Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

13. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1927

Bücherschau · Ewige Grundhaltung

Über das Judentum vom Standpunkt des Christen ist viel geschrieben worden; das meines Wissens Beste neuerdings von Oscar A. H. Schmitz in seinem Aufsatz Der jüdisch-christliche Komplex im Sonderheft 1926 der Zeitschrift Der Jude (Jüdischer Verlag, Berlin NW, Dorotheenstraße 33)1. Aber seit biblischen Tagen haben die Juden kein lebendiges Bild dessen, wie der Nichtsjude dem Juden erscheint, herausgestellt. Neuerdings ist dies geschehen, und zwar durch einen Führer des amerikanischen Zionismus, Maurice Samuel, in seinem Buch You Gentiles (New York 1924, Harcourt, Brace & Co.). Selten las ich gleich Aufklärendes. Und ich möchte dringend raten, dass dieses kleine Buch recht bald auch in deutscher Sprache erschiene. Von diesem Buche her erst habe ich ganz verstanden, wie tief der Gegensatz zwischen Juden und Christen ist. Der Jude ist ganz wesentlich moralisch-prophetischer Revolutionär. Er glaubt nur an absolute Werte und auf die hin und von ihnen her will er die Welt verbessern. Demgegenüber müssen ihm alle nicht jüdischen Ethiken als bloße Systeme von Spielregeln erscheinen. Der Christ erscheint Maurice Samuel als wesentlich nicht ernst; er sieht insofern im Duell das Urbild des Verhaltens der Gentiles zu ernsten Dingen und Fragen. Besonders charakteristisch ist der folgende Passus (S. 148).

Dislike of the Jew in business springs from the feeling that we regard all your play-conventions with amusement — or even contempt. Our abominable seriousness breaks jarringly into your life,mood. But you feel our disruptive influence most keenly, most resentfully, in our deliberate efforts to change your social system. We dream of a world of utter justice and God-Spirit, a world that would be barren for you, devoid of all nourishment, bleak, unfriendly, unsympathetic. You do not want such a world: you are unapt for it. Seen in the dazzling lights of your desires and needs our ideal is repellently morose. — We do wrong to thrust these ideals upon you, who are not for justice and peace, but for play-living.

Samuel meint, dass der Jude wirklich der eine ernste Feind des christlichen Geistes sei, und zwar noch gefährlicher in moderner Gestalt wie als orthodoxer (S. 144), und auch auf den jüdischen Kosmopolitismus fällt dadurch ein neues Licht: dieser rühre daher, dass alle Gentiles dem Juden wesensgleich dünken.

Das Buch ist natürlich sehr einseitigen Geists, wie er heute vielleicht nur unter fanatischen Zionisten lebendig ist, die nie mehr als eine kleine Minorität der Judenschaft bedeuten werden. Dieses sei hier ausdrücklich betont, denn nichts liegt mir ferner, als Wasser auf die Mühle der Antisemiten zu leiten. Ich bin persönlich überzeugt, dass es sich bei der christlich-jüdischen Spannung um einen fruchtbaren Gegensatz handelt, weshalb wir die Juden notwendig brauchen, wie sie uns. Aber Samuels Buch ist doch, noch einmal, äußerst lehrreich. Denn es zeigt, um ein wie Konstantes, Unzerstörbares es sich bei Volksgeistern handelt. Um gleich ganz deutlich zu machen, wie ich das hier meine, sei auf den äußersten Gegenpol des jüdischen Geistes, den russischen, hingewiesen, wie ihn Sir Galahad in ihrem Idiotenführer durch die russische Literatur (München 1925, Albert Langen Verlag) geschildert hat. Diese Schilderung ist grotesk einseitig; nur als reaktionsmäßiges Gegenbild der kritiklosen Russenverhimmelung, wie es einmal, um des Gleichgewichts der deutschen Seele willen, herausgestellt werden musste, verstanden, und mit dieser Verhimmelung in eins zusammengeschaut, ist sie überhaupt erträglich. Aber sie ist, als schamlose Karikatur, doch wahr und sogar selten gut geglückt. Der Russe ist wesentlich Chaos, haltungslos, kulturfeindlich, dem Häßlichen instinktmäßig2. Und zwar gilt dies sogar von den Höchstgebildeten. Wird sich das jemals ändern, und wenn, kann dies ohne Blutmischung geschehen?

Man lese Fülöp-Millers Monumental-Photographie des heutigen Russlands (Geist und Gesicht des Bolschewismus, Amalthea-Verlag): sie zeigt ein Zwangssystem, nach dem das Chaos im Russen buchstäblich schreit, zumal es seiner Neigung für das öde und Häßliche durchaus entspricht. — Diese Probleme wären leicht zu erklären, wenn es Wiederverkörperung gibt: in diesem Fall dienten bestimmte dauerhafte Volksanlagen einfach dazu, immer erneut entsprechend veranlagten Seelen passende Leiber zur Verfügung zu stellen. Beinahe glaube ich, dass es so ist, wenigstens manchmal… Andererseits: gewisse Grundhaltungen finden sich innerhalb aller Völker zu allen Zeiten wieder.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dessen, was ewige Grundhaltung bedeutet, gab implizite der Vortrag von Leo Frobenius in Frankfurt, in dem er am 14. Dezember 1926 über die Ergebnisse seiner letzten Afrika-Expedition berichtete. Seit Urzeiten leben im Nilgebiet zwei Menschenarten nebeneinander: Arbeiter und Herren. Diese erscheinen so extrem typisiert und als Typen vererbungsmäßig fixiert, wie nirgends sonst. Bei keinem Menschen der Erde ist das Leben so sehr nur Arbeit, wie beim Nil-Bauern. Andererseits ist niemand so sehr nur Herr, wie der nubische Hirte. Hier gibt es keinen Übergang, keinen Ausgleich. Doch gab es von jeher immer wieder Symbiose: die Beherrscher Ägyptens gingen wieder und wieder aus den Herren-Ständen hervor. — Gibt es nicht unter allen Völkern Typen, die ausschließlich zum Herrschen, und andere, die ausschließlich zum Arbeiten geboren sind? Und wäre es nicht das einzig Ersprießliche, weil einzig Sinnvolle, jeden das leisten zu lassen, was er am besten kann? Ist es nicht völlig aussichtslos, aus allen Gleiches gestalten zu wollen? Nivelliert dies nicht zwangsläufig nach unten zu? Mir scheint, höhere Zustände sind nur denkbar, wo die verschiedensten Lebensformen, als solche anerkannt, zusammenwirken.

Eine Welt, die nur aus Juden bestände, wäre fürchterlich. So ist es eine jede Welt, die nur das Ethos der Arbeit kennt. Das war nun, das ist noch unsere moderne Welt. Sie stellt immer mehr ein mechanisiertes Ägypten dar, ohne Pharaonen… Doch schon naht die Reaktion: das Souveränitätsideal, das zuerst Nietzsche wieder aufstellte, beginnt nicht allein in der Phantasie, sondern auch bereits in der Welt der Geschichte bestimmende Wirklichkeit zu schaffen.

1 Auch viele der anderen Aufsätze dieses Sonderheftes, das vom jüdischen Verlag mit großer fairness zusammengestellt ist, sind lesenswert. Gleiches gilt von denen des Sonderheftes 1925. Seit der Niederschrift obiger Zeilen habe ich nun die Selbstdarstellung eines entwurzelten Juden zu Gesicht bekommen, die ich als solche außerordentlich interessant finde und dringend empfehle: sie ist von Emil Ludwig und führt den etwas irreführenden Titel Bismarck (Berlin 1926, Ernst Rowohlt Verlag). Ludwig zeichnet Bismarck wesentlich mit dessen eigenen Worten. Und deren Stil gibt den wahren Charakter des Schreibers so unzweideutig wieder, überdies steht Bismarcks Mythos schon so fest, dass das gelegentlich Tendenziöse an der Auswahl das Gesamtbild für den, der überhaupt verstehensfähig ist, kaum verzerrt. Nun aber, im Rahmen dieser granitenen Mauern, der kommentierende und zensierende Ludwig! Kaum je las ich ähnlich Enthüllendes. Nur ganz wenige Stellen sind mir begegnet, wo Ludwigs Verständnis gegenüber Bismarck nicht ganz versagt. Noch nie fand ich eine bessere Illustration der These von Grenzen der Menschenkenntnis (in Wiedergeburt), dass jeder nur Niveaugleiches verstehen kann. Ich traute meinen Sinnen nicht, wie ich las, wie Ludwig bei Bismarck Stolz und Ehrgeiz in Gegensatz setzt, wie er unfähig erscheint zu verstehen, dass ein Mensch höheren Niveaus seinen Gefühlen nie in dem Sinne verfällt, wie ein kleiner, wie er bei Bismarck alles auf Ressentiment zurückführt. Ist Ludwig denn noch nie ein freier Herrenmensch begegnet? Ist ihm nie aufgefallen, dass kleine Leute allein jemals Gemüt hatten und dass jeder, schlechthin jeder, der einen ähnlichen Überblick besaß, auf Bismarcksche Weise zynisch war? Ist ihm gar nicht aufgegangen, dass alles Einzelne bei Bismarck dank dem Niveau der Persönlichkeit einen besonderen Sinn erhält? Weiß er z. B. nicht, dass man hassen kann auch ohne Ressentiment, aus innerem Überströmen, so wie man rein ausströmend lieben kann? Unter Juden Ludwigscher Artung ist das wahrscheinlich wirklich nicht möglich, und fern liegt mir, darüber zu spotten: ein wahrhaft tragisches Geschick hat dies verschuldet. — Ich bin glücklich, dass dieses Buch geschrieben worden ist. Von dem ungeheuren Hintergrunde Bismarckscher Größe hebt sich die Kleinheit der von Natur und Schicksal Enterbten, und hier ist Ludwig Sinnbild für die meisten Deutschen, die seine Bücher goutieren, unmittelbar ergreifend ab.
2 Bei dieser Gelegenheit weise ich auf mein Nachwort zu Tolstois Krieg und Frieden hin, das zunächst im Almanach auf das Jahr 1927 des Paul List Verlags (Erzählende Kunst) veröffentlicht steht.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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