Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

14. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1927

Von der wahren Selbstachtung

Aristoteles lehrt, Gleichheit sei die richtige Beziehung zwischen Gleichen, Ungleichheit hingegen zwischen Ungleichen. Zwischen Niveauungleichen ist, in der Tat, unter gar keinen Umständen eine gerechte Beziehung im Sinn amerikanisch oder schweizerisch verstandener Gleichheit denkbar. Si duo faciunt idem, non est idem. Auf rein sachlicher Ebene, wo der Mensch als solcher, d. h. als das einzige Wesen das er jeweils ist, außer Betracht bleibt denn in der jeweiligen Einzigkeit besteht das Menschsein, nicht in der gleichen Zugehörigkeit zur Gattung homo sapiens Linné — kann es gewiss gleiches Recht geben für jedermann. Nie jedoch, wo das persönliche Moment auch nur im geringsten mitzählt. Das Quieksen des Schweins ist nicht dasselbe wie das Gebrüll des Löwen. Wer wirklich Löwe ist, hat das objektive Recht zur Forderung, dass sein Gebrüll anders beurteilt werde, als jenes, da seine Wesensart die edlere ist. Hier setzt denn das Wertproblem ein. Mit Verstehen ist gar nichts geleistet: bei genügendem Verstand ist schlechthin alles zu verstehen und das Gemeine erscheint im ganzen gemeinverständlicher als das Erhabene. Es gibt höhere und niedrigere Niveaus, unedle und edle Verhaltungsweisen. Und da hat im Konfliktsfall das Edle dem Unedlen, das Große dem Kleinen gegenüber vor dem Forum der Gerechtigkeit, die ein qualitativ anderes ist als Billigkeit1, auf seiner Seite das absolute Recht. Nicht so zwar, dass der Löwe das Schwein ohne weiteres zu fressen befugt wäre, wohl aber im Sinne dessen, dass zu verlangen ist, dass das Ethos des Löwen als absolut höher gälte als das des Schweins, und dass dieses jenem nachzueifern hat. Tut es das nicht, so ist eben seine Minderwertigkeit erwiesen, und zwar am meisten dort, wo es im Einzelfall vielleicht im Rechte ist. Man darf eben vom Standpunkt der Gerechtigkeit überhaupt nicht den Einzelfall als solchen behandeln: worauf allein es ankommt ist das, was das Einzelne im Zusammenhang bedeutet.

Weil es keine mögliche Gleichheit im demokratischen Sinn unter innerlich Ungleichen gibt, ebendeshalb ist es Bedürfnis jedes edleren Menschen, durch abgestufte Distanzierung die jeweils richtige Gleichung herzustellen. Goethe schrieb einmal, nachdem auf einer Reise in einem Wirtshaus einige Kaufleute sich aufdringlich lärmend zu ihm gesetzt hatten, um so ihre Gleichheit zu markieren: gerade (ich zitiere nach dem Gedächtnis) indem sie mir zugestanden hätten, wer ich bin, hätten sie sich mir als gleich erwiesen; so bewiesen sie allein ihre Roheit. Wer einem Goethe innerlich zugesteht, wer er ist, kann gar nicht daran denken, ihm auf die Schulter zu klopfen. So hält jeder Edle um seiner selbst willen irgendwie Höhergestellten gegenüber die jeweils angemessene Distanz ein. Denn, wie wiederum Goethe (ich zitiere dem Sinne nach) äußerte, Etikette stellt zwischen dem König und dem kleinen Mann die richtige Gleichung her und gerade sie, sie allein schafft insofern Gleichheit. Hier läge denn der Kernpunkt des Problems. Insofern zwischen wesentlich Ungleichen Gleichheit herrschen soll, bedarf es jeweils besonders angesetzter Gleichung.

Heutzutage denken und fühlen nun die allermeisten leider so, wie die von Goethe belächelten Kaufleute. Mir war es in meiner Jugend selbstverständlich, dass ich meinem um ein Vierteljahrhundert älteren Gönner Chamberlain hochverehrter Herr Chamberlain schrieb, mochte er mich auch stets lieber Freund nennen; und ich war nicht einzig darin. Gleiche Distanz mir gegenüber halten unter den Jungen nur die allervornehmsten und —begabtesten ein. Ebenso war und ist es mir selbstverständlich, wo ich jemandem persönlich weh getan hatte oder habe, mich persönlich zu entschuldigen und dabei ja nicht weniger Genugtuung zu geben, als der Betreffende erwarten darf: erscheint ein persönlicher Gleichgewichtszustand durch meine Schuld gestört, und war es nicht meine Absicht, den anderen zu demütigen — gewiss kann sie dieses sein, sofern er eine ihm nicht gebührende Stellung usurpiert oder sofern ich für nötig halten muss, ihn zu vernichten; in dem Falle bin ich einfach Feind und kämpfe bis zum knockout — so bin ich es meiner Selbstachtung schuldig, die Gleichung wiederherzustellen. Das hat natürlich mit objektivem Recht und Unrecht grundsätzlich nichts zutun. Diese Begriffe gehören, wie sie gewöhnlich verstanden werden, ins Gebiet der Billigkeit, nicht der Gerechtigkeit; hat einer den anderen persönlich verletzt und entschuldigt sich nicht dafür, weil er objektiv im Rechte war, dann ist er ganz unzweideutig niedrig gesinnt. Diese Selbstverständlichkeiten — Selbstverständlichkeiten waren sie jeder großen Zeit; Selbstverständlichkeiten sind sie jedem Edlen — werden nun heute nur von ganz wenigen als solche eingesehen. Gerade da werden Billigkeitserwägungen angeführt, wo nur Gerechtigkeit in Frage steht; gerade da wird Gleichberechtigung im Sinn der Goetheschen Kaufleute angestrebt, wo sie auf diese Weise gar nicht zu erzielen ist; gerade da wird auf das sachliche Recht gepocht, wo der ganze Nachdruck auf dem persönlichen Unrecht ruht — und da ist die öffentliche Meinung heute so sehr verbildet, dass ich sonst vornehme Menschen kenne, die bei Unterhandlungen auf das Persönliche gar kein Gewicht legen, sondern nur auf das Sachliche. Wie erklärt sich dies nun? Es erklärt sich daraus und zwar daraus allein, dass den meisten Heutigen jede wahre Selbstachtung fehlt. Sie haben im allgemeinen, so hart dies klinge, keine Ehre. Die Gesinnung der Kieler Matrosen, welche sich befleißigten, die deutschen Schiffe möglichst schnell nach England zu schaffen, um nicht die ausgesetzten fünfhundert Mark pro Mann zu verlieren, ist heute typisch selbst für höchste Kreise des Volks. Mit Begeisterung verkehren viele, denen das Löwen-Ethos allein gemäß ist, mit solchen, von denen sie wissen, dass sie Schweine sind. Und die einzige Grenze, welche die meisten sich selbst setzen, ist ihr gutes Recht. Dieses verstehen sie überdies rein formalistisch. Nun habe ich’s schon früher ausgesprochen: wer auf sein formelles Recht als solches als letzte Instanz pocht, ist ipso facto minderwertig. Gewiss soll und muss man in dieser Kampfeswelt auf seinem Recht in diesem Sinne oft bestehen; sonst geht man materiell zugrunde. Aber dies bedeutet da nie anderes, wie dass man im Kriege seinen Gegner, dieweil er offizieller Feind ist, zu erschießen hat. Der Wille zum Recht in diesem Zusammenhang bedeutet nichts anderes als Wille zur Selbstbehauptung oder Wille zur Macht. Diese sind berechtigt. Nur muss sich der, welcher in diesem Sinn sein Recht sucht, eben eingestehen, das er nicht Recht im Sinne der Gerechtigkeit erstrebt, sondern Krieg führt. Die Gerichtshöfe sind insofern nichts anderes als Mittel, den Krieg zwischen den Einzelnen möglichst harmlos für alle zu gestalten, wie denn die Internierung und Bestrafung des Verbrechers auch nichts anderes ist, metaphysisch beurteilt, wie ein Friedensdiktat. Formelles Recht als solches kommt vom innerlichen Standpunkt überhaupt nicht in Frage. Jeder höhere Mensch hat, grundsätzlich gesprochen, genau so gerne unrecht wie recht. Rechthaberei und Eigensinn sind immer Beweise niederen Niveaus. Und wo Großes in Frage steht, das durch Bestehen auf privatem Sonderrecht auch nur für einen Augenblick gefährdet ist, da erscheint Beharren auf dem Rechtsstandpunkt jedem Edlen unmittelbar als ehrlos. Der höhere Mensch steht innerlich über der eigenen Partei. Zunächst steht er absolut da; mit niemand vergleicht er sich. Wo es Großes gilt, da setzt er sich rücksichtslos durch. Beim Kleinen jedoch verweilt er nie länger als unvermeidlich ist; da gibt er unter Umständen leichter als irgendein anderer nach. Keinesfalls vergeudet er seine Zeit mit Streitigkeiten. Und dies wieder um seiner persönlichen Würde willen. So liegt denn tatsächlich nichts anderes als Mangel an echter Selbstachtung dem meisten dessen zugrunde, worin der Mensch jüngster Fabrikmarke seine Selbstachtung zu beweisen sucht: ob er tatsächlich Höherstehende so behandelt, als seien sie seinesgleichen, oder auf seinem Recht besteht, oder ablehnt, persönliches Unrecht wieder gutzumachen.

Wirklich ist das Minderwertigkeitsgefühl der Menschen dieser Zeit über alle Begriffe groß. Der Bereich berechtigter Diagnose auf Minderwertigkeitsgefühl ist noch weiter, als dies Alfred Adler annimmt: gehört zu ihm doch das gesamte Gebiet der demokratischen Gleichheitsforderung. Man mache doch nur die Gegenprobe auf das, was ich vorhin ausführte. Den wenigen Lebenden, denen es selbstverständlich ist, andere neidlos gelten zu lassen, die nicht auf ihrem Recht bestehen, die sich gegebenenfalls gern entschuldigen, wird ausnahmslos extremer Hochmut vorgeworfen. Überlegenheit wird grundsätzlich in Form des Ressentiments gedeutet (hierzu bietet Emil Ludwigs Missdeutung Bismarcks das klassische Beispiel). Die betreffenden Eigenschaften bedeuteten bei kleinen Leuten eben wirklich, als was sie heute meist verstanden werden. Doch mir scheint, dass die Unedlen lange genug den Ton angaben. Es ist Zeit, dass der betreffende Zeitgeist als das erkannt werde, was er wirklich ist. Der ganze Rechts- und Ehrenkodex dieser Tage ist ein einziger Beweis vollkommenen Mangels an Selbstachtung im Falle aller derer, die ihn anwenden.

Wann achtet man sich selbst? Die Antwort liegt auf der Hand: wenn man für sein wahrhaftiges Sein eintritt. Mit diesem einen Satze ist erwiesen, dass Selbstachtung und wahre Bescheidenheit zusammenfallen. Echte Bescheidenheit bedeutet in der Tat, wie ich’s in meinem Schlussvortrag der diesjährigen Tagung ausführlich auseinandersetzte, nie anderes, als Selbstbescheidung bei dem, was einer wirklich ist; bei seiner Größe oder seiner Kleinheit, je nachdem. Eben insofern ein Christus sagen durfte: Ich bin das Licht, die Wahrheit und das Leben, kann es der größte Selbstachtungsbeweis eines Geringen sein, dass er einem Größeren die Hände küßt. Der springende Punkt hierbei nun ist, dass wahre Selbstachtung als identisch mit echter Bescheidenheit darauf beruht, dass einer sich als Sein mit niemand vergleicht. Er schätzt sich selbst im absoluten Verstande richtig ein. Er ist aus Selbstachtung bescheiden, nie um der anderen willen. Deswegen spielen im Falle dessen, der sich selbst wahrhaft achtet, die Vergleichs- und Ausgleichsbegriffe wie Recht, Billigkeit, zuviel und zuwenig Sagen überhaupt keine Rolle. Was er durchsetzen will, das will er absolut, ganz einerlei, wie die Dinge rechtlich liegen. Entschuldigt er sich, so tut er’s um seiner selbst, nicht um der anderen willen. Beugt er sich vor einem Höheren, oder verlangt er Distanzeinhaltung von einem Geringeren, ebenfalls. Und dem stellt sich auch nie die Frage, die so viele liebe Deutsche stellen: wie soll man denn wissen, wer höher steht usf.? Die ganze Frage ist ein Missverständnis. Das Selbstbewusstsein hat dem Sein zu entsprechen. Wo es dies nicht selbstverständlich spiegelt, liegt unter allen Umständen Minderwertigkeit vor, also beim Bescheidentuenden genau so wie beim überheblichen. Minderwertig ist vor allem aber der, der überhaupt gemäß äußeren Normen urteilt. Jeder ist in erster Linie einzig. Er muss wissen, was er sich selbst schuldig ist. Die anderen gehen ihn in keiner wesentlichen Frage je in erster Linie an.

Wessen Selbstbewusstsein nun aber so in erster Linie Einzigkeitsbewusstsein ist — stellt der sich je den anderen gegenüber richtig ein? Er allein tut es. Denn indem er sich als das ansieht, was er tatsächlich ist, relativiert er sich selbst entsprechend dem Sinn des Weltganzen und erkennt damit jedem das gleiche Recht zu, wie sich selbst. Gerade als Einzige hängen wir ja alle zusammen. Wer hingegen auf kleinem Sonderrecht besteht — und sei es auch nur im Sinn eines Anspruchs auf Selbständigkeit, die seiner wahren Bedeutung widerstreitet — der, nicht wer von solchem Recht jeweils gering denkt, beweist Anmaßung; ja, der beweist eine Anmaßung, die, da sie auf Imaginäres geht, vollkommener Selbstmissachtung gleichkommt. Hieraus erklärt sich, warum gerade die rechthaberischen Deutschentypen überall, wo sie sich nicht durchsetzen können, so außerordentliche Würdelosigkeit beweisen.

Wahre Selbstachtung setzt also in erster Linie Einzigkeitsbewusstsein voraus. Der Adel galt ebendeshalb von jeher als erster Stand, und dies zwar überall, weil der Edelmann allein sich par définition mit niemand vergleicht. Keine äußere Norm ist diesem jemals letzte Instanz. Worauf beruht es nun, dass derselbe Edelmann von jeher der höfliche Mensch par définition ist? Es beruht auf dem vorher Gesagten: insofern er sich selbst letzte Instanz ist, gesteht er gleiches Selbstbewusstsein jedem anderen zu. Lieber bricht er jedes Recht, als sich hier einen Formfehler zuschulden kommen zu lassen, denn beim geringsten persönlichen Zunahetreten handelt es sich, metaphysisch beurteilt, um ein Schlimmeres als die sachlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags. Allerdings aber hat das adelige Gebot unbedingter Höflichkeit auch eine oberflächliche Wurzel. Der Neid ist nun einmal das Grundmotiv aller Geringen; und die sind in der Überzahl. Da erfordert nicht nur die Selbstachtung, sondern auch das Interesse, den anderen die Anerkennung des Höheren nicht allzu schwer zu machen. Was ich meine, macht die folgende Anekdote wahrscheinlich schneller deutlich als jede abstrakte Betrachtung. Ein Herzog von La Rochefoucauld wurde majorenn. Da sagte ihm seine Mutter, indem sie ihm ihren Segen gab. —

mon cher enfant, tu portes le plus grand nom de France; ta fortune est immense; tu as beaucoup d’esprit: táches de te faire pardonner tout cela.
1 Vgl. den Aufsatz Gerechtigkeit und Billigkeit im 11. Heft dieser Mitteilungen.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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