Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920

Arbeit

Das Schicksal der Danaiden galt den Hellenen als Sinnbild schlimmsten Sklaventums. Auch für uns Moderne gibt es wenig Furchtbareres, als das Bewusstsein sinnloser Existenz. Was sich aber seit griechischen Herrentagen sehr verändert hat, ist der Schwellenort dieses Bewusstseins: ein übergroßer Teil von uns ist dermaßen knechtsmäßig gesinnt, dass er das Sinnlose vielfach als sinnvoll beurteilt. Deshalb, deshalb allein gilt Arbeit an sich ihm als Wert. Dass Arbeit unter allen Umständen nur Mittel sein kann, versteht er deshalb nicht, weil sein Dasein in seinen eigenen Augen tieferen Sinnes entbehrt, weil es ihm folglich darum allein zu tun ist, seine Lebensgeister irgendwie wach zu erhalten, und dies für die Dauer nur auf Dauer eingestellte Tätigkeit bewirkt. Vergnügungen, zu viel genossen, ermüden nur, weil sie dem Willen keine Nahrung geben; die Muße verträgt nur der innerlich Beschäftigte: da bleibt nichts als noch so mechanische Arbeit als Lebensfüllung übrig, denn sie erhält doch den Willen dauernd in Anspann. Dieser findet ja wahre Befriedigung nicht im erreichten Ziel, auf das satte Ruhe folgt, sondern in stetig erneutem Anlass zu neuem Wollen.

So ist der Europäer freiwillig zu dem geworden, wozu der Ochs immerhin gezwungen werden musste: zum Arbeitstier. Und leider gilt dies von keinem mehr als vom Deutschen. Nicht dass er mehr schafft als die anderen, entwürdigt ihn, sondern dass es ihm besonders wenig auf den Sinn ankommt; seine freiwillige Arbeit ist der Danaidenfron oft schrecklich ähnlich. Denken wir, um ein Beispiel zu nehmen, an die Kriegszeit zurück. Weshalb hat der Propagandadienst so gar nichts erreicht? Nicht weil es an Material fehlte, noch weniger, weil nicht genug gearbeitet worden wäre, sondern weil letzteres ziellos geschah. In dieser, wie in allzuvielen deutschen Behörden, wurde nur aufgearbeitet und erledigt; die wesentliche Frage, was zu erreichen sei, und wenn dies feststand, mit welchen Mitteln am schnellsten, blieb meist ungestellt. Nur deshalb konnten so viele Menschen beschäftigt werden, nur deshalb häufte sich so grenzenloses Material. Je genauer einer weiß, was er will, desto mehr kann er allein erreichen, desto geringer ist der Stoff, dessen der Geist zum Ausdruck bedarf. Wer sich ganz klar ist über einen Gedanken, fasst ihn vollendet kurz; der bestorganisierte Betrieb verwendet keine Kraft zu viel. Wer, als Staatsmann, die Resultanten beherrscht, kann von den Komponenten absehen und so in wenigen Stunden vollbringen, wozu dem Kurzsichtigen Jahre nicht genügen. Der Überlegene tut eben nur, was Sinn hat, und dies dann sinngemäß; der Subalterne schafft auf alle Fälle. Den Wert solcher Arbeit nun hat die Niederlage ad oculos demonstriert. Dass Erzbergern seine mechanische Betriebsamkeit zum Ruhme angerechnet wird, anstatt ihn von vornherein in den Augen aller als für jede höhere Stellung, als die eines Bureauchefs, ungeeignet zu erweisen, beweist für alle Zeiten, wie wenig Sinn das heutige Deutschland für höhere Ziele besitzt. Es versteht und schätzt Arbeit hauptsächlich als mechanische Arbeit. Dies ist der tiefste Sinn dessen, weshalb seine meisten Bücher zu dick, seine Maßnahmen zu umständlich und im letzten erfolglos sind.

Worauf es ankommt, ist das Folgende. Arbeit als solche versteht sich für jeden von selbst, denn ohne sie geschieht nichts, unter Sternen nicht mehr als unter Menschen. Aber ein je tieferer Geist sie leistet, desto unmittelbarer wird ihr Ziel ins Auge gefasst und desto schneller erreicht, weil es im Wesen des Geistes liegt, das Sukzessive im simultanen zusammenzuschauen. Gleichwie die mathematische Formel ein endloses Geschehen in einem Satz erschöpfend erfasst, so geht Intuition unmittelbar auf den Sinn einer möglichen Arbeit, der als solcher keinen Extensitätsfaktor hat, und gestaltet die Wirklichkeit von vornherein aus ihm heraus. Je stärker die Konzentrationskraft des Geistes, je tiefer dieser, desto weniger Mechanisches kommt für ihn in Frage. Den geläufigsten Ausdruck der geistigen Verdichtungskraft bieten die Maschinen: hier erscheint das, was der Mensch selbst an Maschinellem zu leisten hat, auf ein Minimum reduziert. Das Menschenwürdige beginnt erst oberhalb dessen, was auch Maschinen leisten können; denn nur das Schöpferische stammt aus der Geisteswelt. Der heutige Mensch ist zu neun Zehnteln selbst Maschine, nur zu einem Zehntel wahrhaft Mensch. Das Ideal wäre, dass jeder Geist sich ausschließlich schöpferisch betätigte, gleichviel auf welcher Ebene, und dass alles übrige von Maschinen geleistet würde.

Der Arbeitende muss sich deshalb dazu erziehen, bei allem, was er tut, unmittelbar den Sinn der Sache im Auge zu haben. Tut er dies, so wird er fortschreitend schneller sein Ziel erreichen erstens, wird zweitens der schon erfasste Sinn zu fortschreitend tieferer Sinneserfassung führen, so dass an seiner Tätigkeit zuletzt nichts Subalternes übrig bleibt. Nichts braucht rein mechanisch betrieben zu werden; wo dieses noch notwendig erscheint, da stehen entsprechend ablösende Erfindungen noch aus, die sicher einmal erfolgen werden. Unter allen Umständen ist Kürze der erforderlichen Arbeitszeit, nicht Zeitfüllung das Ideal. Es steckt ein tiefer Menschen-, Würdigkeitsinstinkt, der den Mittelständen vielfach abgeht, in der Arbeiterforderung, weniger arbeiten zu müssen, soweit die Zusage höherer Qualitätsleistung mit ihr zupaar geht. Schöpferisch kann keiner lange arbeiten, ganz abgesehen davon, dass es überflüssig ist. Falls wirklich ein Gott die Welt erschuf, so hat diese Leistung gewiss nicht mehr als sechs Tage in Anspruch genommen, alles Weitere wurde dann von selbst, wie es noch heute wird.

So gilt es denn für den, der’s noch nicht kann, nicht Überhaupt, sondern menschenwürdig arbeiten zu lernen. Es soll kein Knechtsdienst am Stoff, sondern dessen Einschmelzung im Geiste sein. So allein wird Wesentliches erzielt. Und solches gilt von jeder Arbeit — keine, auch die bescheidenste nicht, braucht mechanisch betrieben zu werden. Bei jeder ist es möglich, den Nachdruck aufs Schöpferisch-Geistige zu legen; dies geschieht eben dann, wenn Qualität als bewusstes, stetig im Auge behaltenes Ziel gilt. Und hier komme ich denn auf die Hauptsache. Arbeit hat letztlich nur Sinn, sofern sie nicht allein ein äußeres Ziel erreicht, sondern innerlich weiterbringt. Dies geschieht nur dann, dann aber mit Unvermeidlichkeit, wenn sie sich höchste Qualität zum Ziel setzt. Hierbei ist nämlich stärkste Konzentration erforderlich, und deren Wunderwirkung besteht darin, dass sie, je mehr sie sich steigert, desto tiefere Schichten des Seins ins Bewusstsein hineinbezieht und so den Menschen immer tiefer macht. Wenn mechanisch betriebene Arbeit zum Tier herabwürdigt, so führt sinnvolle über die Grenzen der Menschenbeschränktheit hinaus1. Sie bedeutet, in ihrer Spezifizität, für jeden recht eigentlich den ihm gemäßen Weg zur Vollendung, sie bedeutet die eigentlich normale Askese. Denn für jeden gibt es im allgemeinen nur einen Weg zu sich selbst; diesen entdeckt und wandelt am sichersten, wer einem äußeren Werke dient. Nabelbeschauung bringt keinen Abendländer weiter. Das Innerlichste wird wirklich bei allen Nicht-Kontemplativen nur durch nach auswärts gerichtete Tätigkeit. Bei solcher fließt es naturnotwendig in das Äußerliche über, gleichwie der Bachsche Geist in jene Formenwelt der Fuge überfloß, die an sich auch mechanisch konstruiert und bloß als Fingerübung verstanden werden kann. Das Äußerliche an sich ist bedeutungslos, aber jedes kann zum Körper tiefer Bedeutung werden. Insofern, und insofern allein ist alle Arbeit gleich ehrenvoll. Jede ist es, sofern sie dem Geist zum Ausdrucksmittel oder zur Übung dient; keine jedoch, sofern sie mechanisch betrieben wird.

1 Ausführliches über diese Punkte enthält mein Reisetagebuch. Man schlage im Register unter Konzentration und Yoga nach.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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