Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

12. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926

Bücherschau · Hendrik de Man · Psychologie des Sozialismus

Eine ganz große Freude bereitete mir die Lektüre der Psychologie des Sozialismus von Hendrik de Man (Eugen Diederichs). Ich stehe nicht an, sie als das bedeutendste den Sozialismus betreffende Werk der Weltliteratur seit Marx Kapital hinzustellen. Denn schuf dieser die Grundlage zur sozialistischen Weltbewegung, so wird hier ihr bisheriges Fazit gezogen; es wird gezeigt, inwiefern der Marxismus sich totgelaufen hat, und was das Lebendige und Ewig, wahre ist, das von jeher hinter allen Theorien stand, nun aber beginnen muss, seines eigenen Sinns, von allem historischen Buchstaben unabhängig, bewusst zu werden. De Man war jahrelang führendes Mitglied der belgischen Arbeiterbewegung. Er kennt aber aus intimster Anschauung auch alle anderen, bis zur amerikanischen und russischen. Von seltener Beobachtungsgabe, von außerordentlichem psychologischen Verständnis, dabei analytisch und philosophisch geschult, hat er nun das Ergebnis seines jahrelangen Erlebens, Denkens und Sinnens in einem Buch zusammengefasst, das ich von Anfang bis Ende mit nie nachlassender Spannung las. Denn jeder Satz ist dicht, er verdichtet sinnerfassend reichste Anschauung. Und liegt dem Verfasser philosophisches Verallgemeinern nicht, ist er seiner Anlage nach Pluralist und Pragmatist, so gelang es ihm eben deshalb desto mehr, jeder Einzelerscheinung in sozialpolitischem Zusammenhang ohne ideologisches Vorurteil gerecht zu werden. Keiner sollte sich künftig unterfangen, über Sozialismus und soziale Bewegungen zu urteilen, der dieses Buch nicht studiert hat. Denn so viel ist klar: alles reine Theoretisieren, alles Beurteilen des Konkreten aus vorgefassten Meinungen heraus ist historisch ein für alle Mal erledigt, weil ad absurdum geführt. Es ist fortan unwissenschaftlich, nicht von der Ganzheit der psychischen Wirklichkeit, sondern von irgendwelchen Teilausdrücken ihrer, als welche alle Vernunftbegriffe und Ideen sind, auszugehen. Die deutschen Philosophen, die das noch nicht verstehen, gehören zum alten Eisen. Nur lebendiger und lebendig verstandener Geist kann zum Fortschritt führen, nie mehr eine herausgestellte Theorie.

Was bietet nun das Buch von De Man? Darüber will ich hier nichts sagen, weil es den ganzen Reichtum der Arbeiterbewegungs­erscheinung durchdringt und sein Hauptwert in den sich unaufhaltsam folgenden Einzeleinsichten liegt, die ich hier natürlich nicht aufzählen kann. Das Buch ist als Ganzes zu lesen und zu meditieren. Nur so viel zur Vorbeugung von Vorurteilen. Es enthält nicht allein eine vollständige Analyse und Sinndurchdringung der sozialistischen Wirklichkeit, es enthält Deduktionen des Begriffs der Arbeit überhaupt, des Sinns des Führertums, der Autorität, des Minderwertigkeitsgefühls, des Prestiges der sozial Höherstehenden und Besitzenden; es zeigt, warum die Sozialdemokratie sich verbürgerlichen muss, warum der Sport heute so viel bedeutet, welches die wahren Triebfedern des Glaubens an bestimmte soziale Theorien sind (wobei sich insonderheit herausstellt, dass dies beim Sozialismus überkommene Gesinnungen aus der Feudalzeit sind!), inwiefern Deutschland unstreitig zurückgeblieben ist, und was Frankreich infolge seiner Siegerpolitik in Zukunft droht. Ein Grundton, der durch das ganze Buch hindurchgeht, betont die verderbliche Wirkung des Gefühls wirtschaftlicher Ungeborgenheit (weshalb viele häßliche Erscheinungen Europas in Amerika nicht aufkommen können), ein anderer das Primat des ethischen Wollens gegenüber allem wirtschaftlichen. Und rein ethisch, ja religiös klingt das Buch aus. Allem sozialistischen, zumal marxistischen Dogmen, glauben gibt De Man den Todesstoß. Aber er zeigt zugleich, wie die sozialistische Gesinnung, als zeitgemäßer Ausdruck der ursprünglich christlichen, allerdings alle Zukunft für sich hat. Nur muss sie sich dazu von allem Utopismus befreien. Die sozialistischen Ideale müssen in sozialistische Motive umgewandelt werden. Der Wert des Sozialismus bemisst sich darnach, nicht was in Zukunft einmal werden kann, sondern was er aus dem Lebenden, in bezug auf sich wie seine Nächsten, macht.

Ich kann mir die Genugtuung nicht versagen, bei dieser Gelegenheit zu sagen, dass Hendrik de Man Darmstädter ist. Manche Tagung hat er mitgemacht, manches Zwiegespräch mit mir geführt. Und zumal an den philosophischen Einführungskapiteln tritt klar hervor, dass unser Impuls, der auf richtige Einstellung geht, in seinem Fall alles eher als wirkungslos verblieb.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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