten glücklichen Ehe wird also das Glücksproblem in üblichem Verstande nicht gelöst, sondern recht eigentlich erledigt.3 Erledigt insofern, als in ihr die Tragik des Lebens akzeptiert wird. Und jetzt sind wir zu einer weiteren, zunächst paradox klingenden Wahrheit reif: der Ehestand ist von Hause aus kein glücklicher, sondern ein tragischer Zustand. Tragisch nennen wir den Konflikt, für den es keine denkbare Lösung gibt. Insofern ist schlechthin alles geistbewusste Leben tragisch, denn dessen ganzer Prozess baut sich auf der Störung und Zerstörung bestehenden Gleichgewichts und den sich daraus ergebenden immer neu entstehenden Spannungen auf. Es ist unmöglich zu leben, ohne jeden Augenblick Schuld auf sich zu nehmen, von der banalen Tatsache, dass jedes Wesen unabwendbar anderen zuleide lebt und Kinder sich ihren Eltern, von deren Standpunkt, undankbar erweisen müssen, bis zum Frevel, welche jede historische Neuerung in sich schließt. Betrachten wir aber das Leben in seiner anderen Dimension der Solidarität, in welcher jeder einzelne ebenso notwendig für die anderen lebt, wie in der des Daseinskampfes auf deren Kosten, so erweist sich die gleiche Tragik darin, dass dieses Für-Einander nie zu der Einheit führt, welche die Liebe verlangt. Zu dieser Art Tragik bietet die Ehe nun die Urform. Erinnern wir uns ihrer formalen Grundbestimmung: die Ehe stellt ein unlösbares Spannungsverhältnis dar, dessen Wesen mit der erhaltenen Spannung steht und fällt. Mann und Weib, als Individuen wie als Typen grundverschieden, unvereinbar und wesentlich einsam, bilden in ihr eine unauflösliche distanzierte Lebenseinheit. Aber jeder Trieb für sich allein sucht die Distanz aufzuheben. Die Liebe verlangt Verschmelzung, ineinander-Aufgehen, von der physischen Vereinigung bis zum geistig-seelischen Verstehen; der Machttrieb, ob aktiv, ob passiv, Unterwerfung des einen durch den anderen, der Glückswunsch Frieden als Entspannung. Alle diese Probleme sind unlösbar, weil die Ehe mit ihrer Nicht-Lösung und -Lösbarkeit steht und fällt; die Ellipse kann nie zum Kreise werden. Aus dem, was Liebe und Machttrieb anstreben, spricht die Sehnsucht primordialer Keimzellen, in Höherem aufzugeben; der Wunsch nach Entspannung ist unmittelbar Todeswunsch. Alles höhere Leben baut sich auf ungelösten niederen Spannungen auf. Und damit nimmt es immer tragischeren Charakter an, je höher es sich erhebt. Die Spannung der Geschlechter ist noch in der höheren Tierwelt mit der vollzogenen Begattung subjektiv erledigt — beim Menschen hingegen ewig; ewig vergeblich suchen Mann und Weib sich zu einigen, sich zu verstehen. Symbol dessen ist schon der ständige Geschlechtsverkehr, der, wo er keiner Neigung entspricht, als eheliche Pflicht gilt, völlig unabhängig von der Hinsicht auf Nachkommenschaft, sowie die Tatsache, dass primitive Gatten in Szene, Zank und Zwist keine Schädigung ihres Glücks sehen — diese fungieren in der Tat bei der Unaufhebbarkeit der Spannung an sich auf ihrem Niveau als die harmlosesten Sicherheitsventile. Ebenso grundsätzlich unlösbar ist der Konflikt jedes Gatten zwischen dem, was er sich selbst, seinem Gemahl und seinen Kindern schuldig ist, vollends unlösbar der zwischen persönlichem Streben und Gemeinschaftsforderung überhaupt; denn letztlich ist jeder Einzelne völlig einsam. Aber eben in der Paradoxie des Aneinandergebundenseins zweier Einsamkeiten, die sich in ihm nicht aufheben, liegt der eigentliche Sinn der Ehe. In ihr wird die wesentliche Tragik alles Lebens dem Menschen als persönliches Problem bewusst. Als Problem in dem Sinne, dass sie unaufhebbar ist. Nun, mit dieser Erkenntnis ihrer Unaufhebbarkeit, also mit der akzeptierten Tragik beginnt erst das Menschenleben, insofern es ein Höheres sein soll als das von Pflanze und Tier. Und nun wird vollends klar, inwiefern vollkommene Ehe den Menschen höchste Sinnerfüllung bedeuten muss. In ihr wird die tragische Spannung bewusst oder instinkthaft als Basis akzeptiert. In ihr stellt sich der Einzelne in bezug auf den Welt-Sinn von Hause aus richtig ein. Und die Probleme des Lebens stellen sich fortan jenseits derer, welche ihr tragischer Charakter als solcher aufgibt, d. h. dem letzten Welt-Sinn gemäß. So kann Leiden nicht minder wie Befriedigung Glück bedeuten; so kann der wildeste Schmerz doch freudig bejaht werden, sofern er nur als Erfüllung der Bestimmung des Menschen erkannt ist. So wird schöpferisch ausgewirkte Verantwortung zuletzt zum letzten Ziele alles Glückstrebens.

Und nun verstehen wir auch, warum das Eheproblem nur in seinem Höchstausdruck sinngemäß zu erfassen und nur von hochentwickelten Menschen vollkommen zu lösen ist: Ehe im wahren Sinne ist erst die Ehegemeinschaft, die ihren wahren tragischen Sinn realisiert. Bei allen Gemeinschaftsformen von Mann und Weib, von welchen dies nicht gilt, handelt es sich um Vorstufen oder Rückfälle. Im Rahmen dieser ist es freilich leichter, banale Befriedigung zu finden; weder Kohlkopf noch Kuh weiß von Tragik. Aber andererseits spürt jeder, sogar der Primitivste, dass die Ehe erst auf der tragischen Stufe ihren Sinn zu erfüllen beginnt. Alle Ehen, welche je als Vor- und Sinnbilder von Menschen meditiert werden, waren Beispiele freudig getragenen großen und schweren Schicksals. Von Eheglück kann eben sinnvoll nicht früher die Rede sein, als bis es durch Unglück nicht mehr gefährdet wird. Hieraus erklärt sich denn vielerlei. Erstens, warum wirtschaftliche Gemeinschaft auf Grund richtiger Arbeits- und Verantwortungsteilung auf niederer Entwicklungsstufe von jeher die einzig bewährte Eheglücksbasis darstellt. Zweitens, warum alle allgemein anerkannten Vorbilder des Ehelebens, empirisch betrachtet, Höchstausdrücke der Standesehe bedeuten (unter dieser verstehe ich, dem ursprünglichen und wahren Sinn gemäß, die Ehe als Trägerin eines bestimmten Ethos, des Ethos einer bestimmten Kulturordnung, eines bestimmten Standes im Kosmos, woraus sich sekundär die Grenzen jeweils erlaubter Gattenwahl ergeben; die Blutsfrage spricht hier nur deshalb entscheidend mit, weil der Stand der Ehe, im Gegensatz zum Mönchstand, die Verewigung des Bluts auf durch geistige Ideale bestimmtem Niveau zur Aufgabe hat): nur auf den Höhen der Menschheit konnte bisher, wo es ein allgemeines hohes Niveau nicht gab, der Sinn der Ehe überhaupt einigermaßen realisiert werden. Denn diese Realisierung setzt Beherrschung der Einzeltriebe voraus und den Willen zum Einklang aller Komponenten, aus denen sich das Eheverhältnis aufbaut. Aus welcher Erwägung unter anderem deutlich wird, dass es ein Zeichen nicht des Hochstehens, sondern des Tiefstandes ist, wenn man einer bloßen Leidenschaft gehorchend eine Ehe eingeht oder sie zerstört. Ehe ist wesentlich Verantwortung. — Drittens und vor allem aber machen obige Erwägungen verständlich, warum Eheglück auf niederer Stufe dem Menschen, welcher sonst eine höhere erreicht hat, schadet. Die Sattheit des bourgeoisen Glücklichseins löst heute in jedem entwickelten und strebenden Jungen nichts wie Ekel aus, wie denn die Anfeindung der Eheeinrichtung als solcher hauptsächlich daher rührt, dass ihr Wesen mit dieser bestimmten Erscheinung identifiziert wird. Satt kann und darf in der Tat der höhere Mensch nie sein, denn sein Wert beruht gerade auf der Unbegrenzbarkeit seines Strebens. Sattheit ist dort allein möglich, wo dieses zugunsten irgendeiner Routine abgedankt hat. Diese nun zieht desto mehr herab, je höher die Möglichkeiten eines Menschen waren. So wirkt die geistbewusste Frau als bloßes Geschlechtswesen oder Muttertier nicht, wie das primitive Weibchen, ehrwürdig, sondern widerwärtig, und der Mann gar, welcher im Gattungsleben aufgeht, verächtlich. Und von hier ermisst man auch ganz die Verderblichkeit jener christlichen Vorstellung, die im Verheiratetsein als bloßer Tatsache Idealerfüllung sieht. Die Ehe als Legitimierung tierischer Sattheit und des sich-gehen-Lassens ist recht eigentlich ein Widersinn. Dieses Ideal ist des Menschen unwürdig; wo es geglaubt wird, zieht es ihn mehr herab, als irgendein Astarte-Kult vermöchte. Die Ehe ist gerade deshalb der Menschheit allgemeinstes Ideal, weil sie, richtig erfasst und verwirklicht, Befriedigtheit auf niederem Niveau ausschließt und eben dadurch ein höheres begründet; ihr Sinn ist nicht, zu entspannen sondern zu steigern. Daher rührt es, dass unglücklich Verheiratete an ihrer Seele seltener Schaden nehmen als an der Ehe Befriedigte. Nicht nur wirkt Eheunglück auf die Selbstentwicklung positiver, als durch Erlebnismangel bedingte Leidlosigkeit — es führt eher zu dem inneren Glück, welches die notwendige Folge echter Erfüllung ist, als jede nicht lebenssteigernde Harmonie. Selbstverständlich behaupte ich hiermit nicht, dass Ehen, in welchen ein Teil den anderen aufreibt, irgendwie positiv zu bewerten wären: ich rede ausschließlich von steigernden Leiden. Aber soviel bleibt, was immer man einwende, wahr: Sehr wenige vertragen allzu glückliche Lebensumstände; die allermeisten stumpfen in ihnen ab. Sintemalen das Leben nur dort als solches gefühlt wird, wo es sich schöpferisch betätigt, so sind vom Standpunkt Außenstehender besonders Glückliche, dieweil sie keine Sorgen hätten, in der Regel die wenigst Befriedigten. Ein bestehender Zustand als solcher wird vom Menschen nicht wahrgenommen; nur die Probleme spürt er, die sich ihm von ihm aus stellen. Deshalb ist der Wille zum Wagnis, zum Risiko menschliches Urphänomen. Der Arme strebt nach Reichtum, der Unbekannte nach Anerkennung, nicht eigentlich um dieser selbst willen, sondern weil er über seinen Zustand hinaus will. Eben darum beneidet der Reiche sooft den Armen. Eben deshalb strebt das Mädchen gerade aus der Sicherung des Elternhauses heraus: sie will im tiefsten das Gegenteil dessen, was der elterlichen Fürsorge Ideal ist; instinktiv bejaht sie in der Ehe gerade das Wagnis. Denn Nietzsche hat recht, wenn er das Menschenleben nicht statisch, sondern einzig dynamisch bestimmt wissen will, als Wille zum Mehr-Leben, d. h. zur Steigerung. Der Mensch will frei sein, nicht um der Mühe enthoben zu werden — diese wächst vielmehr proportional der Selbstbestimmung — sondern um innerlich zu wachsen. So bejaht er auch den Spannungszustand der Ehe zutiefst deshalb, weil dieser Neu-Werden und Wachsen ermöglicht. Auf der physischen Ebene gilt dies in Gestalt des Kindes. Auf der geistig-seelischen in dem Sinn, dass an der Erfüllung des vollen Lebensanspruchs, wie ihn die Ehe stellt, die Gatten innerlich wachsen. Nicht nur werden die Eltern von den Kindern mindestens ebensoviel erzogen, wie das Entgegengesetzte zutrifft — es liegt in der Natur des Ehe-Spannungsverhältnisses als eines zwischen zwei wachstumsfähigen Wesen, dass der Wunsch nach Lösung sich dahin sublimiert, dass der eine den anderen hinanziehen oder von ihm hinangezogen werden will. Daher das unausrottbare Aufschauen des Manns zum Ewig-Weiblichen; daher das Bedürfnis jeder Frau, den Geliebten zu verehren. Der tiefste Sinn der Ehe vom Standpunkt des Einzelnen ist eben Steigerung. Woraus dann wohl endgültig klar wird, wie sinnwidrig die Vorstellung der Ehe als eines sicheren Hafens, sowie jede Ehe-Wirklichkeit ist, welche im Zeichen der Sattheit steht.

1 Vgl. den Zyklus Werden und Vergehen, vor allem dessen Teil Geschichte als Tragödie in Wiedergeburt (Darmstadt 1926).
2 Vgl. hierzu meine Betrachtung über die Ehe in Ost und West im Peking Abschnitt meines Reisetagebuches eines Philosophen.
3 Inwiefern die meisten Lebensprobleme nicht zu lösen, sondern nur zu erledigen sind, zeigt der Vortrag Spannung und Rhythmus meines Buches Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Das Ehe-Buch · 1925
Eine neue Sinngebung im Zusammenklang der Stimmen führender Zeitgenossen
© 1998- Schule des Rades
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